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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Sollen die Dramatiker schweigen?
Dr. Julius Zeidler von

le Rundfrage, die neulich von einem Leipziger Abendblatt (Abend¬
zeitung) bei Bühnenleitern, Künstlern, Schriftstellern und Ton¬
dichtern veranstaltet wurde, um ihre Urteile über den Einfluß des
Krieges auf die deutsche Theaterwelt zu sammeln, ist außer¬
ordentlich aufschlußreich bezüglich der gegenwärtigen Lage der
Theater.? Man findet darin Beiträge zur Psychologie des Publikums, zur Lage
des'Schauspielerstandes im Kriege, zur Klarstellung des merkwürdigen und leider so
sehr^ erklärlichen Wandels, den der Spielplan in den letzten Monaten erfahren hat.
Ja, es steckt sogar eine Art Theatergeschichte dieser Kriegszeit darin, da wir die
einzelnen Phasen der Spielplangestaltung schon deutlich überblicken können: von
dem nationalen und klassischen oder epigonischen Drama nach der Lähmung
des August, der Überwucherung der folgenden Monate mit patriotischem
schnellproduziertem Hurrakitsch, bis zum sentimentalen und beruhigenden Volks-,
Biedermeier- und Zauberstück. Werke der letzteren Ordnung nannte man
"Entspannungsliteratur"; das Theater wich den Zeitereignissen so weit aus,
daß die Ablenkung von diesen als seine Hauptaufgabe erschien, das
Publikum steuerte immer mehr in eine Sucht zum Leichter und Leichtesten
hinein und so wollten die Theater nur noch der Zerstreuung, Erheiterung und
Erholung dienen. Es muß gesagt werden, daß diese zunehmende Verflachung
von recht vielen Stimmen nur mit Resignation gebucht wurde. So beklagt Otto
Maurenbrecher, daß "unser Publikum vom Theater vorerst noch nicht die große
Erhebung und Erbauung wolle, die man ihm gern reichen möchte", und Alfred
Halm findet bittere Worte über die Erniedrigung und Verflachung des
Publikumsgeschmacks, die in ihren Wirkungen auf eine recht lange Zeitspanne
hin nur niederdrückend empfunden werden können.

Alle Stimmen verwerfen natürlich ausnahmslos die aktuelle schnell zusammen¬
gezimmerte Kriegsdramatik, bis zur Kriegsposse und Kriegsoperette hinunter,
jenen patriotischen Schund, über dessen entsetzliche Albernheit man eigentlich kein
Wort zu verlieren braucht. Es gibt geradezu kein Vaterlandslied, dessen Titel




Sollen die Dramatiker schweigen?
Dr. Julius Zeidler von

le Rundfrage, die neulich von einem Leipziger Abendblatt (Abend¬
zeitung) bei Bühnenleitern, Künstlern, Schriftstellern und Ton¬
dichtern veranstaltet wurde, um ihre Urteile über den Einfluß des
Krieges auf die deutsche Theaterwelt zu sammeln, ist außer¬
ordentlich aufschlußreich bezüglich der gegenwärtigen Lage der
Theater.? Man findet darin Beiträge zur Psychologie des Publikums, zur Lage
des'Schauspielerstandes im Kriege, zur Klarstellung des merkwürdigen und leider so
sehr^ erklärlichen Wandels, den der Spielplan in den letzten Monaten erfahren hat.
Ja, es steckt sogar eine Art Theatergeschichte dieser Kriegszeit darin, da wir die
einzelnen Phasen der Spielplangestaltung schon deutlich überblicken können: von
dem nationalen und klassischen oder epigonischen Drama nach der Lähmung
des August, der Überwucherung der folgenden Monate mit patriotischem
schnellproduziertem Hurrakitsch, bis zum sentimentalen und beruhigenden Volks-,
Biedermeier- und Zauberstück. Werke der letzteren Ordnung nannte man
„Entspannungsliteratur"; das Theater wich den Zeitereignissen so weit aus,
daß die Ablenkung von diesen als seine Hauptaufgabe erschien, das
Publikum steuerte immer mehr in eine Sucht zum Leichter und Leichtesten
hinein und so wollten die Theater nur noch der Zerstreuung, Erheiterung und
Erholung dienen. Es muß gesagt werden, daß diese zunehmende Verflachung
von recht vielen Stimmen nur mit Resignation gebucht wurde. So beklagt Otto
Maurenbrecher, daß „unser Publikum vom Theater vorerst noch nicht die große
Erhebung und Erbauung wolle, die man ihm gern reichen möchte", und Alfred
Halm findet bittere Worte über die Erniedrigung und Verflachung des
Publikumsgeschmacks, die in ihren Wirkungen auf eine recht lange Zeitspanne
hin nur niederdrückend empfunden werden können.

