Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das italienische Parlament

sondern auch die große Mehrheit der vier revolutionären proletarischen Parteien:
die Republikaner, Sozialisten, Syndikalisten und Anarchisten. Es ist unmöglich
zu sagen, wie weit diese letzteren von einem Geiste aggressiver, nationaler
Politik getrieben werden und wie weit durch den Wunsch, eine Lage zu schaffen,
die zum Sturze des jetzigen Königshauses führen kann. Gegen den Krieg find
fast alle Mitglieder der industriellen Mittelklasse des Nordens, die seit August
durch ihre Lieferungen an Frankreich und Österreich zu großem Wohlstand ge¬
langt find; ferner die Aristokratie aus Furcht vor einer proletarischen Revolution
und die Kirche aus Friedensliebe.

Signor Salandra und seine Kollegen glauben aufrichtig, daß ein nationaler
Gewinn aus dem Kriege herausgeschlagen werden muß, und auf jeden Fall
werden sie es vorziehen, diesen Gewinn auf friedlichem Wege zu erlangen.
Die Erhaltung der italienischen Neutralität beruht also auf der Frage, inwieweit
Österreich sich auf eine Abtretung einlassen und die nationalen Wünsche Italiens
zufrieden stellen wird.

Wenn es wahr ist, daß Österreich sich erboten hat, das italienischsprechende
Trentino abzutreten (was übrigens das einzige ist, worauf Italien mit Sicherheit
rechne" kann, wenn es den Ententemächten beitritt), so sollte es scheinen, daß
es die Aufgabe einer klugen italienischen Staatskunst ist, das Angebotene
anzunehmen und Italien die unnennbaren Schrecken eines Krieges zu ersparen.




Das italienische Parlament
Dr. in> de Jorge von

er Zusammentritt des italienischen Parlaments, dessen Beratungen
^diesmal weltgeschichtliche Bedeutung hatten, lenkt den Blick auf
die staatsrechtliche Struktur dieser Volksvertretung. Artikel 3 der
italienischen Verfassung vom 30. Dezember 1870, die in der
Hauptsache lediglich die rezipierte Verfassung des Königreichs
Sardiniens vom 4. März 1843 ist, teilt die gesetzgebende Gewalt dem König
und des beiden Kammern, Senat und Deputiertenkammer, gemeinsam zu. Der
Begriff "Parlament" findet sich nicht in der Verfassung, wurde aber schnell in
der Sprache der Gesetze und der Praxis gebräuchlich.

Der Senat besteht aus zwei Gruppen von Senatoren: gesetzlichen und
ernannte". Die "gesetzlichen" sind die Prinzen des Königlichen Hauses, die
mit 21 Jahren Sitz und mit 25 Jahren Stimme im Senat haben. Die
"ernannten" Senatoren werden nach vollendetem vierzigsten Lebensjahre aus


Das italienische Parlament

sondern auch die große Mehrheit der vier revolutionären proletarischen Parteien:
die Republikaner, Sozialisten, Syndikalisten und Anarchisten. Es ist unmöglich
zu sagen, wie weit diese letzteren von einem Geiste aggressiver, nationaler
Politik getrieben werden und wie weit durch den Wunsch, eine Lage zu schaffen,
die zum Sturze des jetzigen Königshauses führen kann. Gegen den Krieg find
fast alle Mitglieder der industriellen Mittelklasse des Nordens, die seit August
durch ihre Lieferungen an Frankreich und Österreich zu großem Wohlstand ge¬
langt find; ferner die Aristokratie aus Furcht vor einer proletarischen Revolution
und die Kirche aus Friedensliebe.

Signor Salandra und seine Kollegen glauben aufrichtig, daß ein nationaler
Gewinn aus dem Kriege herausgeschlagen werden muß, und auf jeden Fall
werden sie es vorziehen, diesen Gewinn auf friedlichem Wege zu erlangen.
Die Erhaltung der italienischen Neutralität beruht also auf der Frage, inwieweit
Österreich sich auf eine Abtretung einlassen und die nationalen Wünsche Italiens
zufrieden stellen wird.

