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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die europäischen sprachen und der Arieg
Professor Dr. Ludwig Sütterlin von

er Sturm des gegenwärtigen Krieges hat im Meer der Völker
die Wellen mächtig erregt und durcheinandergewühlt. Blut ist
nicht mehr dicker denn Wasser: wir hassen unsern britischen Vetter,
wie sich nur Verwandte hassen können, und fechten und sterben
Schulter an Schulter mit Ungarn und Türken, die einst die Nacht
einer Völkerwanderung meteorgleich herniedersandte auf unsere Fluren.

Dieser Bruch mit alten Gewöhnungen und der dadurch veranlaßte Wetter¬
sturz der Gefühle scheucht auch die Sprachwissenschaft auf in ihrem stillen
Gemach: das vergangene Jahrhundert, in dem das aus der Asche des Welt¬
bürgertums neu erglimmte Feuer des Volkbewußtseins den Lauf der Geschichte
bestimmte, hatte ihrem Bemühen auch einen äußerlichen Zweck verliehen und
in ihr vielleicht zuweilen den Wahn geweckt, sie trage der Strom der Welt als
ihren Propheten.

Die krause Gegenwart enttäuscht sie nun zunächst, indem sie ihr manches
Traumgebilde abstoßend verdeutlicht: denn aus dem alten Märchenlande Indien,
dessen Schriftwerke einst ganz Europa begeistert hatten, die Verehrer Herders
ebenso wie die Jünger Schellingscher Natur- und Religionsphilosophie, dessen
vollendete reiche Sprache ihr vor hundert Jahren selbst ins Dasein half, treten
ihr jetzt messerschwingend die braunen Eingeborenen entgegen, die Inder, deren
Urväter die heiligen Veden gedichtet und das "himmlisch-schöne" Schauspiel
Sakuntala! Läßt die sprachliche Buntheit auf beiden Seiten der Kämpfenden
und die Gleichgültigkeit uns sprachlich nahestehender Zuschauer nicht auch noch
befürchten, daß ihre Arbeit fürderhin gar keinen Wert mehr habe für das
Leben? Wäre die Sprache, die uns Deutsche doch noch einte in den trost¬
losesten Zeiten, fortan kein Band mehr für die Völker? Und sollte man die
sprachlichen Entlehnungen von Land zu Land, die sicheren Zeugen für den
Austausch des Kulturgutes, künftig nur zusammenstellen dürfen als Beweise für
völkischen Undank?

Ein schärferer Blick in die Geschehnisse zeigt solche Befürchtungen als klein¬
mütig. Denn ganz ist die Sprache doch nicht ausgeschaltet aus dem Spiel der
Kräfte, das die Verhältnisse des Lebens gestaltet: jedenfalls spiegelt sich die
Gesinnung der Staaten auffällig wieder in den gegenseitigen Beziehungen der




Die europäischen sprachen und der Arieg
Professor Dr. Ludwig Sütterlin von

er Sturm des gegenwärtigen Krieges hat im Meer der Völker
die Wellen mächtig erregt und durcheinandergewühlt. Blut ist
nicht mehr dicker denn Wasser: wir hassen unsern britischen Vetter,
wie sich nur Verwandte hassen können, und fechten und sterben
Schulter an Schulter mit Ungarn und Türken, die einst die Nacht
einer Völkerwanderung meteorgleich herniedersandte auf unsere Fluren.

Dieser Bruch mit alten Gewöhnungen und der dadurch veranlaßte Wetter¬
sturz der Gefühle scheucht auch die Sprachwissenschaft auf in ihrem stillen
Gemach: das vergangene Jahrhundert, in dem das aus der Asche des Welt¬
bürgertums neu erglimmte Feuer des Volkbewußtseins den Lauf der Geschichte
bestimmte, hatte ihrem Bemühen auch einen äußerlichen Zweck verliehen und
in ihr vielleicht zuweilen den Wahn geweckt, sie trage der Strom der Welt als
ihren Propheten.

