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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Gin Edward Grey des achtzehnten Jahrhunderts

Zivilisation und Religion zu lockern beginnt, bis sich erstere gänzlich von der
Religion emanzipieren und es droht die Gefahr, das schließlich auch die Kultur
vom unersättlichen Zivilisationsfortschritt erwürgt wird. Der Osten Europas
dagegen opferte der Religion die Kultur und Zivilisation, vor allem die letztere.
So konnte das Russentum in seinem gewaltigsten Sprecher. Dostojewski, aller¬
dings eine vernichtende Kritik an der religiösen Entwicklung des Westens üben.
Das Tragische aber ist, daß über ihn hinweg auch sein Volk sich der gewaltigen
Versucherin, der westlichen Zivttisation, in die Arme wirft- Ein Sieg Rußlands
würde diesen Prozeß beschleunigen. Deutschland aber rettet durch einen Sieg
nicht nur sich, sondern hilft auch dem Gegner zu sich selbst.

Uns aber zeigt unsre Geschichte und erst recht die Entwicklung, die der
Osten nimmt, daß es nicht angeht, sich um das Problem der Zivilisation
herumzudrücken, indem man sie schlechthin ablehnt. Und die Besinnung auf ihr
wahres Gesicht, wie es die letzten Jahrhunderte enthüllt haben, macht es uns
auch unmöglich, ihre Emanzipation anzuerkennen. Nach einer neuen Bindung
sür sie gilt es also zu suchen. Wir erwarten von der Epoche, die kommen soll,
das neue Wort über die Vereinigung von Kultur, Religion und Zivilisation,
nach der unsere tiefste Sehnsucht ausschaut. Dies Wort, und kein andres, wird
das Stichwort des neuen Blattes der Weltgeschichte sein, das Gott soeben aufschlägt.


"Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite,
Auf der noch alles werden kann/'



Ein Edward Grey des achtzehnten Jahrhunderts
Sigmar Mehring von

uf die Ähnlichkeit der Weltlage während des jetzigen Krieges und während
der Kämpfe Friedrichs des Großen um die Mitte des achtzehnten Jahr¬
hunderts ist von Professor Lamprecht und anderen mehrfach hingewiesen
worden.

Wie jetzt der Engländer Edward Grey, war es damals der Franzose
Choiseul-Amboise, der im Banne der Pompadour bestrebt war, durch diplo¬
matische Ränke die Mächte Europas aufeinander zu Hetzen.

In Friedrich dem Großen fand Choiseul seinen gefährlichsten Gegner, und deshalb
suchte er auch auf allen Wegen Bundesgenossen zur Einkreisung des jungen Preußenstaates.
Er schloß sich eng an Österreich an, verpflichtete Spanien und Italien für Frankreich, hetzte
in England und hetzte in Rußland. Aber Friedrich war nicht nur ein genialer Feldherr,
sondern auch ein feinspüriger Staatsmann, er durchschaute die hinterlistigen Pläne des
Herzogs von Choiseul und durchkreuzte sie, so gut eS ging. Das Schwert mußte freilich
nachhelfen, da dem sparsamen Preußenkönig nicht die "Silberkugeln" zu Gebote standen, mit
denen damals der Vertreter Frankreichs alle Welt erobern konnte.


Gin Edward Grey des achtzehnten Jahrhunderts

Zivilisation und Religion zu lockern beginnt, bis sich erstere gänzlich von der
Religion emanzipieren und es droht die Gefahr, das schließlich auch die Kultur
vom unersättlichen Zivilisationsfortschritt erwürgt wird. Der Osten Europas
dagegen opferte der Religion die Kultur und Zivilisation, vor allem die letztere.
So konnte das Russentum in seinem gewaltigsten Sprecher. Dostojewski, aller¬
dings eine vernichtende Kritik an der religiösen Entwicklung des Westens üben.
Das Tragische aber ist, daß über ihn hinweg auch sein Volk sich der gewaltigen
Versucherin, der westlichen Zivttisation, in die Arme wirft- Ein Sieg Rußlands
würde diesen Prozeß beschleunigen. Deutschland aber rettet durch einen Sieg
nicht nur sich, sondern hilft auch dem Gegner zu sich selbst.

Uns aber zeigt unsre Geschichte und erst recht die Entwicklung, die der
Osten nimmt, daß es nicht angeht, sich um das Problem der Zivilisation
herumzudrücken, indem man sie schlechthin ablehnt. Und die Besinnung auf ihr
wahres Gesicht, wie es die letzten Jahrhunderte enthüllt haben, macht es uns
auch unmöglich, ihre Emanzipation anzuerkennen. Nach einer neuen Bindung
sür sie gilt es also zu suchen. Wir erwarten von der Epoche, die kommen soll,
das neue Wort über die Vereinigung von Kultur, Religion und Zivilisation,
nach der unsere tiefste Sehnsucht ausschaut. Dies Wort, und kein andres, wird
das Stichwort des neuen Blattes der Weltgeschichte sein, das Gott soeben aufschlägt.


„Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite,
Auf der noch alles werden kann/'



Ein Edward Grey des achtzehnten Jahrhunderts
Sigmar Mehring von

uf die Ähnlichkeit der Weltlage während des jetzigen Krieges und während
der Kämpfe Friedrichs des Großen um die Mitte des achtzehnten Jahr¬
hunderts ist von Professor Lamprecht und anderen mehrfach hingewiesen
worden.

Wie jetzt der Engländer Edward Grey, war es damals der Franzose
Choiseul-Amboise, der im Banne der Pompadour bestrebt war, durch diplo¬
matische Ränke die Mächte Europas aufeinander zu Hetzen.

In Friedrich dem Großen fand Choiseul seinen gefährlichsten Gegner, und deshalb
suchte er auch auf allen Wegen Bundesgenossen zur Einkreisung des jungen Preußenstaates.
Er schloß sich eng an Österreich an, verpflichtete Spanien und Italien für Frankreich, hetzte
in England und hetzte in Rußland. Aber Friedrich war nicht nur ein genialer Feldherr,
sondern auch ein feinspüriger Staatsmann, er durchschaute die hinterlistigen Pläne des
Herzogs von Choiseul und durchkreuzte sie, so gut eS ging. Das Schwert mußte freilich
nachhelfen, da dem sparsamen Preußenkönig nicht die „Silberkugeln" zu Gebote standen, mit
denen damals der Vertreter Frankreichs alle Welt erobern konnte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/35>, abgerufen am 29.04.2024.