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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Arieg

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WMer Russe nennt den gegenwärtigen Krieg den zweiten vater¬
ländischen Krieg, gibt ihm also eine ähnliche Bedeutung, wie sie
der Krieg 1812 gegen Napoleon -- der erste vaterländische
Krieg -- für Rußland gehabt hat. Der Krieg ist in allen
Schichten der russischen Gesellschaft populär oder war es wenigstens
bei seinem Ausbruche. Jeder Russe fühlte, daß dieser gewaltigste aller Kriege
das ganze Land bis in seine tiefsten Tiefen berührte, daß sein Ausgang für
den Staat die schwerwiegendsten Folgen haben muß, daß er unter Umständen
alle alten Ideale des Russentums erfüllen kann. Aus dem Empfinden des
russischen Volkes heraus ist daher die Bezeichnung "der zweite vaterländische
Krieg" geboren.

Wir haben in wenigen Ländern vor dem Kriege größere Gegensätze zwischen
Regierung und Volk gesehen, wie gerade in Rußland, wir sahen Gesellschafts¬
schichten den ganzen Haß, dessen sie fähig waren -- und der Russe haßt
temperamentvoll -- gegen die Regierung sich wenden. Und nun auf einmal
mit dem Beginn des gewaltigen Ringens gegen den Deutschen diese ungeheure
Wandlung. Das Volk tut sich zusammen -- genau wie bei uns -- radikale
Abgeordnete halten es für eine Ehre in das Heer einzutreten, das Volk organisiert
sich für die großen Aufgaben, die dem Land im Innern bevorstehen: für die
Krankenpflege, die Unterstützung der zurückgebliebenen Witwen und Familien
der Kriegsteilnehmer und die Hinterbliebenen der Gefallenen. Die tü'astigen
Kräfte, die Rußland auf dem Gebiete der Semstwoverwaltung hat, sehen sich
hier vor neue Aufgaben gestellt, packen sie energisch an, und sind froh, diesmal
Arbeit tun zu können, die vom Willen des ganzen Volkes getragen ist. Keinerlei
Kritik an den paar Leuten in der Regierung, an der Großfürsten etique, die
den Krieg herbeigeführt hat. ertönt zunächst. Es gibt sogar Sozialdemokraten,
die die Ansicht aussprechen: man müsse zuerst den Deutschen schlagen und dann den
Zaren bekämpfen. Wir sehen den Zaren selbst mit seiner Familie im ganzen Lande


Grenzboten II 1916 2S


Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Arieg

WW>
WMer Russe nennt den gegenwärtigen Krieg den zweiten vater¬
ländischen Krieg, gibt ihm also eine ähnliche Bedeutung, wie sie
der Krieg 1812 gegen Napoleon — der erste vaterländische
Krieg — für Rußland gehabt hat. Der Krieg ist in allen
Schichten der russischen Gesellschaft populär oder war es wenigstens
bei seinem Ausbruche. Jeder Russe fühlte, daß dieser gewaltigste aller Kriege
das ganze Land bis in seine tiefsten Tiefen berührte, daß sein Ausgang für
den Staat die schwerwiegendsten Folgen haben muß, daß er unter Umständen
alle alten Ideale des Russentums erfüllen kann. Aus dem Empfinden des
russischen Volkes heraus ist daher die Bezeichnung „der zweite vaterländische
Krieg" geboren.

Wir haben in wenigen Ländern vor dem Kriege größere Gegensätze zwischen
Regierung und Volk gesehen, wie gerade in Rußland, wir sahen Gesellschafts¬
schichten den ganzen Haß, dessen sie fähig waren — und der Russe haßt
temperamentvoll — gegen die Regierung sich wenden. Und nun auf einmal
mit dem Beginn des gewaltigen Ringens gegen den Deutschen diese ungeheure
Wandlung. Das Volk tut sich zusammen — genau wie bei uns — radikale
Abgeordnete halten es für eine Ehre in das Heer einzutreten, das Volk organisiert
sich für die großen Aufgaben, die dem Land im Innern bevorstehen: für die
Krankenpflege, die Unterstützung der zurückgebliebenen Witwen und Familien
der Kriegsteilnehmer und die Hinterbliebenen der Gefallenen. Die tü'astigen
Kräfte, die Rußland auf dem Gebiete der Semstwoverwaltung hat, sehen sich
hier vor neue Aufgaben gestellt, packen sie energisch an, und sind froh, diesmal
Arbeit tun zu können, die vom Willen des ganzen Volkes getragen ist. Keinerlei
Kritik an den paar Leuten in der Regierung, an der Großfürsten etique, die
den Krieg herbeigeführt hat. ertönt zunächst. Es gibt sogar Sozialdemokraten,
die die Ansicht aussprechen: man müsse zuerst den Deutschen schlagen und dann den
Zaren bekämpfen. Wir sehen den Zaren selbst mit seiner Familie im ganzen Lande


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[0397] [Abbildung] Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Arieg WW> WMer Russe nennt den gegenwärtigen Krieg den zweiten vater¬ ländischen Krieg, gibt ihm also eine ähnliche Bedeutung, wie sie der Krieg 1812 gegen Napoleon — der erste vaterländische Krieg — für Rußland gehabt hat. Der Krieg ist in allen Schichten der russischen Gesellschaft populär oder war es wenigstens bei seinem Ausbruche. Jeder Russe fühlte, daß dieser gewaltigste aller Kriege das ganze Land bis in seine tiefsten Tiefen berührte, daß sein Ausgang für den Staat die schwerwiegendsten Folgen haben muß, daß er unter Umständen alle alten Ideale des Russentums erfüllen kann. Aus dem Empfinden des russischen Volkes heraus ist daher die Bezeichnung „der zweite vaterländische Krieg" geboren. Wir haben in wenigen Ländern vor dem Kriege größere Gegensätze zwischen Regierung und Volk gesehen, wie gerade in Rußland, wir sahen Gesellschafts¬ schichten den ganzen Haß, dessen sie fähig waren — und der Russe haßt temperamentvoll — gegen die Regierung sich wenden. Und nun auf einmal mit dem Beginn des gewaltigen Ringens gegen den Deutschen diese ungeheure Wandlung. Das Volk tut sich zusammen — genau wie bei uns — radikale Abgeordnete halten es für eine Ehre in das Heer einzutreten, das Volk organisiert sich für die großen Aufgaben, die dem Land im Innern bevorstehen: für die Krankenpflege, die Unterstützung der zurückgebliebenen Witwen und Familien der Kriegsteilnehmer und die Hinterbliebenen der Gefallenen. Die tü'astigen Kräfte, die Rußland auf dem Gebiete der Semstwoverwaltung hat, sehen sich hier vor neue Aufgaben gestellt, packen sie energisch an, und sind froh, diesmal Arbeit tun zu können, die vom Willen des ganzen Volkes getragen ist. Keinerlei Kritik an den paar Leuten in der Regierung, an der Großfürsten etique, die den Krieg herbeigeführt hat. ertönt zunächst. Es gibt sogar Sozialdemokraten, die die Ansicht aussprechen: man müsse zuerst den Deutschen schlagen und dann den Zaren bekämpfen. Wir sehen den Zaren selbst mit seiner Familie im ganzen Lande Grenzboten II 1916 2S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/397>, abgerufen am 24.04.2024.