Wenn es wahr ist, daß Österreich sich erboten hat, das italienischsprechende
Trentino abzutreten (was übrigens das einzige ist, worauf Italien mit Sicherheit
rechne» kann, wenn es den Ententemächten beitritt), so sollte es scheinen, daß
es die Aufgabe einer klugen italienischen Staatskunst ist, das Angebotene
anzunehmen und Italien die unnennbaren Schrecken eines Krieges zu ersparen.




Das italienische Parlament
Dr. in> de Jorge von

er Zusammentritt des italienischen Parlaments, dessen Beratungen
^diesmal weltgeschichtliche Bedeutung hatten, lenkt den Blick auf
die staatsrechtliche Struktur dieser Volksvertretung. Artikel 3 der
italienischen Verfassung vom 30. Dezember 1870, die in der
Hauptsache lediglich die rezipierte Verfassung des Königreichs
Sardiniens vom 4. März 1843 ist, teilt die gesetzgebende Gewalt dem König
und des beiden Kammern, Senat und Deputiertenkammer, gemeinsam zu. Der
Begriff „Parlament" findet sich nicht in der Verfassung, wurde aber schnell in
der Sprache der Gesetze und der Praxis gebräuchlich.

Der Senat besteht aus zwei Gruppen von Senatoren: gesetzlichen und
ernannte». Die „gesetzlichen" sind die Prinzen des Königlichen Hauses, die
mit 21 Jahren Sitz und mit 25 Jahren Stimme im Senat haben. Die
„ernannten" Senatoren werden nach vollendetem vierzigsten Lebensjahre aus


