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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Rückblick auf das Ariegsjahr
Alfred Ruhemann Von

le Zeit hat sich gejährt, da der Krieg tobt. Im August 1914
hatte niemand in der Welt geglaubt, daß er ein Jahr dauern
würde. Heute ist jedermann fest überzeugt, daß er möglicher¬
weise noch ein weiteres Jahr in Anspruch nehmen könnte. Ein
schlagender Beweis, wie trügerisch und unberechenbar Voraus¬
sagungen und Voraussetzungen sind, wie der Fehlschluß uns stets näher liegt,
als die Wahrheit. Menschenwerk ist eben lückenhaft und Irrtümern unter¬
worfen. Man wird daher nur mit mitleidigem Achselzucken jene hören und
lesen können, die am Jahrestage des Kriegsbeginnes die Fackel ihrer Prognostika
hoch aufleuchten lassen werden. Es find in diesem Jahre schon so viele Vor¬
aussagungen ergangen und es ist damit schon so viel böses Blut gemacht und
großer politischer Schaden angerichtet worden, daß man sich hüten sollte, in
diesen Dingen voreilig zu sein. Vielmehr geziemt es sich, diesen Jahrestag
als einen Tag der Sammlung und des Überschlages über Geschehenes und
Geleistetes zu begehen. Dies würe unserer und unserer politischen Haltung
würdig, wäre ein beachtenswertes Beispiel von Mannes- und Selbstzucht und
nationalem Stolz für unsere Feinde. Diese haben bereits wissen lassen, daß sie
den Jahrestag als Siegesfest begehen werden. Mögen sie sich ruhig Sieger
nennen und versuchen, der Welt einzureden, daß sie es sind. Der Jahres¬
abschluß lautet in Wahrheit denn doch ein wenig anders. In Übereinstimmung
mit ihren bisherigen Gepflogenheiten warten sie natürlich nur darauf, daß auch
wir Freudenfeuer zu Ehren unserer Erfolge anzünden. Sie warten darauf,
um uns mit der heißen Brühe ihrer unstillbaren hämischen Herabsetzung zu
begießen und zuzurufen: Holla, ihr Deutschen, wir sind auch noch da, wir
haben mehr Grund als ihr, den Jahrestag des Kriegsbeginnes zu feiern, weil
wir noch nicht unterlegen sind. Sie sind tatsächlich leider noch nicht völlig
unterlegen. Viel harte Arbeit harret unser noch. Kein Zweifel, daß wir sie


Grenzboten III 1915 7


Rückblick auf das Ariegsjahr
Alfred Ruhemann Von

le Zeit hat sich gejährt, da der Krieg tobt. Im August 1914
hatte niemand in der Welt geglaubt, daß er ein Jahr dauern
würde. Heute ist jedermann fest überzeugt, daß er möglicher¬
weise noch ein weiteres Jahr in Anspruch nehmen könnte. Ein
schlagender Beweis, wie trügerisch und unberechenbar Voraus¬
sagungen und Voraussetzungen sind, wie der Fehlschluß uns stets näher liegt,
als die Wahrheit. Menschenwerk ist eben lückenhaft und Irrtümern unter¬
worfen. Man wird daher nur mit mitleidigem Achselzucken jene hören und
lesen können, die am Jahrestage des Kriegsbeginnes die Fackel ihrer Prognostika
hoch aufleuchten lassen werden. Es find in diesem Jahre schon so viele Vor¬
aussagungen ergangen und es ist damit schon so viel böses Blut gemacht und
großer politischer Schaden angerichtet worden, daß man sich hüten sollte, in
diesen Dingen voreilig zu sein. Vielmehr geziemt es sich, diesen Jahrestag
als einen Tag der Sammlung und des Überschlages über Geschehenes und
Geleistetes zu begehen. Dies würe unserer und unserer politischen Haltung
würdig, wäre ein beachtenswertes Beispiel von Mannes- und Selbstzucht und
nationalem Stolz für unsere Feinde. Diese haben bereits wissen lassen, daß sie
den Jahrestag als Siegesfest begehen werden. Mögen sie sich ruhig Sieger
nennen und versuchen, der Welt einzureden, daß sie es sind. Der Jahres¬
abschluß lautet in Wahrheit denn doch ein wenig anders. In Übereinstimmung
mit ihren bisherigen Gepflogenheiten warten sie natürlich nur darauf, daß auch
wir Freudenfeuer zu Ehren unserer Erfolge anzünden. Sie warten darauf,
um uns mit der heißen Brühe ihrer unstillbaren hämischen Herabsetzung zu
begießen und zuzurufen: Holla, ihr Deutschen, wir sind auch noch da, wir
haben mehr Grund als ihr, den Jahrestag des Kriegsbeginnes zu feiern, weil
wir noch nicht unterlegen sind. Sie sind tatsächlich leider noch nicht völlig
unterlegen. Viel harte Arbeit harret unser noch. Kein Zweifel, daß wir sie


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[0109] [Abbildung] Rückblick auf das Ariegsjahr Alfred Ruhemann Von le Zeit hat sich gejährt, da der Krieg tobt. Im August 1914 hatte niemand in der Welt geglaubt, daß er ein Jahr dauern würde. Heute ist jedermann fest überzeugt, daß er möglicher¬ weise noch ein weiteres Jahr in Anspruch nehmen könnte. Ein schlagender Beweis, wie trügerisch und unberechenbar Voraus¬ sagungen und Voraussetzungen sind, wie der Fehlschluß uns stets näher liegt, als die Wahrheit. Menschenwerk ist eben lückenhaft und Irrtümern unter¬ worfen. Man wird daher nur mit mitleidigem Achselzucken jene hören und lesen können, die am Jahrestage des Kriegsbeginnes die Fackel ihrer Prognostika hoch aufleuchten lassen werden. Es find in diesem Jahre schon so viele Vor¬ aussagungen ergangen und es ist damit schon so viel böses Blut gemacht und großer politischer Schaden angerichtet worden, daß man sich hüten sollte, in diesen Dingen voreilig zu sein. Vielmehr geziemt es sich, diesen Jahrestag als einen Tag der Sammlung und des Überschlages über Geschehenes und Geleistetes zu begehen. Dies würe unserer und unserer politischen Haltung würdig, wäre ein beachtenswertes Beispiel von Mannes- und Selbstzucht und nationalem Stolz für unsere Feinde. Diese haben bereits wissen lassen, daß sie den Jahrestag als Siegesfest begehen werden. Mögen sie sich ruhig Sieger nennen und versuchen, der Welt einzureden, daß sie es sind. Der Jahres¬ abschluß lautet in Wahrheit denn doch ein wenig anders. In Übereinstimmung mit ihren bisherigen Gepflogenheiten warten sie natürlich nur darauf, daß auch wir Freudenfeuer zu Ehren unserer Erfolge anzünden. Sie warten darauf, um uns mit der heißen Brühe ihrer unstillbaren hämischen Herabsetzung zu begießen und zuzurufen: Holla, ihr Deutschen, wir sind auch noch da, wir haben mehr Grund als ihr, den Jahrestag des Kriegsbeginnes zu feiern, weil wir noch nicht unterlegen sind. Sie sind tatsächlich leider noch nicht völlig unterlegen. Viel harte Arbeit harret unser noch. Kein Zweifel, daß wir sie Grenzboten III 1915 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/109>, abgerufen am 19.05.2024.