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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung
Artur Brausewetter, von

as Priestertum aller Gläubigen, in diesem Wort ist ausgedrückt,
was der Kirche der Gegenwart entspricht, und was ihr not tut.
!Die Seele des einzelnen tritt in den Mittelpunkt allen Suchens,
! sie trägt zugleich alle Verantwortung. Jede Bevormundung hört
^ auf; es ist Pflicht des einzelnen, seine Stellung zu Gott ein¬
zunehmen und zu behaupten. Und wie seine Pflicht, so ist es auch sein
Recht.

Damit ist Religion und Religionsübung bewußt in die Sphäre des
Geistes versetzt, der Unterschied zwischen Klerus und Laien getilgt und jeder
Stand vor Gott gleichgestellt. Eine freiere und innerlichere Glaubensstellung
ist angebahnt, einer deutschen Einheit und deutschen Kultur ein neuer Weg
gewiesen.

Aber in dieser Kraft einer auf das Geistige gebauten Kirche liegt --
das dürfen wir nicht vergessen -- zugleich ihre Gefahr. So gut nämlich
die Kirche der Gegenwart verschiedene Meinungen tragen kann und soll, so
sehr individuelle Eigenart ihr Farbe und Leben leihen, so sehr ist die Mahnung
am Platze: das Ganze nicht über dem Individuellen, das Allgemeine nicht
über dem Persönlichen zu vergessen. Ein gar zu ausgeprägter Individualismus,
ein zu eng und zu empfindungsvoll gefaßter Persönlichkeitsbegriff, das ist die
Gefahr, von der ich spreche.

Die alte Dogmatik unterscheidet geistvoll zwischen einer "sichtbaren" und
einer "unsichtbaren" Kirche. "Sichtbar", weil organisch geordnet und zahlen¬
mäßig und statistisch nachweisbar, ihre Mitglieder: alle auf den Namen Jesu
Christi Getauften. Ihr jedoch mit ihren Fehlern und Gebrechen gegenüber¬
stehend die unsichtbare, die Jdealkirche. und ihre Glieder alle wahrhaft
Gläubigen, alle nicht mit dem Namen und dem Munde, sondern mit der Tat
und dem Herzen Bekennenden, gleichviel zu welcher der sichtbaren Gemeinde
fie gehören. Sie ist die "Eine", die "Allgemeine", die "Gemeinde der




Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung
Artur Brausewetter, von

as Priestertum aller Gläubigen, in diesem Wort ist ausgedrückt,
was der Kirche der Gegenwart entspricht, und was ihr not tut.
!Die Seele des einzelnen tritt in den Mittelpunkt allen Suchens,
! sie trägt zugleich alle Verantwortung. Jede Bevormundung hört
^ auf; es ist Pflicht des einzelnen, seine Stellung zu Gott ein¬
zunehmen und zu behaupten. Und wie seine Pflicht, so ist es auch sein
Recht.

Damit ist Religion und Religionsübung bewußt in die Sphäre des
Geistes versetzt, der Unterschied zwischen Klerus und Laien getilgt und jeder
Stand vor Gott gleichgestellt. Eine freiere und innerlichere Glaubensstellung
ist angebahnt, einer deutschen Einheit und deutschen Kultur ein neuer Weg
gewiesen.

Aber in dieser Kraft einer auf das Geistige gebauten Kirche liegt —
das dürfen wir nicht vergessen — zugleich ihre Gefahr. So gut nämlich
die Kirche der Gegenwart verschiedene Meinungen tragen kann und soll, so
sehr individuelle Eigenart ihr Farbe und Leben leihen, so sehr ist die Mahnung
am Platze: das Ganze nicht über dem Individuellen, das Allgemeine nicht
über dem Persönlichen zu vergessen. Ein gar zu ausgeprägter Individualismus,
ein zu eng und zu empfindungsvoll gefaßter Persönlichkeitsbegriff, das ist die
Gefahr, von der ich spreche.

Die alte Dogmatik unterscheidet geistvoll zwischen einer „sichtbaren" und
einer „unsichtbaren" Kirche. „Sichtbar", weil organisch geordnet und zahlen¬
mäßig und statistisch nachweisbar, ihre Mitglieder: alle auf den Namen Jesu
Christi Getauften. Ihr jedoch mit ihren Fehlern und Gebrechen gegenüber¬
stehend die unsichtbare, die Jdealkirche. und ihre Glieder alle wahrhaft
Gläubigen, alle nicht mit dem Namen und dem Munde, sondern mit der Tat
und dem Herzen Bekennenden, gleichviel zu welcher der sichtbaren Gemeinde
fie gehören. Sie ist die „Eine", die „Allgemeine", die „Gemeinde der


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[0083] [Abbildung] Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung Artur Brausewetter, von as Priestertum aller Gläubigen, in diesem Wort ist ausgedrückt, was der Kirche der Gegenwart entspricht, und was ihr not tut. !Die Seele des einzelnen tritt in den Mittelpunkt allen Suchens, ! sie trägt zugleich alle Verantwortung. Jede Bevormundung hört ^ auf; es ist Pflicht des einzelnen, seine Stellung zu Gott ein¬ zunehmen und zu behaupten. Und wie seine Pflicht, so ist es auch sein Recht. Damit ist Religion und Religionsübung bewußt in die Sphäre des Geistes versetzt, der Unterschied zwischen Klerus und Laien getilgt und jeder Stand vor Gott gleichgestellt. Eine freiere und innerlichere Glaubensstellung ist angebahnt, einer deutschen Einheit und deutschen Kultur ein neuer Weg gewiesen. Aber in dieser Kraft einer auf das Geistige gebauten Kirche liegt — das dürfen wir nicht vergessen — zugleich ihre Gefahr. So gut nämlich die Kirche der Gegenwart verschiedene Meinungen tragen kann und soll, so sehr individuelle Eigenart ihr Farbe und Leben leihen, so sehr ist die Mahnung am Platze: das Ganze nicht über dem Individuellen, das Allgemeine nicht über dem Persönlichen zu vergessen. Ein gar zu ausgeprägter Individualismus, ein zu eng und zu empfindungsvoll gefaßter Persönlichkeitsbegriff, das ist die Gefahr, von der ich spreche. Die alte Dogmatik unterscheidet geistvoll zwischen einer „sichtbaren" und einer „unsichtbaren" Kirche. „Sichtbar", weil organisch geordnet und zahlen¬ mäßig und statistisch nachweisbar, ihre Mitglieder: alle auf den Namen Jesu Christi Getauften. Ihr jedoch mit ihren Fehlern und Gebrechen gegenüber¬ stehend die unsichtbare, die Jdealkirche. und ihre Glieder alle wahrhaft Gläubigen, alle nicht mit dem Namen und dem Munde, sondern mit der Tat und dem Herzen Bekennenden, gleichviel zu welcher der sichtbaren Gemeinde fie gehören. Sie ist die „Eine", die „Allgemeine", die „Gemeinde der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/83>, abgerufen am 27.04.2024.