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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Der Imperialismus in englischer Auffassung
Dr. Lise Hildebrandt von

!s kann kein Zweifel bestehen, daß die Mehrheit des deutschen
Volkes von der Teilnahme Englands am Kriege völlig über¬
rascht worden ist. In dieser Verwunderung liegt gleichzeitig das
Eingeständnis eines Fehlers. Wir wußten nicht ausreichend
Bescheid über die Denkart unseres Feindes und überschauten
nicht in genügender Klarheit die Tendenzen seiner Geschichte. Wir beschäftigten
uns nicht eingehend mit den Publikationen der letzten Jahrzehnte, die in
England große Verbreitung gefunden haben, und aus denen wir deutlich die
Ziele englischer Politik und ihre Stellung zu Deutschland hätten entnehmen
können. Das Versäumte nachzuholen ist selbstverständlich für uns von großer
Bedeutung.*)

Als der charakteristischste Zug englischer Geschichte und Verfassung galt
im allgemeinen die Entwicklung Englands, zur "Demokratie und Freiheit".
Bon englischen Autoren werden wir eines besseren belehrt: der Grundgedank
in der Geschichte Englands ist die Tendenz zum Imperium, zu "Groß-Britannten"
und zu "Größer-Britannien", Demokratie und Freiheit sind eigentlich nur Mittel
zum höherstehenden Ziele.

Diese Gedanken entwickelte zuerst der Professor der neueren Geschichte an
der Universität Cambridge, I. R. Seeley. Ungeheures Aufsehen machten des
Autors Vorlesungen über "Englands Expansion". Welche Bedeutung man den
geäußerten Ansichten in Großbritannien zuwies, zeigen die unzähligen Auflagen,
die die 1883 in Buchform erschienenen Vorlesungen erlebten**).




") Im zweiten Bande seines in schwedischer Sprache erschienenen Buches "Krieg und
Kultur" stellt Gustav F. Steffen für das imperialistische Problem ein reiches Quellenmaterial,
zusammen. Der erste Band ist bereits in deutscher Übersetzung bei Eugen Diederichs in
Jena erschienen. Vergleiche die Grenzboten Ur. 17 d, I.
**) Vergleiche die etwas verkürzte Ausgabe des Werkes bei Velhagen und Klasing "LnZlisK
^utkors" 86. Lieferung. Bielefeld und Leipzig. 1903. Seeley hat auch in einem anderen
Werk. "IKs QrontK ok Kntisli Police". (Cambridge 1895) die Geschichte und Zukunft des
britischen Kolonialreichs, von denselben Gesichtspunkten aus, beleuchtet. Sein Interesse für
deutsche Literatur und Geschichte bezeugt er in seinen Werken "I^it-s sunt times ok Stein,
or Qermsnzf an<Z prussia in tke k>lspolöon ^Ze, l^eip^i-z 1379" und "(ZoetKo reviswect
"ner fixe? Vears (I89Z)".


Der Imperialismus in englischer Auffassung
Dr. Lise Hildebrandt von

!s kann kein Zweifel bestehen, daß die Mehrheit des deutschen
Volkes von der Teilnahme Englands am Kriege völlig über¬
rascht worden ist. In dieser Verwunderung liegt gleichzeitig das
Eingeständnis eines Fehlers. Wir wußten nicht ausreichend
Bescheid über die Denkart unseres Feindes und überschauten
nicht in genügender Klarheit die Tendenzen seiner Geschichte. Wir beschäftigten
uns nicht eingehend mit den Publikationen der letzten Jahrzehnte, die in
England große Verbreitung gefunden haben, und aus denen wir deutlich die
Ziele englischer Politik und ihre Stellung zu Deutschland hätten entnehmen
können. Das Versäumte nachzuholen ist selbstverständlich für uns von großer
Bedeutung.*)

Als der charakteristischste Zug englischer Geschichte und Verfassung galt
im allgemeinen die Entwicklung Englands, zur „Demokratie und Freiheit".
Bon englischen Autoren werden wir eines besseren belehrt: der Grundgedank
in der Geschichte Englands ist die Tendenz zum Imperium, zu „Groß-Britannten"
und zu „Größer-Britannien", Demokratie und Freiheit sind eigentlich nur Mittel
zum höherstehenden Ziele.

