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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Vom unbekannten Geibel
Dr. R. Schacht von

om unbekannten? Was, wird man fragen, kennen wir von Geibel
nicht? Die Quellen für seine Biographie fließen reichlich, auch
bei nur teilweiser Kenntnis des Nachlasses gibt es keine Lücken
in ihr, keine Rätsel, nicht einmal ein Problem. Und wer kann
von einem kaum dreißig Jahre toten Dichter, dessen erster Band
noch bei des Verfassers Lebzeiten mehr denn hundert Auflagen erreicht hat,
behaupten, er wäre unbekannt?

Aber gerade die begeisterte Aufnahme, die dieser erste Gedichtband gefunden
hat, ist der Grund dafür gewesen, daß man den ganzen, und man darf wohl
sagen, den besten Geibel nicht kennt. Das ist nicht eine persönliche Ansicht, ein
subjektives Urteil, sondern eine Tatsache, die niemand klarer als der Dichter
selbst empfunden hat. "Ich habe," äußerte er 1872 gegen Heinrich von
Treitschke, "das zweifelhafte Glück gehabt, mit einer frühen Sammlung sehr
jugendlicher Gedichte einen Erfolg zu erringen, der zu ihrem Wert in gar keinem
Verhältnis steht; was ich dagegen als Mann bei größerer Reife und unter
ernster künstlerischer Arbeit geschaffen, das ist, wohl eben infolge der vorher¬
gegangenen, für jeden Verständigen zutage liegenden Überschätzung verhältnis¬
mäßig wenig in diejenigen Kreise gedrungen, bei denen ich am liebsten Anklang
gefunden hätte." Das melancholische Schicksal eines, der Modedichter wurde
und verdiente, mehr zu sein!

Die Mode blieb ihm treu bis zu den "Juniusliedern", sie boten keine Über-
raschungen. Geibel war. wie das Schlagwort lautete, der Dichter der "schönen
Form", und da das große Publikum die sogenannte schöne Form nun einmal
für etwas ein für allemal Feststehendes, für eine Art abstrakten Gesetzes hält
und auch ohnedies nur mit den größten Anstrengungen dazu zu bewegen ist,
über einen Liebling umzulernen, so galt des Dichters Entwicklung fortan für
abgeschlossen. Freilich kann nicht geleugnet werden, daß Geibel selbst nicht wenig
zu diesem verhängnisvollen Irrtum beigetragen hat. Nicht nur fand er nicht
den Mut, einmal als schwächlich Erkanntes in einem bereits veröffentlichten
Bande in späteren Auflagen zu unterdrücken -- die ersten Versuche vereitelte
der wohlmeinende Rat widerstrebender Freunde -- er verschmähte es auch nicht.




Vom unbekannten Geibel
Dr. R. Schacht von

om unbekannten? Was, wird man fragen, kennen wir von Geibel
nicht? Die Quellen für seine Biographie fließen reichlich, auch
bei nur teilweiser Kenntnis des Nachlasses gibt es keine Lücken
in ihr, keine Rätsel, nicht einmal ein Problem. Und wer kann
von einem kaum dreißig Jahre toten Dichter, dessen erster Band
noch bei des Verfassers Lebzeiten mehr denn hundert Auflagen erreicht hat,
behaupten, er wäre unbekannt?

Aber gerade die begeisterte Aufnahme, die dieser erste Gedichtband gefunden
hat, ist der Grund dafür gewesen, daß man den ganzen, und man darf wohl
sagen, den besten Geibel nicht kennt. Das ist nicht eine persönliche Ansicht, ein
subjektives Urteil, sondern eine Tatsache, die niemand klarer als der Dichter
selbst empfunden hat. „Ich habe," äußerte er 1872 gegen Heinrich von
Treitschke, „das zweifelhafte Glück gehabt, mit einer frühen Sammlung sehr
jugendlicher Gedichte einen Erfolg zu erringen, der zu ihrem Wert in gar keinem
Verhältnis steht; was ich dagegen als Mann bei größerer Reife und unter
ernster künstlerischer Arbeit geschaffen, das ist, wohl eben infolge der vorher¬
gegangenen, für jeden Verständigen zutage liegenden Überschätzung verhältnis¬
mäßig wenig in diejenigen Kreise gedrungen, bei denen ich am liebsten Anklang
gefunden hätte." Das melancholische Schicksal eines, der Modedichter wurde
und verdiente, mehr zu sein!