Die krause Gegenwart enttäuscht sie nun zunächst, indem sie ihr manches
Traumgebilde abstoßend verdeutlicht: denn aus dem alten Märchenlande Indien,
dessen Schriftwerke einst ganz Europa begeistert hatten, die Verehrer Herders
ebenso wie die Jünger Schellingscher Natur- und Religionsphilosophie, dessen
vollendete reiche Sprache ihr vor hundert Jahren selbst ins Dasein half, treten
ihr jetzt messerschwingend die braunen Eingeborenen entgegen, die Inder, deren
Urväter die heiligen Veden gedichtet und das „himmlisch-schöne" Schauspiel
Sakuntala! Läßt die sprachliche Buntheit auf beiden Seiten der Kämpfenden
und die Gleichgültigkeit uns sprachlich nahestehender Zuschauer nicht auch noch
befürchten, daß ihre Arbeit fürderhin gar keinen Wert mehr habe für das
Leben? Wäre die Sprache, die uns Deutsche doch noch einte in den trost¬
losesten Zeiten, fortan kein Band mehr für die Völker? Und sollte man die
sprachlichen Entlehnungen von Land zu Land, die sicheren Zeugen für den
Austausch des Kulturgutes, künftig nur zusammenstellen dürfen als Beweise für
völkischen Undank?

Ein schärferer Blick in die Geschehnisse zeigt solche Befürchtungen als klein¬
mütig. Denn ganz ist die Sprache doch nicht ausgeschaltet aus dem Spiel der
Kräfte, das die Verhältnisse des Lebens gestaltet: jedenfalls spiegelt sich die
Gesinnung der Staaten auffällig wieder in den gegenseitigen Beziehungen der


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[0284] [Abbildung] Die europäischen sprachen und der Arieg Professor Dr. Ludwig Sütterlin von er Sturm des gegenwärtigen Krieges hat im Meer der Völker die Wellen mächtig erregt und durcheinandergewühlt. Blut ist nicht mehr dicker denn Wasser: wir hassen unsern britischen Vetter, wie sich nur Verwandte hassen können, und fechten und sterben Schulter an Schulter mit Ungarn und Türken, die einst die Nacht einer Völkerwanderung meteorgleich herniedersandte auf unsere Fluren. Dieser Bruch mit alten Gewöhnungen und der dadurch veranlaßte Wetter¬ sturz der Gefühle scheucht auch die Sprachwissenschaft auf in ihrem stillen Gemach: das vergangene Jahrhundert, in dem das aus der Asche des Welt¬ bürgertums neu erglimmte Feuer des Volkbewußtseins den Lauf der Geschichte bestimmte, hatte ihrem Bemühen auch einen äußerlichen Zweck verliehen und in ihr vielleicht zuweilen den Wahn geweckt, sie trage der Strom der Welt als ihren Propheten. Die krause Gegenwart enttäuscht sie nun zunächst, indem sie ihr manches Traumgebilde abstoßend verdeutlicht: denn aus dem alten Märchenlande Indien, dessen Schriftwerke einst ganz Europa begeistert hatten, die Verehrer Herders ebenso wie die Jünger Schellingscher Natur- und Religionsphilosophie, dessen vollendete reiche Sprache ihr vor hundert Jahren selbst ins Dasein half, treten ihr jetzt messerschwingend die braunen Eingeborenen entgegen, die Inder, deren Urväter die heiligen Veden gedichtet und das „himmlisch-schöne" Schauspiel Sakuntala! Läßt die sprachliche Buntheit auf beiden Seiten der Kämpfenden und die Gleichgültigkeit uns sprachlich nahestehender Zuschauer nicht auch noch befürchten, daß ihre Arbeit fürderhin gar keinen Wert mehr habe für das Leben? Wäre die Sprache, die uns Deutsche doch noch einte in den trost¬ losesten Zeiten, fortan kein Band mehr für die Völker? Und sollte man die sprachlichen Entlehnungen von Land zu Land, die sicheren Zeugen für den Austausch des Kulturgutes, künftig nur zusammenstellen dürfen als Beweise für völkischen Undank? Ein schärferer Blick in die Geschehnisse zeigt solche Befürchtungen als klein¬ mütig. Denn ganz ist die Sprache doch nicht ausgeschaltet aus dem Spiel der Kräfte, das die Verhältnisse des Lebens gestaltet: jedenfalls spiegelt sich die Gesinnung der Staaten auffällig wieder in den gegenseitigen Beziehungen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/284>, abgerufen am 18.04.2024.