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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

(Friedrich Anton von Schönholz: Traditionen
zur Charakteristik Österreichs.) Ein Abenteurer,
wie de la Garde, erzählt hier bald scherzend, bald
philosophisch von Wiens Vergangenheit'
Familien und Frauen und der Politik Alt-
Osterreichs. Das Ganze ist ein treffliches Spie¬
gelbild der franzisceischen Zeit, das gewiß für
manchen eine neue Quelle werden wird. Der
Verfasser hat sein eigenes Leben in dichterischer
Freiheit mit in seine Aufzeichnungen verflochten,
und wenn auch nicht immer alles wahr ist,
was er sagt, so ist es doch interessant und
für seine Zeit charakteristisch.

Man sollte unsere deutsche Memoiren¬
literatur wirtlich mehr Pflegen und nicht immer
denken, daß nur Frankreich das Land der
klassischen Memoirenliteratur ist. Wir sind
auch in dieser Beziehung wieder einmal viel
zu bescheiden. Die wenigen Proben, die bis
jetzt vorliegen, zeigen, daß auch wir unsere
Erlebnissein vollendeter Form niederzuschreiben
vermögen. "Ein Land ohne Memoiren ist
wie ein Haus ohne Spiegel!"

Heinz Amelung
Völkerpsychologie

Händler und Helden. Patriotische Be¬
sinnungen von Werner Sombart. Verlag
von Duncker u. Humblot in München und
Leipzig, 1916.

Ist der Händlergeist Ursache oder Wirkung
der wirtschaftlichen Entwicklung Englands?
Eine geistvolle Französin hat das zweite
geglaubt. Als gegen Ende des Jahres 1842
die Pariser Zeitungen sich über die inhumane
Habgier der Engländer entrüsteten, die im¬
stande seien, um Opium und Kattun einen
Weltbrand zu entflammen, schalt Delphine
Gay, die Gattin Emiles de Girardin, die
Kollegen ungerecht; la France könne leicht
nobel handeln (wenn sie das nur wirklich
auch täte!), denn sie sei uns nobis cnÄtelains,
die vom reichen Ertrage ihres fruchtbaren
Landes ohne Sorgen lebe; das englische
Volt dagegen lebe nicht vom Ertrage seines
Bodens, sondern auf Kredit; der englische
Staat sei ein Bankgeschäft, kein Naturgewächs,
sondern ein Kunstbau, den ein Rechenfehler
stürzen könne; die Engländer würden wahr¬

[Spaltenumbruch]

scheinlich recht gern hochherzig und edel
handeln, wenn sie könnten und dürften, aber
ein Bankier dürfe nun einmal nicht sentimental
sein. Sombart dagegen sieht das englische
Händlerinn" aus dem englischen Geiste her¬
vorgehen. Ich neige der Ansicht der Französin
zu -- aus zwei Gründen. Einmal, weil die
Engländer (dieser Tatsache gedenkt auch
Sombart flüchtig), trotzdem ihr Land sie zur
Seefahrt einlud, bis ins fünfzehnte Jahr¬
hundert ein Volk kriegerischer Bauern geblieben
sind, das seine Finanzen von Italienern ver¬
walten, seinen Handel von deutschen Hanseaten
besorgen ließ, und als es sich endlich der
Industrie zuwandte, der niederländischen Lehr¬
meister bedürfte. (Den Handelsgeist der
Italiener verbirgt den Augen der Nachwelt
die aus Schönheit und Geist gewobene Aureole,
die das mittelalterliche Stadtbürgertum
Italiens umstrahlt.) Der andere Grund ist
die englische Literatur. Abgesehen von Shake¬
speare, Milton und Byron, atmen auch die
Novellisten deutschen Geist; nicht bloß die
weltberühmten, sondern auch die Männer und
Frauen zweiten und dritten Ranges. Die
älteren wenigstens; die neueren kenne ich
nicht. Zufällig lese ich gerade wieder einmal
in den Novellenbänden, die Samuel Warren
unter dem Titel viar^ ol a wie?nysieisn
herausgegeben hat (welch ein lächerlicher
GeschmackI würde ein Jüngster naserümpfend
ausrufen, wenn er sich herabließe, in den
alten Schustern zu blättern), und finde darin
Wohl englische Zustände, aber keine Spur
von Krämerhaftigteit, vielmehr tiefes deutsches
Gemüt und reine edle Gesinnung. Daß
durchgreisendeJndustrialisierung und Kommer¬
zialisierung den Volkscharakter verschlechtert,
ist einer der Beweggründe, die mich bestimmen,
den sehr maßgebenden Autoritäten zu oppo¬
nieren, welche uns die englische Wirtschasts-
verfassung als zu erstrebendes Ideal empfehlen
-- oder wenigstens bis zum Kriege empfohlen
haben. Sombart stützt seine Auffassung
hauptsächlich auf Thomas Morus, und es ist
ja wirklich überraschend, wie getreu die
KriegSmoral und Kriegspraxis der Utopier
die spätere englische Kriegführung und
besonders die heutige spiegelt; doch schwächt
Sombart selbst die Beweiskraft der Utopia-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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(Friedrich Anton von Schönholz: Traditionen
zur Charakteristik Österreichs.) Ein Abenteurer,
wie de la Garde, erzählt hier bald scherzend, bald
philosophisch von Wiens Vergangenheit'
Familien und Frauen und der Politik Alt-
Osterreichs. Das Ganze ist ein treffliches Spie¬
gelbild der franzisceischen Zeit, das gewiß für
manchen eine neue Quelle werden wird. Der
Verfasser hat sein eigenes Leben in dichterischer
Freiheit mit in seine Aufzeichnungen verflochten,
und wenn auch nicht immer alles wahr ist,
was er sagt, so ist es doch interessant und
für seine Zeit charakteristisch.

