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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen
"Line neutrale Polemik

er unerhörte Kampf der Meinungen um die belgische Neutralität
und um den Volkskrieg in Belgien hat heute, 18 Monate nach
dem Einrücken der ersten deutschen Truppen in das belgische Land,
so ziemlich ausgetobt, ohne daß jedoch dieser Gegenstand die alte
'Anziehungskraft schon ganz eingebüßt hätte. Die Frage der
Neutralitätsverletzung und nicht minder die Geschichte dieses beispiellosen Krieges
eines ganzen Volkes mit all seinen Folgen bietet noch jetzt und wird noch
Generationen immer neuen Stoff zum heißen Kampf des Wortes und der Feder
für und wider bieten, wenn die Wunden des Jahres 1914 längst vernarbt sind
und der Haß und die Leidenschaft einer zurückschauenden, ruhigeren Betrachtung
Platz gemacht haben werden.

Die Weltgeschichte wird aber, wir dürfen es zuversichtlich hoffen, auch dem
Kapitel Belgien noch einmal eine unbefangenere Würdigung, als es bisher ge¬
schehen ist, zuteil werdeu lassen und manchen Jrrtuni aufklären, in gerechteren
Abwägen der heute noch so durch Gunst und Haß verwirrten Gründe der
streitenden Parteien die Lösung für vieles heute schier unfaßbare leichter finden,
wenn das ungeheure Tatsachenmaterial wenigstens leidlich einwandfrei vorliegt
und die Staatsarchive einmal alle ihre Geheimfächer geöffnet haben werden.
Zeitgenössisches Ouellenmaterial, all die Dokumente, all diese Ursine von Literatur
als Zeugnisse für die Ereignisse selbst und nicht minder für die Mentalität in
diesem Kriege des Wortes, der neben dem Kriege der Waffen dahintobt, werden
dem forschenden Auge der Nachwelt ja diesmal wie in keiner anderen Epoche
der Geschichte zur Verfügung stehen. Vieles, sehr vieles davon wird aber von
einer kühleren Kritik späterer Generationen als ganz oder teilweise unhaltbar
abgelehnt werden müssen, das können wir schon heute sagen angesichts dieser
nie dagewesenen leidenschaftlichen Aufwühlung der Gemüter einer ganzen Welt,
die sich zurzeit noch zu einem bedauerlich großen Teil in der Krisis einer einzig¬
artigen Psychose bzw. Hypnose befindet, teils jeglicher Objektivität unfähig ist,
sie sogar gewaltsam erstickt, teils wenigstens danach ringt, aber vergeblich.

In dem Schmelztiegel der Weltgeschichte wird einmal alles zutage kommen,
das Recht und das Unrecht; die Schlacke wird abfallen und das Gold der
Wahrheit wird bleiben. Da werden denn auch all die literarischen Denkmäler




Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen
«Line neutrale Polemik

er unerhörte Kampf der Meinungen um die belgische Neutralität
und um den Volkskrieg in Belgien hat heute, 18 Monate nach
dem Einrücken der ersten deutschen Truppen in das belgische Land,
so ziemlich ausgetobt, ohne daß jedoch dieser Gegenstand die alte
'Anziehungskraft schon ganz eingebüßt hätte. Die Frage der
Neutralitätsverletzung und nicht minder die Geschichte dieses beispiellosen Krieges
eines ganzen Volkes mit all seinen Folgen bietet noch jetzt und wird noch
Generationen immer neuen Stoff zum heißen Kampf des Wortes und der Feder
für und wider bieten, wenn die Wunden des Jahres 1914 längst vernarbt sind
und der Haß und die Leidenschaft einer zurückschauenden, ruhigeren Betrachtung
Platz gemacht haben werden.

