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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes
Dr. MI, B, Anregen von

item in der überhitzten Erregung unserer Tage, die eine ruhige
Besinnung auf geistige Dinge doch uoch kaum zuläßt, bringt nach
neuerlichen Zeitungsnachrichten das Preußische Kultusministerium
eine ausführliche Verfügung an die Direktoren der höheren Lehr¬
anstalten heraus, die vom 1. April 1916 ab eine bedeutende Ver¬
schiebung des historischen Lehrstoffes in der Richtung stärkerer Berücksichtigung^
der allerneuesten Geschichte vorsteht. Dieser Erlaß steht so wenig in Einklang mit'
dem, was in der modernen Geschichtsphilosophie an Einsichten über das Wesen
der Geschichte als vergangener Wirklichkeit und als deren Erkenntnis fest zu
werden anfängt, daß eine geschichtsvhilosophisch begründete Erörterung erlaubt
fein muß: uicht der fchultechnischen Ausläufer der Verordnung, sondern der
zugrunde liegenden Prinzipien. Selbstverständlich sind diese nur zum Teil aus¬
gesprochen, müssen also vielfach aus den auf sie aufbauenden Maßnahmen
erschlossen werden. Doch ist dieser Rückschluß nicht gerade schwer zu vollziehen.

Die wichtigsten Änderungen des neuen Lehrplans find folgende. Bereits
in Quinta wird unter Einschiebung einer Stunde eine Übersicht über die vater¬
ländische Geschichte in Form einzelner Lebensbilder geboten, wobei die Zeit des
Großen Kurfürsten, Friedrich der Grpße, die Freiheitskriege, Wilhelm der Erste
und Wilhelm der Zweite ausführlicher besprochen werden. Der hierdurch verdrängte
antike Sageuunterricht wird in Quarta als kurze Einleitung der alten Geschichte
gegeben, soweit er nicht in der deutschen Lektüre erledigt werden kann. Auf
der Mittelstufe wurde bisher in Preußen dreijährig (anderswo, zum Beispiel in
Elsaß-Lothringen, leider bloß zweijährig) die deutsche Geschichte behandelt.
Hier soll noch das Zeitalter Friedrichs des Großen der Obertertia zugeteilt
werden, so daß die Untersekunda die neueste Epoche seit der Revolution "ohne
Hast und sachgemäß durchnehmen kann". In der Oberstufe stehen der deutschen
Geschichte nur die zwei Jahre der Prima zur Verfügung. Hier soll nun die
bisher in Oberprima behandelte Zeit von 1648 bis 1786 noch der Unterprima
zugewiesen werden. So wird also künftighin dem ersten Primajahr die deutsche
Geschichte von den Ansängen bis zum Tod Friedrichs des Großen angehören,
dem zweiten Jahr der Zeitraum bis zur Gegenwart. Dort nahezu achtzehn
Jahrhunderte, hier etwas mehr als eines! Besondere Beachtung verdient noch
die weitere Verfügung, daß der mündlichen Reifeprüfung in der Hauptfache die




Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes
Dr. MI, B, Anregen von

item in der überhitzten Erregung unserer Tage, die eine ruhige
Besinnung auf geistige Dinge doch uoch kaum zuläßt, bringt nach
neuerlichen Zeitungsnachrichten das Preußische Kultusministerium
eine ausführliche Verfügung an die Direktoren der höheren Lehr¬
anstalten heraus, die vom 1. April 1916 ab eine bedeutende Ver¬
schiebung des historischen Lehrstoffes in der Richtung stärkerer Berücksichtigung^
der allerneuesten Geschichte vorsteht. Dieser Erlaß steht so wenig in Einklang mit'
dem, was in der modernen Geschichtsphilosophie an Einsichten über das Wesen
der Geschichte als vergangener Wirklichkeit und als deren Erkenntnis fest zu
werden anfängt, daß eine geschichtsvhilosophisch begründete Erörterung erlaubt
fein muß: uicht der fchultechnischen Ausläufer der Verordnung, sondern der
zugrunde liegenden Prinzipien. Selbstverständlich sind diese nur zum Teil aus¬
gesprochen, müssen also vielfach aus den auf sie aufbauenden Maßnahmen
erschlossen werden. Doch ist dieser Rückschluß nicht gerade schwer zu vollziehen.

