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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Krips des deutschbaltischen Menschen

eröffnen. Um Wertbetonnngcn handelt es sich vorerst nicht. Truge uns nicht
die Liebe zu diesem Sondergeartetev -- wie wollten wir seiner ansichtig
werden? Der Wille, die landläufigen modernen Maßstäbe vorerst beiseite zu
lassen, muß auch vom Aufnehmenden gefordert werden.

I. Die formenden Kräfte

Der ritterliche Abenteuerfinn. der kaufmännische Wagemut, der dem
kolonisatorischen Drang der ersten Ansiedler seinen stürmischen Anlauf und
zugleich seine zähe Ausdauer gab. war in den frommen Eifer eingebettet, der Jung¬
frau Maria, des Meeres Stern, das gottlose "undeutsche" Heidenland dienstbar
zu machen. Die Eroberung vollzog sich als Kreuzzug. der Weg nach dem
wilden Land ging über See. So bestimmte fich die Auswahl derer, die dazu
ausersehen waren, der jungen Siedlung erstmals ihr Gepräge aufzudrücken:
Klerus, städtisches Bürgertum, das fich sofort in Riga den bis heute festesten
Sitz schuf, mönchisch-ritterlicher, aber auch freier weltlicher Adel. Er setzte sich
in Burgen ringsum im Lande fest, an die fich städtische Ortschaften von nicht
sehr entwickeltem Selbständigkeitsftnn anschmiegten. Der Bauer, der den be¬
weglichen Planken mißtraut, blieb aus. Aber auch innerhalb der beteiligten
Stände führte das prickelnd - gefahrvolle, zugleich jedoch von sittlich - religiösem
Ernst geleitete Unternehmen, das keineswegs über das phantastische Lockmittel
der berauschenden Kulturen des Morgenlandes verfügte, zu einer Auslese ganz
bestimmter Art. Der religiöse Antrieb konnte hier nicht schwärmerisch zerflattern.
Er war gebunden an nüchtern-praktische Zielsetzungen agrarisch-merkantiler Ent¬
wicklung. Die baltischen Städte, zugleich Sitze der einen geistlichen Gewalt,
der bischöflichen, gehörten zu den frühesten Mitgliedern der Hanse. Das
Verhältnis der unterworfenen Schicht zu ihren ritterlichen Herren gestaltete sich
als agrarische Dienstbarkeit, die an Härte immer mehr zunahm. In dieser
seiner Bindung an durchaus weltlich bauende Zwecke mußte sich aber die
Christlichkeit als Lebensmittelpunkt gerade hier am festesten behaupten.
Schließlich kommt dies ihr Ernstgenommenwerden auch in der Widerstrittigkeit
zum Ausdruck, die hier ihre Form als Lebenselement bestimmte. Von vorn¬
herein spannte sich ein Dualismus zwischen der bischöflichen und der Ordens¬
gewalt. Dieser Zwiespalt mag fich noch verschärft haben, indem er mit dem
Gegensatz von Landadel und Bürgertum übereintraf. Beiden aber kam der
Sturz von Händen des Protestantismus, der paradoxerweise in diesem feudalen
Lande mit am frühesten Eingang fand (1522). Von den Städten aus eroberte
er sich schnell das ganze Land. Dessen Verfassung entzog er das Fundament,
die unendlichen sich daraus ergebenden Wirren kamen auswärtigen Staaten
zugute, die Selbständigkeit des Landes hatte ein Ende. Der Dualismus der
geistlichen Gewalten war beseitigt, Bistum und Orden versanken, die weltliche
Vasallenschaft des Ordens rückte auf und kam entsprechend dem ackerbaulichen
Charakter des Landes zu immer größerer Geltung. Das Landvolk war längst


Grenzboten II 1915 22
Die Krips des deutschbaltischen Menschen

eröffnen. Um Wertbetonnngcn handelt es sich vorerst nicht. Truge uns nicht
die Liebe zu diesem Sondergeartetev — wie wollten wir seiner ansichtig
werden? Der Wille, die landläufigen modernen Maßstäbe vorerst beiseite zu
lassen, muß auch vom Aufnehmenden gefordert werden.

I. Die formenden Kräfte

Der ritterliche Abenteuerfinn. der kaufmännische Wagemut, der dem
kolonisatorischen Drang der ersten Ansiedler seinen stürmischen Anlauf und
zugleich seine zähe Ausdauer gab. war in den frommen Eifer eingebettet, der Jung¬
frau Maria, des Meeres Stern, das gottlose „undeutsche" Heidenland dienstbar
zu machen. Die Eroberung vollzog sich als Kreuzzug. der Weg nach dem
wilden Land ging über See. So bestimmte fich die Auswahl derer, die dazu
ausersehen waren, der jungen Siedlung erstmals ihr Gepräge aufzudrücken:
Klerus, städtisches Bürgertum, das fich sofort in Riga den bis heute festesten
Sitz schuf, mönchisch-ritterlicher, aber auch freier weltlicher Adel. Er setzte sich
in Burgen ringsum im Lande fest, an die fich städtische Ortschaften von nicht
sehr entwickeltem Selbständigkeitsftnn anschmiegten. Der Bauer, der den be¬
weglichen Planken mißtraut, blieb aus. Aber auch innerhalb der beteiligten
Stände führte das prickelnd - gefahrvolle, zugleich jedoch von sittlich - religiösem
Ernst geleitete Unternehmen, das keineswegs über das phantastische Lockmittel
der berauschenden Kulturen des Morgenlandes verfügte, zu einer Auslese ganz
bestimmter Art. Der religiöse Antrieb konnte hier nicht schwärmerisch zerflattern.
Er war gebunden an nüchtern-praktische Zielsetzungen agrarisch-merkantiler Ent¬
wicklung. Die baltischen Städte, zugleich Sitze der einen geistlichen Gewalt,
der bischöflichen, gehörten zu den frühesten Mitgliedern der Hanse. Das
Verhältnis der unterworfenen Schicht zu ihren ritterlichen Herren gestaltete sich
als agrarische Dienstbarkeit, die an Härte immer mehr zunahm. In dieser
seiner Bindung an durchaus weltlich bauende Zwecke mußte sich aber die
Christlichkeit als Lebensmittelpunkt gerade hier am festesten behaupten.
Schließlich kommt dies ihr Ernstgenommenwerden auch in der Widerstrittigkeit
zum Ausdruck, die hier ihre Form als Lebenselement bestimmte. Von vorn¬
herein spannte sich ein Dualismus zwischen der bischöflichen und der Ordens¬
gewalt. Dieser Zwiespalt mag fich noch verschärft haben, indem er mit dem
Gegensatz von Landadel und Bürgertum übereintraf. Beiden aber kam der
Sturz von Händen des Protestantismus, der paradoxerweise in diesem feudalen
Lande mit am frühesten Eingang fand (1522). Von den Städten aus eroberte
er sich schnell das ganze Land. Dessen Verfassung entzog er das Fundament,
die unendlichen sich daraus ergebenden Wirren kamen auswärtigen Staaten
zugute, die Selbständigkeit des Landes hatte ein Ende. Der Dualismus der
geistlichen Gewalten war beseitigt, Bistum und Orden versanken, die weltliche
Vasallenschaft des Ordens rückte auf und kam entsprechend dem ackerbaulichen
Charakter des Landes zu immer größerer Geltung. Das Landvolk war längst


Grenzboten II 1915 22
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/349>, abgerufen am 19.04.2024.