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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Warum bekämpft uns Rußland?

Spiel in Kurland einzumarschieren und soviel davon zu besetzen, wie es gewollt
hätte. Unser tüchtiger Generalstab wird alles dies wohl ebensogut gewußt
haben, wie wir alle, die drüben wohnten und in dem Chaos um unser Leben
sorgen mußten. Trotz alledem geschah nichts. Konnte Rußland einen schlagenderen
Beweis für die Aufrichtigkeit seines großen Nachbarn verlangen? war nun nicht
der Moment gekommen, das Kriegsbeil endlich zu begraben und die alten
freundschaftlichen Beziehungen wieder herzustellen? gäbe es eine stärkere Macht
als ein Bündnis Deutschland-Rußland? So dachten viele -- und was kam?
Rußland verbindet sich mit England gegen Deutschland. Seinem gestrigen
Feinde, der ihm die ganze japanische Suppe eingebrockt hatte, wirft es sich in
die Arme, um dem erprobten Freunde zu schaden. Fürwahr eine Wendung
der Dinge, die tiefe Gründe haben muß; Erklärungen wie der Haß einzelner
Personen des Hofes usw. genügen nicht; versuchen wir festzustellen, welches die
wahren Gründe sind.

Ehe wir uns dem eigentlichen Thema zuwenden, soll eine Betrachtung ein¬
geschoben werden, die für die Beurteilung der Frage von größter Wichtigkeit ist.

Was bedeuten Bosporus und Dardanellen für Rußland?

Rußland ist in erster Linie Agrarstaat; von der Lage der Landwirt¬
schaft hängt sein gesamtes Wirtschaftsleben ab; der Industrielle jeder Branche
hält sich stetig über den Saatenstand seiner Verkaufsrayons im laufenden, er
weiß, daß die Kreditfähigkeit seiner Kunden in engster Verbindung mit den
Ernteaussichten zu beurteilen ist; schon ein rechtzeitig eingetretener Regen bringt
Aufträge und verkleinert die Zahl der protestierten Wechsel, ein fehlender
Regen wirkt im umgekehrten Sinne. In viel stärkerem Maße wirkt dann
naturgemäß der Ausfall der Ernte selbst; sie ist die Grundlage jedes wirt¬
schaftlichen Aufschwunges und kann durch nichts ersetzt werden, wie etwa in
Teutschland durch glänzende Jndustriekonjunkturen, die unabhängig von der
Ernte des Reiches eintreten können. In Nußland ist die Industrie vollkommen
uns Rußland selbst angewiesen und damit auf dessen Ernte.

Ist nun die Ernte glücklich unter Dach und Fach, so kommt als zweite
wichtige Frage die der Realisierung des Getreides. Die Kornkammern Rußlands
liegen zum weitaus größten Teil im Süden des Reiches, dessen Export aber
geht über die Häfen des Schwarzen Meeres und Konstantinopel nach den
verschiedensten Bestimmungsorten. Der Außenstehende kann sich nun kaum einen
Begriff machen, in welcher Weise die kleinste Hemmung in den Meerengen auf
das ganze Wirtschaftsleben des Riesenreiches wirkt. Es genügt, daß mit der
Sperrung der Dardanellen nur gerechnet werdeu kann, um den ganzen Getreide¬
handel unter das Signum "flau" zu bringen. Die Getreidepreise fallen, die
Händler kaufen gar nicht oder unlustig, Bauer und Gutsbesitzer können daher
nicht oder nur zu schlechten Preisen ihre Vorräte los werden. Dies alles wirkt
?nur in verstärktem Maße auf das noch viel empfindlichere Warengeschäft zurück.


Warum bekämpft uns Rußland?

Spiel in Kurland einzumarschieren und soviel davon zu besetzen, wie es gewollt
hätte. Unser tüchtiger Generalstab wird alles dies wohl ebensogut gewußt
haben, wie wir alle, die drüben wohnten und in dem Chaos um unser Leben
sorgen mußten. Trotz alledem geschah nichts. Konnte Rußland einen schlagenderen
Beweis für die Aufrichtigkeit seines großen Nachbarn verlangen? war nun nicht
der Moment gekommen, das Kriegsbeil endlich zu begraben und die alten
freundschaftlichen Beziehungen wieder herzustellen? gäbe es eine stärkere Macht
als ein Bündnis Deutschland-Rußland? So dachten viele — und was kam?
Rußland verbindet sich mit England gegen Deutschland. Seinem gestrigen
Feinde, der ihm die ganze japanische Suppe eingebrockt hatte, wirft es sich in
die Arme, um dem erprobten Freunde zu schaden. Fürwahr eine Wendung
der Dinge, die tiefe Gründe haben muß; Erklärungen wie der Haß einzelner
Personen des Hofes usw. genügen nicht; versuchen wir festzustellen, welches die
wahren Gründe sind.

Ehe wir uns dem eigentlichen Thema zuwenden, soll eine Betrachtung ein¬
geschoben werden, die für die Beurteilung der Frage von größter Wichtigkeit ist.

Was bedeuten Bosporus und Dardanellen für Rußland?

