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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Judenfrage nach dem Ariege
paphnutius von

! ohl die meisten von uns haben die Judenfrage zuerst durch den
! Antisemitismus kennen gelernt. Sie sind wahrscheinlich durch die
gehässige und maßlose Form dieser Bewegung abgestoßen worden,
und sie mußten trotzdem erkennen, daß ihr ein tief begründeter
> Gegensatz zugrunde lag und daß die Volkskreise, welche die
Bewegung trugen, wirklich in ihren Lebensinteressen geschädigt oder bedroh
waren. Mir persönlich ist vor etwa zehn Jahren zum ersten Male mit aller
Klarheit die Erkenntnis geworden, daß die Judenfrage auch noch eine andere,
eine jüdische Seite hat, die nicht minder ernst ist. Damals ist mir ein kleiner
"Jndischer Volkskalender" in die Hände gefallen, der von österreichischen Zionisten
herausgegeben war. Das Heftchen enthielt Aufsätze über hervorragende Juden
zum Beispiel Israels und Liebermann, einige Wiedergaben von Bildern jüdischer
Maler, vor allem aber Erzählungen aus dem jüdischen Volksleben Rußlands.
Da war zum Beispiel das Leben einer jüdischen Proletarierfamilie geschildert,
die ohne sicheren Verdienst in den Tag hinein lebte. Die wackelige Petroleum¬
lampe mit dem wackeligen Zylinder auf dem wackeligen Familientische, die alle
Bewegungen der Familienglieder in der engen Stube tyrannisiere, da sie bei
jeder unvorsichtigen Berührung des Tisches umzufallen droht, wird als Symbol
der Unsicherheit der Familienexistenz gedeutet. Eine andere Erzählung schildert
einen wohlhabenden Juden, der seinen Sohn als Christen hatte erziehen lassen
und ihm seine eigene Abstammung verborgen hatte. Der Sohn war Pope und
Judenfeind geworden und der Vater muß nun die gehässigsten Angriffs gegen
sein eigenes Volk anhören und ist schließlich feig genug, in diese Reden
einzustimmen. Was den erschütternden Eindruck dieses Buches ausmachte, war
aber nicht der sachliche Inhalt, sondern die einheitliche Grundstimmung, welche
sich durch alle Beiträge hindurchzog. Man erkannte, daß in unserem Nachbar¬
reiche ein Volk lebt ohne Heimat, ohne Hoffnung, ohne Ideale, geschlagen mit
der Verachtung seiner Umgebung, das die Last des Daseins nicht mit Ergebung,
sondern ^ mit Verzweiflung trägt, und das selbst in seiner Religion wohl einen
Halt gegen die nationale Vernichtung, aber keinen Trost findet. Dieser durch
keinen fremden Ton gestörte Eindruck wirkte umso überzeugender, als er offenbar