Man sollte unsere deutsche Memoiren¬
literatur wirtlich mehr Pflegen und nicht immer
denken, daß nur Frankreich das Land der
klassischen Memoirenliteratur ist. Wir sind
auch in dieser Beziehung wieder einmal viel
zu bescheiden. Die wenigen Proben, die bis
jetzt vorliegen, zeigen, daß auch wir unsere
Erlebnissein vollendeter Form niederzuschreiben
vermögen. „Ein Land ohne Memoiren ist
wie ein Haus ohne Spiegel!"

Heinz Amelung
Völkerpsychologie

Händler und Helden. Patriotische Be¬
sinnungen von Werner Sombart. Verlag
von Duncker u. Humblot in München und
Leipzig, 1916.

Ist der Händlergeist Ursache oder Wirkung
der wirtschaftlichen Entwicklung Englands?
Eine geistvolle Französin hat das zweite
geglaubt. Als gegen Ende des Jahres 1842
die Pariser Zeitungen sich über die inhumane
Habgier der Engländer entrüsteten, die im¬
stande seien, um Opium und Kattun einen
Weltbrand zu entflammen, schalt Delphine
Gay, die Gattin Emiles de Girardin, die
Kollegen ungerecht; la France könne leicht
nobel handeln (wenn sie das nur wirklich
auch täte!), denn sie sei uns nobis cnÄtelains,
die vom reichen Ertrage ihres fruchtbaren
Landes ohne Sorgen lebe; das englische
Volt dagegen lebe nicht vom Ertrage seines
Bodens, sondern auf Kredit; der englische
Staat sei ein Bankgeschäft, kein Naturgewächs,
sondern ein Kunstbau, den ein Rechenfehler
stürzen könne; die Engländer würden wahr¬

[Spaltenumbruch]

scheinlich recht gern hochherzig und edel
handeln, wenn sie könnten und dürften, aber
ein Bankier dürfe nun einmal nicht sentimental
sein. Sombart dagegen sieht das englische
Händlerinn» aus dem englischen Geiste her¬
vorgehen. Ich neige der Ansicht der Französin
zu — aus zwei Gründen. Einmal, weil die
Engländer (dieser Tatsache gedenkt auch
Sombart flüchtig), trotzdem ihr Land sie zur
Seefahrt einlud, bis ins fünfzehnte Jahr¬
hundert ein Volk kriegerischer Bauern geblieben
sind, das seine Finanzen von Italienern ver¬
walten, seinen Handel von deutschen Hanseaten
besorgen ließ, und als es sich endlich der
Industrie zuwandte, der niederländischen Lehr¬
meister bedürfte. (Den Handelsgeist der
Italiener verbirgt den Augen der Nachwelt
die aus Schönheit und Geist gewobene Aureole,
die das mittelalterliche Stadtbürgertum
Italiens umstrahlt.) Der andere Grund ist
die englische Literatur. Abgesehen von Shake¬
speare, Milton und Byron, atmen auch die
Novellisten deutschen Geist; nicht bloß die
weltberühmten, sondern auch die Männer und
Frauen zweiten und dritten Ranges. Die
älteren wenigstens; die neueren kenne ich
nicht. Zufällig lese ich gerade wieder einmal
in den Novellenbänden, die Samuel Warren
unter dem Titel viar^ ol a wie?nysieisn
herausgegeben hat (welch ein lächerlicher
GeschmackI würde ein Jüngster naserümpfend
ausrufen, wenn er sich herabließe, in den
alten Schustern zu blättern), und finde darin
Wohl englische Zustände, aber keine Spur
von Krämerhaftigteit, vielmehr tiefes deutsches
Gemüt und reine edle Gesinnung. Daß
durchgreisendeJndustrialisierung und Kommer¬
zialisierung den Volkscharakter verschlechtert,
ist einer der Beweggründe, die mich bestimmen,
den sehr maßgebenden Autoritäten zu oppo¬
nieren, welche uns die englische Wirtschasts-
verfassung als zu erstrebendes Ideal empfehlen
— oder wenigstens bis zum Kriege empfohlen
haben. Sombart stützt seine Auffassung
hauptsächlich auf Thomas Morus, und es ist
ja wirklich überraschend, wie getreu die
KriegSmoral und Kriegspraxis der Utopier
die spätere englische Kriegführung und
besonders die heutige spiegelt; doch schwächt
Sombart selbst die Beweiskraft der Utopia-