Die Weltgeschichte wird aber, wir dürfen es zuversichtlich hoffen, auch dem
Kapitel Belgien noch einmal eine unbefangenere Würdigung, als es bisher ge¬
schehen ist, zuteil werdeu lassen und manchen Jrrtuni aufklären, in gerechteren
Abwägen der heute noch so durch Gunst und Haß verwirrten Gründe der
streitenden Parteien die Lösung für vieles heute schier unfaßbare leichter finden,
wenn das ungeheure Tatsachenmaterial wenigstens leidlich einwandfrei vorliegt
und die Staatsarchive einmal alle ihre Geheimfächer geöffnet haben werden.
Zeitgenössisches Ouellenmaterial, all die Dokumente, all diese Ursine von Literatur
als Zeugnisse für die Ereignisse selbst und nicht minder für die Mentalität in
diesem Kriege des Wortes, der neben dem Kriege der Waffen dahintobt, werden
dem forschenden Auge der Nachwelt ja diesmal wie in keiner anderen Epoche
der Geschichte zur Verfügung stehen. Vieles, sehr vieles davon wird aber von
einer kühleren Kritik späterer Generationen als ganz oder teilweise unhaltbar
abgelehnt werden müssen, das können wir schon heute sagen angesichts dieser
nie dagewesenen leidenschaftlichen Aufwühlung der Gemüter einer ganzen Welt,
die sich zurzeit noch zu einem bedauerlich großen Teil in der Krisis einer einzig¬
artigen Psychose bzw. Hypnose befindet, teils jeglicher Objektivität unfähig ist,
sie sogar gewaltsam erstickt, teils wenigstens danach ringt, aber vergeblich.

In dem Schmelztiegel der Weltgeschichte wird einmal alles zutage kommen,
das Recht und das Unrecht; die Schlacke wird abfallen und das Gold der
Wahrheit wird bleiben. Da werden denn auch all die literarischen Denkmäler


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[0244] [Abbildung] Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen «Line neutrale Polemik er unerhörte Kampf der Meinungen um die belgische Neutralität und um den Volkskrieg in Belgien hat heute, 18 Monate nach dem Einrücken der ersten deutschen Truppen in das belgische Land, so ziemlich ausgetobt, ohne daß jedoch dieser Gegenstand die alte 'Anziehungskraft schon ganz eingebüßt hätte. Die Frage der Neutralitätsverletzung und nicht minder die Geschichte dieses beispiellosen Krieges eines ganzen Volkes mit all seinen Folgen bietet noch jetzt und wird noch Generationen immer neuen Stoff zum heißen Kampf des Wortes und der Feder für und wider bieten, wenn die Wunden des Jahres 1914 längst vernarbt sind und der Haß und die Leidenschaft einer zurückschauenden, ruhigeren Betrachtung Platz gemacht haben werden. Die Weltgeschichte wird aber, wir dürfen es zuversichtlich hoffen, auch dem Kapitel Belgien noch einmal eine unbefangenere Würdigung, als es bisher ge¬ schehen ist, zuteil werdeu lassen und manchen Jrrtuni aufklären, in gerechteren Abwägen der heute noch so durch Gunst und Haß verwirrten Gründe der streitenden Parteien die Lösung für vieles heute schier unfaßbare leichter finden, wenn das ungeheure Tatsachenmaterial wenigstens leidlich einwandfrei vorliegt und die Staatsarchive einmal alle ihre Geheimfächer geöffnet haben werden. Zeitgenössisches Ouellenmaterial, all die Dokumente, all diese Ursine von Literatur als Zeugnisse für die Ereignisse selbst und nicht minder für die Mentalität in diesem Kriege des Wortes, der neben dem Kriege der Waffen dahintobt, werden dem forschenden Auge der Nachwelt ja diesmal wie in keiner anderen Epoche der Geschichte zur Verfügung stehen. Vieles, sehr vieles davon wird aber von einer kühleren Kritik späterer Generationen als ganz oder teilweise unhaltbar abgelehnt werden müssen, das können wir schon heute sagen angesichts dieser nie dagewesenen leidenschaftlichen Aufwühlung der Gemüter einer ganzen Welt, die sich zurzeit noch zu einem bedauerlich großen Teil in der Krisis einer einzig¬ artigen Psychose bzw. Hypnose befindet, teils jeglicher Objektivität unfähig ist, sie sogar gewaltsam erstickt, teils wenigstens danach ringt, aber vergeblich. In dem Schmelztiegel der Weltgeschichte wird einmal alles zutage kommen, das Recht und das Unrecht; die Schlacke wird abfallen und das Gold der Wahrheit wird bleiben. Da werden denn auch all die literarischen Denkmäler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/244>, abgerufen am 30.04.2024.