Die Mode blieb ihm treu bis zu den „Juniusliedern", sie boten keine Über-
raschungen. Geibel war. wie das Schlagwort lautete, der Dichter der „schönen
Form", und da das große Publikum die sogenannte schöne Form nun einmal
für etwas ein für allemal Feststehendes, für eine Art abstrakten Gesetzes hält
und auch ohnedies nur mit den größten Anstrengungen dazu zu bewegen ist,
über einen Liebling umzulernen, so galt des Dichters Entwicklung fortan für
abgeschlossen. Freilich kann nicht geleugnet werden, daß Geibel selbst nicht wenig
zu diesem verhängnisvollen Irrtum beigetragen hat. Nicht nur fand er nicht
den Mut, einmal als schwächlich Erkanntes in einem bereits veröffentlichten
Bande in späteren Auflagen zu unterdrücken — die ersten Versuche vereitelte
der wohlmeinende Rat widerstrebender Freunde — er verschmähte es auch nicht.


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[0260] [Abbildung] Vom unbekannten Geibel Dr. R. Schacht von om unbekannten? Was, wird man fragen, kennen wir von Geibel nicht? Die Quellen für seine Biographie fließen reichlich, auch bei nur teilweiser Kenntnis des Nachlasses gibt es keine Lücken in ihr, keine Rätsel, nicht einmal ein Problem. Und wer kann von einem kaum dreißig Jahre toten Dichter, dessen erster Band noch bei des Verfassers Lebzeiten mehr denn hundert Auflagen erreicht hat, behaupten, er wäre unbekannt? Aber gerade die begeisterte Aufnahme, die dieser erste Gedichtband gefunden hat, ist der Grund dafür gewesen, daß man den ganzen, und man darf wohl sagen, den besten Geibel nicht kennt. Das ist nicht eine persönliche Ansicht, ein subjektives Urteil, sondern eine Tatsache, die niemand klarer als der Dichter selbst empfunden hat. „Ich habe," äußerte er 1872 gegen Heinrich von Treitschke, „das zweifelhafte Glück gehabt, mit einer frühen Sammlung sehr jugendlicher Gedichte einen Erfolg zu erringen, der zu ihrem Wert in gar keinem Verhältnis steht; was ich dagegen als Mann bei größerer Reife und unter ernster künstlerischer Arbeit geschaffen, das ist, wohl eben infolge der vorher¬ gegangenen, für jeden Verständigen zutage liegenden Überschätzung verhältnis¬ mäßig wenig in diejenigen Kreise gedrungen, bei denen ich am liebsten Anklang gefunden hätte." Das melancholische Schicksal eines, der Modedichter wurde und verdiente, mehr zu sein! Die Mode blieb ihm treu bis zu den „Juniusliedern", sie boten keine Über- raschungen. Geibel war. wie das Schlagwort lautete, der Dichter der „schönen Form", und da das große Publikum die sogenannte schöne Form nun einmal für etwas ein für allemal Feststehendes, für eine Art abstrakten Gesetzes hält und auch ohnedies nur mit den größten Anstrengungen dazu zu bewegen ist, über einen Liebling umzulernen, so galt des Dichters Entwicklung fortan für abgeschlossen. Freilich kann nicht geleugnet werden, daß Geibel selbst nicht wenig zu diesem verhängnisvollen Irrtum beigetragen hat. Nicht nur fand er nicht den Mut, einmal als schwächlich Erkanntes in einem bereits veröffentlichten Bande in späteren Auflagen zu unterdrücken — die ersten Versuche vereitelte der wohlmeinende Rat widerstrebender Freunde — er verschmähte es auch nicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/260>, abgerufen am 26.04.2024.