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[0074] Maßgebliches und Unmaßgebliches (Friedrich Anton von Schönholz: Traditionen zur Charakteristik Österreichs.) Ein Abenteurer, wie de la Garde, erzählt hier bald scherzend, bald philosophisch von Wiens Vergangenheit' Familien und Frauen und der Politik Alt- Osterreichs. Das Ganze ist ein treffliches Spie¬ gelbild der franzisceischen Zeit, das gewiß für manchen eine neue Quelle werden wird. Der Verfasser hat sein eigenes Leben in dichterischer Freiheit mit in seine Aufzeichnungen verflochten, und wenn auch nicht immer alles wahr ist, was er sagt, so ist es doch interessant und für seine Zeit charakteristisch. Man sollte unsere deutsche Memoiren¬ literatur wirtlich mehr Pflegen und nicht immer denken, daß nur Frankreich das Land der klassischen Memoirenliteratur ist. Wir sind auch in dieser Beziehung wieder einmal viel zu bescheiden. Die wenigen Proben, die bis jetzt vorliegen, zeigen, daß auch wir unsere Erlebnissein vollendeter Form niederzuschreiben vermögen. „Ein Land ohne Memoiren ist wie ein Haus ohne Spiegel!" Heinz Amelung Völkerpsychologie Händler und Helden. Patriotische Be¬ sinnungen von Werner Sombart. Verlag von Duncker u. Humblot in München und Leipzig, 1916. Ist der Händlergeist Ursache oder Wirkung der wirtschaftlichen Entwicklung Englands? Eine geistvolle Französin hat das zweite geglaubt. Als gegen Ende des Jahres 1842 die Pariser Zeitungen sich über die inhumane Habgier der Engländer entrüsteten, die im¬ stande seien, um Opium und Kattun einen Weltbrand zu entflammen, schalt Delphine Gay, die Gattin Emiles de Girardin, die Kollegen ungerecht; la France könne leicht nobel handeln (wenn sie das nur wirklich auch täte!), denn sie sei uns nobis cnÄtelains, die vom reichen Ertrage ihres fruchtbaren Landes ohne Sorgen lebe; das englische Volt dagegen lebe nicht vom Ertrage seines Bodens, sondern auf Kredit; der englische Staat sei ein Bankgeschäft, kein Naturgewächs, sondern ein Kunstbau, den ein Rechenfehler stürzen könne; die Engländer würden wahr¬ scheinlich recht gern hochherzig und edel handeln, wenn sie könnten und dürften, aber ein Bankier dürfe nun einmal nicht sentimental sein. Sombart dagegen sieht das englische Händlerinn» aus dem englischen Geiste her¬ vorgehen. Ich neige der Ansicht der Französin zu — aus zwei Gründen. Einmal, weil die Engländer (dieser Tatsache gedenkt auch Sombart flüchtig), trotzdem ihr Land sie zur Seefahrt einlud, bis ins fünfzehnte Jahr¬ hundert ein Volk kriegerischer Bauern geblieben sind, das seine Finanzen von Italienern ver¬ walten, seinen Handel von deutschen Hanseaten besorgen ließ, und als es sich endlich der Industrie zuwandte, der niederländischen Lehr¬ meister bedürfte. (Den Handelsgeist der Italiener verbirgt den Augen der Nachwelt die aus Schönheit und Geist gewobene Aureole, die das mittelalterliche Stadtbürgertum Italiens umstrahlt.) Der andere Grund ist die englische Literatur. Abgesehen von Shake¬ speare, Milton und Byron, atmen auch die Novellisten deutschen Geist; nicht bloß die weltberühmten, sondern auch die Männer und Frauen zweiten und dritten Ranges. Die älteren wenigstens; die neueren kenne ich nicht. Zufällig lese ich gerade wieder einmal in den Novellenbänden, die Samuel Warren unter dem Titel viar^ ol a wie?nysieisn herausgegeben hat (welch ein lächerlicher GeschmackI würde ein Jüngster naserümpfend ausrufen, wenn er sich herabließe, in den alten Schustern zu blättern), und finde darin Wohl englische Zustände, aber keine Spur von Krämerhaftigteit, vielmehr tiefes deutsches Gemüt und reine edle Gesinnung. Daß durchgreisendeJndustrialisierung und Kommer¬ zialisierung den Volkscharakter verschlechtert, ist einer der Beweggründe, die mich bestimmen, den sehr maßgebenden Autoritäten zu oppo¬ nieren, welche uns die englische Wirtschasts- verfassung als zu erstrebendes Ideal empfehlen — oder wenigstens bis zum Kriege empfohlen haben. Sombart stützt seine Auffassung hauptsächlich auf Thomas Morus, und es ist ja wirklich überraschend, wie getreu die KriegSmoral und Kriegspraxis der Utopier die spätere englische Kriegführung und besonders die heutige spiegelt; doch schwächt Sombart selbst die Beweiskraft der Utopia-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/74>, abgerufen am 19.04.2024.