Alle Stimmen verwerfen natürlich ausnahmslos die aktuelle schnell zusammen¬
gezimmerte Kriegsdramatik, bis zur Kriegsposse und Kriegsoperette hinunter,
jenen patriotischen Schund, über dessen entsetzliche Albernheit man eigentlich kein
Wort zu verlieren braucht. Es gibt geradezu kein Vaterlandslied, dessen Titel


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[0321] [Abbildung] Sollen die Dramatiker schweigen? Dr. Julius Zeidler von le Rundfrage, die neulich von einem Leipziger Abendblatt (Abend¬ zeitung) bei Bühnenleitern, Künstlern, Schriftstellern und Ton¬ dichtern veranstaltet wurde, um ihre Urteile über den Einfluß des Krieges auf die deutsche Theaterwelt zu sammeln, ist außer¬ ordentlich aufschlußreich bezüglich der gegenwärtigen Lage der Theater.? Man findet darin Beiträge zur Psychologie des Publikums, zur Lage des'Schauspielerstandes im Kriege, zur Klarstellung des merkwürdigen und leider so sehr^ erklärlichen Wandels, den der Spielplan in den letzten Monaten erfahren hat. Ja, es steckt sogar eine Art Theatergeschichte dieser Kriegszeit darin, da wir die einzelnen Phasen der Spielplangestaltung schon deutlich überblicken können: von dem nationalen und klassischen oder epigonischen Drama nach der Lähmung des August, der Überwucherung der folgenden Monate mit patriotischem schnellproduziertem Hurrakitsch, bis zum sentimentalen und beruhigenden Volks-, Biedermeier- und Zauberstück. Werke der letzteren Ordnung nannte man „Entspannungsliteratur"; das Theater wich den Zeitereignissen so weit aus, daß die Ablenkung von diesen als seine Hauptaufgabe erschien, das Publikum steuerte immer mehr in eine Sucht zum Leichter und Leichtesten hinein und so wollten die Theater nur noch der Zerstreuung, Erheiterung und Erholung dienen. Es muß gesagt werden, daß diese zunehmende Verflachung von recht vielen Stimmen nur mit Resignation gebucht wurde. So beklagt Otto Maurenbrecher, daß „unser Publikum vom Theater vorerst noch nicht die große Erhebung und Erbauung wolle, die man ihm gern reichen möchte", und Alfred Halm findet bittere Worte über die Erniedrigung und Verflachung des Publikumsgeschmacks, die in ihren Wirkungen auf eine recht lange Zeitspanne hin nur niederdrückend empfunden werden können. Alle Stimmen verwerfen natürlich ausnahmslos die aktuelle schnell zusammen¬ gezimmerte Kriegsdramatik, bis zur Kriegsposse und Kriegsoperette hinunter, jenen patriotischen Schund, über dessen entsetzliche Albernheit man eigentlich kein Wort zu verlieren braucht. Es gibt geradezu kein Vaterlandslied, dessen Titel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/321>, abgerufen am 25.04.2024.