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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die Zukunft des Völkerrechts

die überseeische Zufuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln abschneiden könnte,
sondern vor allem die Angst für die Kolonien, die England schon einmal vor
hundert Jahren im Besitze gehabt hat, und die jetzt außer von England, auch
noch von Japan bedroht sind. Hat doch der "Telegraaf", der häufig das
ausspricht, was sich andere Blätter nicht zu sagen getrauen, sich nicht gescheut,
seinerzeit der holländischen Regierung ganz offen mit der Besetzung Javas durch
die Japaner zu drohen, falls die Ausfuhr von Zinn nach Deutschland nicht
sofort eingestellt werde.




Die Zukunft des Völkerrechts
von Dr. zur. Julius Friedrich, Professor an den Aölner Hochschulen

er Weltkrieg hat die Menschheit vor neue, bis dahin nicht ge¬
kannte, gewaltige Aufgaben gestellt. Es wettelfern in Theorie
und Praxis alle Berufe, Nationalökonomen und Finanzleute,
Naturwissenschaftler, Techniker und Kaufleute, Theologen und
Pädagogen, diesen Aufgaben gerecht zu werden. Auch den Juristen
ist in Kriegs- und Kriegsnotgesetzen, in der inneren, namentlich der wirtschaft¬
lichen Verwaltung und in der Verwaltung der besetzten feindlichen Gebiete kein
klein Stück Arbeit zugefallen. Nur ein Zweig der Rechtswissenschaft scheint
beiseite zu stehen, ija scheint fast seine Existenzberechtigung verloren zu haben:
Die Wissenschaft vom Völkerrecht. Der Bonner Historiker Schulte hat kürzlich
geäußert: Das Völkerrecht ist der Tummelplatz gelehrter Konstruktionen, die in
der Praxis unmöglich sind. Und Bismarck hat einmal gesagt: In der aus¬
wärtigen Politik befolge ich keine Grundsätze, sondern ich tue von Fall zu Fall,
was mir richtig scheint; und ein andermal: Mit juristischen Theorien läßt sich
keine auswärtige Politik treiben. Der Mann der Wissenschaft, der Historiker,
und der Mann der Praxis, der Staatsmann, haben damit dem Völkerrecht als
praktischer Wissenschaft das Todesurteil gesprochen. Hat die entsetzliche Praxis
des Weltkrieges dies Todesurteil vollstreckt? War es ein Wahn, in dem wir
lebten, als wir im Völkerrecht etwas als wirksam ansahen, das nicht wirksam
gewesen ist? Haben wir mit dem Völkerrecht etwas als vorhanden angenommen,
das nicht vorhanden war? Ja und nein. Das, was wir Völkerrecht nannten,
war wirksame Wirklichkeit; aber es war kein "Völker".Recht und es war kein
Völker-"Recht" im strengen Sinne der "Jurisprudenz". Was war es denn?
Ist es noch heute? Wird es in Zukunft sein? Das sind die Fragen, die wir
uns stellen wollen.


Die Zukunft des Völkerrechts

die überseeische Zufuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln abschneiden könnte,
sondern vor allem die Angst für die Kolonien, die England schon einmal vor
hundert Jahren im Besitze gehabt hat, und die jetzt außer von England, auch
noch von Japan bedroht sind. Hat doch der „Telegraaf", der häufig das
ausspricht, was sich andere Blätter nicht zu sagen getrauen, sich nicht gescheut,
seinerzeit der holländischen Regierung ganz offen mit der Besetzung Javas durch
die Japaner zu drohen, falls die Ausfuhr von Zinn nach Deutschland nicht
sofort eingestellt werde.




Die Zukunft des Völkerrechts
von Dr. zur. Julius Friedrich, Professor an den Aölner Hochschulen

er Weltkrieg hat die Menschheit vor neue, bis dahin nicht ge¬
kannte, gewaltige Aufgaben gestellt. Es wettelfern in Theorie
und Praxis alle Berufe, Nationalökonomen und Finanzleute,
Naturwissenschaftler, Techniker und Kaufleute, Theologen und
Pädagogen, diesen Aufgaben gerecht zu werden. Auch den Juristen
ist in Kriegs- und Kriegsnotgesetzen, in der inneren, namentlich der wirtschaft¬
lichen Verwaltung und in der Verwaltung der besetzten feindlichen Gebiete kein
klein Stück Arbeit zugefallen. Nur ein Zweig der Rechtswissenschaft scheint
beiseite zu stehen, ija scheint fast seine Existenzberechtigung verloren zu haben:
Die Wissenschaft vom Völkerrecht. Der Bonner Historiker Schulte hat kürzlich
geäußert: Das Völkerrecht ist der Tummelplatz gelehrter Konstruktionen, die in
der Praxis unmöglich sind. Und Bismarck hat einmal gesagt: In der aus¬
wärtigen Politik befolge ich keine Grundsätze, sondern ich tue von Fall zu Fall,
was mir richtig scheint; und ein andermal: Mit juristischen Theorien läßt sich
keine auswärtige Politik treiben. Der Mann der Wissenschaft, der Historiker,
und der Mann der Praxis, der Staatsmann, haben damit dem Völkerrecht als
praktischer Wissenschaft das Todesurteil gesprochen. Hat die entsetzliche Praxis
des Weltkrieges dies Todesurteil vollstreckt? War es ein Wahn, in dem wir
lebten, als wir im Völkerrecht etwas als wirksam ansahen, das nicht wirksam
gewesen ist? Haben wir mit dem Völkerrecht etwas als vorhanden angenommen,
das nicht vorhanden war? Ja und nein. Das, was wir Völkerrecht nannten,
war wirksame Wirklichkeit; aber es war kein „Völker".Recht und es war kein
Völker-„Recht" im strengen Sinne der „Jurisprudenz". Was war es denn?
Ist es noch heute? Wird es in Zukunft sein? Das sind die Fragen, die wir
uns stellen wollen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/179>, abgerufen am 30.04.2024.