Die wichtigsten Änderungen des neuen Lehrplans find folgende. Bereits
in Quinta wird unter Einschiebung einer Stunde eine Übersicht über die vater¬
ländische Geschichte in Form einzelner Lebensbilder geboten, wobei die Zeit des
Großen Kurfürsten, Friedrich der Grpße, die Freiheitskriege, Wilhelm der Erste
und Wilhelm der Zweite ausführlicher besprochen werden. Der hierdurch verdrängte
antike Sageuunterricht wird in Quarta als kurze Einleitung der alten Geschichte
gegeben, soweit er nicht in der deutschen Lektüre erledigt werden kann. Auf
der Mittelstufe wurde bisher in Preußen dreijährig (anderswo, zum Beispiel in
Elsaß-Lothringen, leider bloß zweijährig) die deutsche Geschichte behandelt.
Hier soll noch das Zeitalter Friedrichs des Großen der Obertertia zugeteilt
werden, so daß die Untersekunda die neueste Epoche seit der Revolution „ohne
Hast und sachgemäß durchnehmen kann". In der Oberstufe stehen der deutschen
Geschichte nur die zwei Jahre der Prima zur Verfügung. Hier soll nun die
bisher in Oberprima behandelte Zeit von 1648 bis 1786 noch der Unterprima
zugewiesen werden. So wird also künftighin dem ersten Primajahr die deutsche
Geschichte von den Ansängen bis zum Tod Friedrichs des Großen angehören,
dem zweiten Jahr der Zeitraum bis zur Gegenwart. Dort nahezu achtzehn
Jahrhunderte, hier etwas mehr als eines! Besondere Beachtung verdient noch
die weitere Verfügung, daß der mündlichen Reifeprüfung in der Hauptfache die


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[0115] [Abbildung] Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes Dr. MI, B, Anregen von item in der überhitzten Erregung unserer Tage, die eine ruhige Besinnung auf geistige Dinge doch uoch kaum zuläßt, bringt nach neuerlichen Zeitungsnachrichten das Preußische Kultusministerium eine ausführliche Verfügung an die Direktoren der höheren Lehr¬ anstalten heraus, die vom 1. April 1916 ab eine bedeutende Ver¬ schiebung des historischen Lehrstoffes in der Richtung stärkerer Berücksichtigung^ der allerneuesten Geschichte vorsteht. Dieser Erlaß steht so wenig in Einklang mit' dem, was in der modernen Geschichtsphilosophie an Einsichten über das Wesen der Geschichte als vergangener Wirklichkeit und als deren Erkenntnis fest zu werden anfängt, daß eine geschichtsvhilosophisch begründete Erörterung erlaubt fein muß: uicht der fchultechnischen Ausläufer der Verordnung, sondern der zugrunde liegenden Prinzipien. Selbstverständlich sind diese nur zum Teil aus¬ gesprochen, müssen also vielfach aus den auf sie aufbauenden Maßnahmen erschlossen werden. Doch ist dieser Rückschluß nicht gerade schwer zu vollziehen. Die wichtigsten Änderungen des neuen Lehrplans find folgende. Bereits in Quinta wird unter Einschiebung einer Stunde eine Übersicht über die vater¬ ländische Geschichte in Form einzelner Lebensbilder geboten, wobei die Zeit des Großen Kurfürsten, Friedrich der Grpße, die Freiheitskriege, Wilhelm der Erste und Wilhelm der Zweite ausführlicher besprochen werden. Der hierdurch verdrängte antike Sageuunterricht wird in Quarta als kurze Einleitung der alten Geschichte gegeben, soweit er nicht in der deutschen Lektüre erledigt werden kann. Auf der Mittelstufe wurde bisher in Preußen dreijährig (anderswo, zum Beispiel in Elsaß-Lothringen, leider bloß zweijährig) die deutsche Geschichte behandelt. Hier soll noch das Zeitalter Friedrichs des Großen der Obertertia zugeteilt werden, so daß die Untersekunda die neueste Epoche seit der Revolution „ohne Hast und sachgemäß durchnehmen kann". In der Oberstufe stehen der deutschen Geschichte nur die zwei Jahre der Prima zur Verfügung. Hier soll nun die bisher in Oberprima behandelte Zeit von 1648 bis 1786 noch der Unterprima zugewiesen werden. So wird also künftighin dem ersten Primajahr die deutsche Geschichte von den Ansängen bis zum Tod Friedrichs des Großen angehören, dem zweiten Jahr der Zeitraum bis zur Gegenwart. Dort nahezu achtzehn Jahrhunderte, hier etwas mehr als eines! Besondere Beachtung verdient noch die weitere Verfügung, daß der mündlichen Reifeprüfung in der Hauptfache die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/115>, abgerufen am 05.05.2024.