Diese Gedanken entwickelte zuerst der Professor der neueren Geschichte an
der Universität Cambridge, I. R. Seeley. Ungeheures Aufsehen machten des
Autors Vorlesungen über „Englands Expansion". Welche Bedeutung man den
geäußerten Ansichten in Großbritannien zuwies, zeigen die unzähligen Auflagen,
die die 1883 in Buchform erschienenen Vorlesungen erlebten**).




») Im zweiten Bande seines in schwedischer Sprache erschienenen Buches „Krieg und
Kultur" stellt Gustav F. Steffen für das imperialistische Problem ein reiches Quellenmaterial,
zusammen. Der erste Band ist bereits in deutscher Übersetzung bei Eugen Diederichs in
Jena erschienen. Vergleiche die Grenzboten Ur. 17 d, I.
**) Vergleiche die etwas verkürzte Ausgabe des Werkes bei Velhagen und Klasing „LnZlisK
^utkors" 86. Lieferung. Bielefeld und Leipzig. 1903. Seeley hat auch in einem anderen
Werk. „IKs QrontK ok Kntisli Police". (Cambridge 1895) die Geschichte und Zukunft des
britischen Kolonialreichs, von denselben Gesichtspunkten aus, beleuchtet. Sein Interesse für
deutsche Literatur und Geschichte bezeugt er in seinen Werken „I^it-s sunt times ok Stein,
or Qermsnzf an<Z prussia in tke k>lspolöon ^Ze, l^eip^i-z 1379" und „(ZoetKo reviswect
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[0210] [Abbildung] Der Imperialismus in englischer Auffassung Dr. Lise Hildebrandt von !s kann kein Zweifel bestehen, daß die Mehrheit des deutschen Volkes von der Teilnahme Englands am Kriege völlig über¬ rascht worden ist. In dieser Verwunderung liegt gleichzeitig das Eingeständnis eines Fehlers. Wir wußten nicht ausreichend Bescheid über die Denkart unseres Feindes und überschauten nicht in genügender Klarheit die Tendenzen seiner Geschichte. Wir beschäftigten uns nicht eingehend mit den Publikationen der letzten Jahrzehnte, die in England große Verbreitung gefunden haben, und aus denen wir deutlich die Ziele englischer Politik und ihre Stellung zu Deutschland hätten entnehmen können. Das Versäumte nachzuholen ist selbstverständlich für uns von großer Bedeutung.*) Als der charakteristischste Zug englischer Geschichte und Verfassung galt im allgemeinen die Entwicklung Englands, zur „Demokratie und Freiheit". Bon englischen Autoren werden wir eines besseren belehrt: der Grundgedank in der Geschichte Englands ist die Tendenz zum Imperium, zu „Groß-Britannten" und zu „Größer-Britannien", Demokratie und Freiheit sind eigentlich nur Mittel zum höherstehenden Ziele. Diese Gedanken entwickelte zuerst der Professor der neueren Geschichte an der Universität Cambridge, I. R. Seeley. Ungeheures Aufsehen machten des Autors Vorlesungen über „Englands Expansion". Welche Bedeutung man den geäußerten Ansichten in Großbritannien zuwies, zeigen die unzähligen Auflagen, die die 1883 in Buchform erschienenen Vorlesungen erlebten**). ») Im zweiten Bande seines in schwedischer Sprache erschienenen Buches „Krieg und Kultur" stellt Gustav F. Steffen für das imperialistische Problem ein reiches Quellenmaterial, zusammen. Der erste Band ist bereits in deutscher Übersetzung bei Eugen Diederichs in Jena erschienen. Vergleiche die Grenzboten Ur. 17 d, I. **) Vergleiche die etwas verkürzte Ausgabe des Werkes bei Velhagen und Klasing „LnZlisK ^utkors" 86. Lieferung. Bielefeld und Leipzig. 1903. Seeley hat auch in einem anderen Werk. „IKs QrontK ok Kntisli Police". (Cambridge 1895) die Geschichte und Zukunft des britischen Kolonialreichs, von denselben Gesichtspunkten aus, beleuchtet. Sein Interesse für deutsche Literatur und Geschichte bezeugt er in seinen Werken „I^it-s sunt times ok Stein, or Qermsnzf an<Z prussia in tke k>lspolöon ^Ze, l^eip^i-z 1379" und „(ZoetKo reviswect »ner fixe? Vears (I89Z)".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/210>, abgerufen am 24.04.2024.