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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der italienische Irredentismus
Dr. Scina Stern von

Italien hat uns einst ein wunderbares Schauspiel nationaler Auf¬
erstehung und nationaler Kraft gegeben. Mit Bewunderung
haben wir immer jener Zeit gedacht, da das geknechtete Volk,
zersplittert in kleine Fürstentümer, Pfaffenstaaten und Republiken,
ausgesogen von minderwertigen, wunderlichen Regenten, fast
erstickt unter dem Druck einer fremden Macht, entschlossen und mutig die Fesseln
abwarf und sich emporrankte zu freier Gestaltung und Bestimmung seines
Lebens. Die Geschichte der Einheit Italiens, diese Geschichte, gewoben aus
wilder Romantik, aus kühner Berechnung und festem, unbeugsamen Willen,
erschien unserem hellen Jahrhundert immer wie ein Märchen aus längst ver¬
gangenen Tagen, großartig und geheimnisvoll zugleich. -- Wird Italien nun
diesen Zauber mit plumper Hand zerstören? Wird ein überspannter und
entarteter Nationalismus vernichten, was hoffnungsfroh und begeistert die junge
Nation einst gebaut? Wird der Chauvinismus, der heute blind und wild das
Land durchrast, das Schauspiel, das so harmonisch begonnen, zu einem grotesken
Satirstück verzerren? Voll Bangen fragen wir es uns! Nicht aus Angst, einem
neuen Gegner zu unterliegen, sondern aus der Angst, die jedesmal in uns zittert,
wenn etwas Liebgewordenes und Bewundertes uns unwiederbringlich entgleitet.

Wollen wir den italienischen Jrredentismus richtig verstehen, so müssen
wir einen Blick zurückwerfen auf die Geschichte Italiens im vorigen Jahrhundert.
Zwei Gewalten haben in ihm das Schicksal der Halbinsel bestimmt, die eine
aufbauend, ideenschaffend, erlösend, die andere niederwerfend, zerstörend,
erdrückend; die eine eine hemmende, reaktionäre Macht, die andere die Heimat
der freiheitlichen Ideale des Volkes, ein Stab und ein Hort für den jung
erwachten, noch hilflosen Staat. Österreich und Frankreich haben sich im
neunzehnten Jahrhundert in Italien gemessen, wie einst im sechzehnten der
König Franz und der Habsburgische Karl. Von dem Sieg der einen oder der
anderen Partei hing es ab, ob Italien weiter dahinsiechen sollte, ein Spielball
der Laune fremder Fürsten, ein krankes zerrissenes Glied im Körper Europas,




Der italienische Irredentismus
Dr. Scina Stern von

Italien hat uns einst ein wunderbares Schauspiel nationaler Auf¬
erstehung und nationaler Kraft gegeben. Mit Bewunderung
haben wir immer jener Zeit gedacht, da das geknechtete Volk,
zersplittert in kleine Fürstentümer, Pfaffenstaaten und Republiken,
ausgesogen von minderwertigen, wunderlichen Regenten, fast
erstickt unter dem Druck einer fremden Macht, entschlossen und mutig die Fesseln
abwarf und sich emporrankte zu freier Gestaltung und Bestimmung seines
Lebens. Die Geschichte der Einheit Italiens, diese Geschichte, gewoben aus
wilder Romantik, aus kühner Berechnung und festem, unbeugsamen Willen,
erschien unserem hellen Jahrhundert immer wie ein Märchen aus längst ver¬
gangenen Tagen, großartig und geheimnisvoll zugleich. — Wird Italien nun
diesen Zauber mit plumper Hand zerstören? Wird ein überspannter und
entarteter Nationalismus vernichten, was hoffnungsfroh und begeistert die junge
Nation einst gebaut? Wird der Chauvinismus, der heute blind und wild das
Land durchrast, das Schauspiel, das so harmonisch begonnen, zu einem grotesken
Satirstück verzerren? Voll Bangen fragen wir es uns! Nicht aus Angst, einem
neuen Gegner zu unterliegen, sondern aus der Angst, die jedesmal in uns zittert,
wenn etwas Liebgewordenes und Bewundertes uns unwiederbringlich entgleitet.

Wollen wir den italienischen Jrredentismus richtig verstehen, so müssen
wir einen Blick zurückwerfen auf die Geschichte Italiens im vorigen Jahrhundert.
Zwei Gewalten haben in ihm das Schicksal der Halbinsel bestimmt, die eine
aufbauend, ideenschaffend, erlösend, die andere niederwerfend, zerstörend,
erdrückend; die eine eine hemmende, reaktionäre Macht, die andere die Heimat
der freiheitlichen Ideale des Volkes, ein Stab und ein Hort für den jung
erwachten, noch hilflosen Staat. Österreich und Frankreich haben sich im
neunzehnten Jahrhundert in Italien gemessen, wie einst im sechzehnten der
König Franz und der Habsburgische Karl. Von dem Sieg der einen oder der
anderen Partei hing es ab, ob Italien weiter dahinsiechen sollte, ein Spielball
der Laune fremder Fürsten, ein krankes zerrissenes Glied im Körper Europas,


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[0270] [Abbildung] Der italienische Irredentismus Dr. Scina Stern von Italien hat uns einst ein wunderbares Schauspiel nationaler Auf¬ erstehung und nationaler Kraft gegeben. Mit Bewunderung haben wir immer jener Zeit gedacht, da das geknechtete Volk, zersplittert in kleine Fürstentümer, Pfaffenstaaten und Republiken, ausgesogen von minderwertigen, wunderlichen Regenten, fast erstickt unter dem Druck einer fremden Macht, entschlossen und mutig die Fesseln abwarf und sich emporrankte zu freier Gestaltung und Bestimmung seines Lebens. Die Geschichte der Einheit Italiens, diese Geschichte, gewoben aus wilder Romantik, aus kühner Berechnung und festem, unbeugsamen Willen, erschien unserem hellen Jahrhundert immer wie ein Märchen aus längst ver¬ gangenen Tagen, großartig und geheimnisvoll zugleich. — Wird Italien nun diesen Zauber mit plumper Hand zerstören? Wird ein überspannter und entarteter Nationalismus vernichten, was hoffnungsfroh und begeistert die junge Nation einst gebaut? Wird der Chauvinismus, der heute blind und wild das Land durchrast, das Schauspiel, das so harmonisch begonnen, zu einem grotesken Satirstück verzerren? Voll Bangen fragen wir es uns! Nicht aus Angst, einem neuen Gegner zu unterliegen, sondern aus der Angst, die jedesmal in uns zittert, wenn etwas Liebgewordenes und Bewundertes uns unwiederbringlich entgleitet. Wollen wir den italienischen Jrredentismus richtig verstehen, so müssen wir einen Blick zurückwerfen auf die Geschichte Italiens im vorigen Jahrhundert. Zwei Gewalten haben in ihm das Schicksal der Halbinsel bestimmt, die eine aufbauend, ideenschaffend, erlösend, die andere niederwerfend, zerstörend, erdrückend; die eine eine hemmende, reaktionäre Macht, die andere die Heimat der freiheitlichen Ideale des Volkes, ein Stab und ein Hort für den jung erwachten, noch hilflosen Staat. Österreich und Frankreich haben sich im neunzehnten Jahrhundert in Italien gemessen, wie einst im sechzehnten der König Franz und der Habsburgische Karl. Von dem Sieg der einen oder der anderen Partei hing es ab, ob Italien weiter dahinsiechen sollte, ein Spielball der Laune fremder Fürsten, ein krankes zerrissenes Glied im Körper Europas,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/270>, abgerufen am 29.04.2024.