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0273" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323812"/>
          <fw type="header" place="top"> Das italienische Parlament</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_867" prev="#ID_866"> sondern auch die große Mehrheit der vier revolutionären proletarischen Parteien:<lb/>
die Republikaner, Sozialisten, Syndikalisten und Anarchisten. Es ist unmöglich<lb/>
zu sagen, wie weit diese letzteren von einem Geiste aggressiver, nationaler<lb/>
Politik getrieben werden und wie weit durch den Wunsch, eine Lage zu schaffen,<lb/>
die zum Sturze des jetzigen Königshauses führen kann. Gegen den Krieg find<lb/>
fast alle Mitglieder der industriellen Mittelklasse des Nordens, die seit August<lb/>
durch ihre Lieferungen an Frankreich und Österreich zu großem Wohlstand ge¬<lb/>
langt find; ferner die Aristokratie aus Furcht vor einer proletarischen Revolution<lb/>
und die Kirche aus Friedensliebe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_868"> Signor Salandra und seine Kollegen glauben aufrichtig, daß ein nationaler<lb/>
Gewinn aus dem Kriege herausgeschlagen werden muß, und auf jeden Fall<lb/>
werden sie es vorziehen, diesen Gewinn auf friedlichem Wege zu erlangen.<lb/>
Die Erhaltung der italienischen Neutralität beruht also auf der Frage, inwieweit<lb/>
Österreich sich auf eine Abtretung einlassen und die nationalen Wünsche Italiens<lb/>
zufrieden stellen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_869"> Wenn es wahr ist, daß Österreich sich erboten hat, das italienischsprechende<lb/>
Trentino abzutreten (was übrigens das einzige ist, worauf Italien mit Sicherheit<lb/>
rechne» kann, wenn es den Ententemächten beitritt), so sollte es scheinen, daß<lb/>
es die Aufgabe einer klugen italienischen Staatskunst ist, das Angebotene<lb/>
anzunehmen und Italien die unnennbaren Schrecken eines Krieges zu ersparen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das italienische Parlament<lb/><note type="byline"> Dr. in&gt; de Jorge</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_870"> er Zusammentritt des italienischen Parlaments, dessen Beratungen<lb/>
^diesmal weltgeschichtliche Bedeutung hatten, lenkt den Blick auf<lb/>
die staatsrechtliche Struktur dieser Volksvertretung. Artikel 3 der<lb/>
italienischen Verfassung vom 30. Dezember 1870, die in der<lb/>
Hauptsache lediglich die rezipierte Verfassung des Königreichs<lb/>
Sardiniens vom 4. März 1843 ist, teilt die gesetzgebende Gewalt dem König<lb/>
und des beiden Kammern, Senat und Deputiertenkammer, gemeinsam zu. Der<lb/>
Begriff &#x201E;Parlament" findet sich nicht in der Verfassung, wurde aber schnell in<lb/>
der Sprache der Gesetze und der Praxis gebräuchlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_871" next="#ID_872"> Der Senat besteht aus zwei Gruppen von Senatoren: gesetzlichen und<lb/>
ernannte». Die &#x201E;gesetzlichen" sind die Prinzen des Königlichen Hauses, die<lb/>
mit 21 Jahren Sitz und mit 25 Jahren Stimme im Senat haben. Die<lb/>
&#x201E;ernannten" Senatoren werden nach vollendetem vierzigsten Lebensjahre aus</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0273] Das italienische Parlament sondern auch die große Mehrheit der vier revolutionären proletarischen Parteien: die Republikaner, Sozialisten, Syndikalisten und Anarchisten. Es ist unmöglich zu sagen, wie weit diese letzteren von einem Geiste aggressiver, nationaler Politik getrieben werden und wie weit durch den Wunsch, eine Lage zu schaffen, die zum Sturze des jetzigen Königshauses führen kann. Gegen den Krieg find fast alle Mitglieder der industriellen Mittelklasse des Nordens, die seit August durch ihre Lieferungen an Frankreich und Österreich zu großem Wohlstand ge¬ langt find; ferner die Aristokratie aus Furcht vor einer proletarischen Revolution und die Kirche aus Friedensliebe. Signor Salandra und seine Kollegen glauben aufrichtig, daß ein nationaler Gewinn aus dem Kriege herausgeschlagen werden muß, und auf jeden Fall werden sie es vorziehen, diesen Gewinn auf friedlichem Wege zu erlangen. Die Erhaltung der italienischen Neutralität beruht also auf der Frage, inwieweit Österreich sich auf eine Abtretung einlassen und die nationalen Wünsche Italiens zufrieden stellen wird. Wenn es wahr ist, daß Österreich sich erboten hat, das italienischsprechende Trentino abzutreten (was übrigens das einzige ist, worauf Italien mit Sicherheit rechne» kann, wenn es den Ententemächten beitritt), so sollte es scheinen, daß es die Aufgabe einer klugen italienischen Staatskunst ist, das Angebotene anzunehmen und Italien die unnennbaren Schrecken eines Krieges zu ersparen. Das italienische Parlament Dr. in> de Jorge von er Zusammentritt des italienischen Parlaments, dessen Beratungen ^diesmal weltgeschichtliche Bedeutung hatten, lenkt den Blick auf die staatsrechtliche Struktur dieser Volksvertretung. Artikel 3 der italienischen Verfassung vom 30. Dezember 1870, die in der Hauptsache lediglich die rezipierte Verfassung des Königreichs Sardiniens vom 4. März 1843 ist, teilt die gesetzgebende Gewalt dem König und des beiden Kammern, Senat und Deputiertenkammer, gemeinsam zu. Der Begriff „Parlament" findet sich nicht in der Verfassung, wurde aber schnell in der Sprache der Gesetze und der Praxis gebräuchlich. Der Senat besteht aus zwei Gruppen von Senatoren: gesetzlichen und ernannte». Die „gesetzlichen" sind die Prinzen des Königlichen Hauses, die mit 21 Jahren Sitz und mit 25 Jahren Stimme im Senat haben. Die „ernannten" Senatoren werden nach vollendetem vierzigsten Lebensjahre aus

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/273
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/273>, abgerufen am 25.04.2024.