Die Judenfrage nach dem Ariege
paphnutius von

! ohl die meisten von uns haben die Judenfrage zuerst durch den
! Antisemitismus kennen gelernt. Sie sind wahrscheinlich durch die
gehässige und maßlose Form dieser Bewegung abgestoßen worden,
und sie mußten trotzdem erkennen, daß ihr ein tief begründeter
> Gegensatz zugrunde lag und daß die Volkskreise, welche die
Bewegung trugen, wirklich in ihren Lebensinteressen geschädigt oder bedroh
waren. Mir persönlich ist vor etwa zehn Jahren zum ersten Male mit aller
Klarheit die Erkenntnis geworden, daß die Judenfrage auch noch eine andere,
eine jüdische Seite hat, die nicht minder ernst ist. Damals ist mir ein kleiner
„Jndischer Volkskalender" in die Hände gefallen, der von österreichischen Zionisten
herausgegeben war. Das Heftchen enthielt Aufsätze über hervorragende Juden
zum Beispiel Israels und Liebermann, einige Wiedergaben von Bildern jüdischer
Maler, vor allem aber Erzählungen aus dem jüdischen Volksleben Rußlands.
Da war zum Beispiel das Leben einer jüdischen Proletarierfamilie geschildert,
die ohne sicheren Verdienst in den Tag hinein lebte. Die wackelige Petroleum¬
lampe mit dem wackeligen Zylinder auf dem wackeligen Familientische, die alle
Bewegungen der Familienglieder in der engen Stube tyrannisiere, da sie bei
jeder unvorsichtigen Berührung des Tisches umzufallen droht, wird als Symbol
der Unsicherheit der Familienexistenz gedeutet. Eine andere Erzählung schildert
einen wohlhabenden Juden, der seinen Sohn als Christen hatte erziehen lassen
und ihm seine eigene Abstammung verborgen hatte. Der Sohn war Pope und
Judenfeind geworden und der Vater muß nun die gehässigsten Angriffs gegen
sein eigenes Volk anhören und ist schließlich feig genug, in diese Reden
einzustimmen. Was den erschütternden Eindruck dieses Buches ausmachte, war
aber nicht der sachliche Inhalt, sondern die einheitliche Grundstimmung, welche
sich durch alle Beiträge hindurchzog. Man erkannte, daß in unserem Nachbar¬
reiche ein Volk lebt ohne Heimat, ohne Hoffnung, ohne Ideale, geschlagen mit
der Verachtung seiner Umgebung, das die Last des Daseins nicht mit Ergebung,
sondern ^ mit Verzweiflung trägt, und das selbst in seiner Religion wohl einen
Halt gegen die nationale Vernichtung, aber keinen Trost findet. Dieser durch
keinen fremden Ton gestörte Eindruck wirkte umso überzeugender, als er offenbar


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[0406] [Abbildung] Die Judenfrage nach dem Ariege paphnutius von ! ohl die meisten von uns haben die Judenfrage zuerst durch den ! Antisemitismus kennen gelernt. Sie sind wahrscheinlich durch die gehässige und maßlose Form dieser Bewegung abgestoßen worden, und sie mußten trotzdem erkennen, daß ihr ein tief begründeter > Gegensatz zugrunde lag und daß die Volkskreise, welche die Bewegung trugen, wirklich in ihren Lebensinteressen geschädigt oder bedroh waren. Mir persönlich ist vor etwa zehn Jahren zum ersten Male mit aller Klarheit die Erkenntnis geworden, daß die Judenfrage auch noch eine andere, eine jüdische Seite hat, die nicht minder ernst ist. Damals ist mir ein kleiner „Jndischer Volkskalender" in die Hände gefallen, der von österreichischen Zionisten herausgegeben war. Das Heftchen enthielt Aufsätze über hervorragende Juden zum Beispiel Israels und Liebermann, einige Wiedergaben von Bildern jüdischer Maler, vor allem aber Erzählungen aus dem jüdischen Volksleben Rußlands. Da war zum Beispiel das Leben einer jüdischen Proletarierfamilie geschildert, die ohne sicheren Verdienst in den Tag hinein lebte. Die wackelige Petroleum¬ lampe mit dem wackeligen Zylinder auf dem wackeligen Familientische, die alle Bewegungen der Familienglieder in der engen Stube tyrannisiere, da sie bei jeder unvorsichtigen Berührung des Tisches umzufallen droht, wird als Symbol der Unsicherheit der Familienexistenz gedeutet. Eine andere Erzählung schildert einen wohlhabenden Juden, der seinen Sohn als Christen hatte erziehen lassen und ihm seine eigene Abstammung verborgen hatte. Der Sohn war Pope und Judenfeind geworden und der Vater muß nun die gehässigsten Angriffs gegen sein eigenes Volk anhören und ist schließlich feig genug, in diese Reden einzustimmen. Was den erschütternden Eindruck dieses Buches ausmachte, war aber nicht der sachliche Inhalt, sondern die einheitliche Grundstimmung, welche sich durch alle Beiträge hindurchzog. Man erkannte, daß in unserem Nachbar¬ reiche ein Volk lebt ohne Heimat, ohne Hoffnung, ohne Ideale, geschlagen mit der Verachtung seiner Umgebung, das die Last des Daseins nicht mit Ergebung, sondern ^ mit Verzweiflung trägt, und das selbst in seiner Religion wohl einen Halt gegen die nationale Vernichtung, aber keinen Trost findet. Dieser durch keinen fremden Ton gestörte Eindruck wirkte umso überzeugender, als er offenbar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/406>, abgerufen am 26.05.2024.