Rußland ist in erster Linie Agrarstaat; von der Lage der Landwirt¬
schaft hängt sein gesamtes Wirtschaftsleben ab; der Industrielle jeder Branche
hält sich stetig über den Saatenstand seiner Verkaufsrayons im laufenden, er
weiß, daß die Kreditfähigkeit seiner Kunden in engster Verbindung mit den
Ernteaussichten zu beurteilen ist; schon ein rechtzeitig eingetretener Regen bringt
Aufträge und verkleinert die Zahl der protestierten Wechsel, ein fehlender
Regen wirkt im umgekehrten Sinne. In viel stärkerem Maße wirkt dann
naturgemäß der Ausfall der Ernte selbst; sie ist die Grundlage jedes wirt¬
schaftlichen Aufschwunges und kann durch nichts ersetzt werden, wie etwa in
Teutschland durch glänzende Jndustriekonjunkturen, die unabhängig von der
Ernte des Reiches eintreten können. In Nußland ist die Industrie vollkommen
uns Rußland selbst angewiesen und damit auf dessen Ernte.

Ist nun die Ernte glücklich unter Dach und Fach, so kommt als zweite
wichtige Frage die der Realisierung des Getreides. Die Kornkammern Rußlands
liegen zum weitaus größten Teil im Süden des Reiches, dessen Export aber
geht über die Häfen des Schwarzen Meeres und Konstantinopel nach den
verschiedensten Bestimmungsorten. Der Außenstehende kann sich nun kaum einen
Begriff machen, in welcher Weise die kleinste Hemmung in den Meerengen auf
das ganze Wirtschaftsleben des Riesenreiches wirkt. Es genügt, daß mit der
Sperrung der Dardanellen nur gerechnet werdeu kann, um den ganzen Getreide¬
handel unter das Signum „flau" zu bringen. Die Getreidepreise fallen, die
Händler kaufen gar nicht oder unlustig, Bauer und Gutsbesitzer können daher
nicht oder nur zu schlechten Preisen ihre Vorräte los werden. Dies alles wirkt
?nur in verstärktem Maße auf das noch viel empfindlichere Warengeschäft zurück.


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[0270] Warum bekämpft uns Rußland? Spiel in Kurland einzumarschieren und soviel davon zu besetzen, wie es gewollt hätte. Unser tüchtiger Generalstab wird alles dies wohl ebensogut gewußt haben, wie wir alle, die drüben wohnten und in dem Chaos um unser Leben sorgen mußten. Trotz alledem geschah nichts. Konnte Rußland einen schlagenderen Beweis für die Aufrichtigkeit seines großen Nachbarn verlangen? war nun nicht der Moment gekommen, das Kriegsbeil endlich zu begraben und die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder herzustellen? gäbe es eine stärkere Macht als ein Bündnis Deutschland-Rußland? So dachten viele — und was kam? Rußland verbindet sich mit England gegen Deutschland. Seinem gestrigen Feinde, der ihm die ganze japanische Suppe eingebrockt hatte, wirft es sich in die Arme, um dem erprobten Freunde zu schaden. Fürwahr eine Wendung der Dinge, die tiefe Gründe haben muß; Erklärungen wie der Haß einzelner Personen des Hofes usw. genügen nicht; versuchen wir festzustellen, welches die wahren Gründe sind. Ehe wir uns dem eigentlichen Thema zuwenden, soll eine Betrachtung ein¬ geschoben werden, die für die Beurteilung der Frage von größter Wichtigkeit ist. Was bedeuten Bosporus und Dardanellen für Rußland? Rußland ist in erster Linie Agrarstaat; von der Lage der Landwirt¬ schaft hängt sein gesamtes Wirtschaftsleben ab; der Industrielle jeder Branche hält sich stetig über den Saatenstand seiner Verkaufsrayons im laufenden, er weiß, daß die Kreditfähigkeit seiner Kunden in engster Verbindung mit den Ernteaussichten zu beurteilen ist; schon ein rechtzeitig eingetretener Regen bringt Aufträge und verkleinert die Zahl der protestierten Wechsel, ein fehlender Regen wirkt im umgekehrten Sinne. In viel stärkerem Maße wirkt dann naturgemäß der Ausfall der Ernte selbst; sie ist die Grundlage jedes wirt¬ schaftlichen Aufschwunges und kann durch nichts ersetzt werden, wie etwa in Teutschland durch glänzende Jndustriekonjunkturen, die unabhängig von der Ernte des Reiches eintreten können. In Nußland ist die Industrie vollkommen uns Rußland selbst angewiesen und damit auf dessen Ernte. Ist nun die Ernte glücklich unter Dach und Fach, so kommt als zweite wichtige Frage die der Realisierung des Getreides. Die Kornkammern Rußlands liegen zum weitaus größten Teil im Süden des Reiches, dessen Export aber geht über die Häfen des Schwarzen Meeres und Konstantinopel nach den verschiedensten Bestimmungsorten. Der Außenstehende kann sich nun kaum einen Begriff machen, in welcher Weise die kleinste Hemmung in den Meerengen auf das ganze Wirtschaftsleben des Riesenreiches wirkt. Es genügt, daß mit der Sperrung der Dardanellen nur gerechnet werdeu kann, um den ganzen Getreide¬ handel unter das Signum „flau" zu bringen. Die Getreidepreise fallen, die Händler kaufen gar nicht oder unlustig, Bauer und Gutsbesitzer können daher nicht oder nur zu schlechten Preisen ihre Vorräte los werden. Dies alles wirkt ?nur in verstärktem Maße auf das noch viel empfindlichere Warengeschäft zurück.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/270>, abgerufen am 18.05.2024.