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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen
Friedenszeit und des gegenwärtigen Arieges
von Dr. Hans Goldschmidt

".gewöhnlich schnell ist dem Historiker für diesen Krieg und seine
Vorgeschichte ein reiches Quellenmaterial zugeflossen. Blaubücher
und Weißbücher der verschiedenen miteinander kriegführenden
Staaten gewähren ein in hohem Maße einander ergänzendes,
amtliches Aktenmaterial, wie wir es für den Krieg von 1870/71
und die vorhergehenden Jahre diplomatischer Gewitterschwüle noch heute nicht
besitzen. Die schwerer als damals erkennbare Ursache des Krieges und der
Wunsch der Regierungen, sich von dem Verdacht, den Krieg leichtsinnig unter¬
nommen zu haben, vor den Parlamenten ihrer Länder zu reinigen, hat diese
Fülle veranlaßt. Der Gang des Krieges hat uns dann in den Berichten der
belgischen Gesandten in London und Paris ein Quellenwerk zur neuesten Ge¬
schichte beschert, wie wir es für das 16. und 17. Jahrhundert in den vene-
tianischen Relationen besitzen, wie es uns aus so unmittelbarer Vergangenheit aber
noch nie aus den Aktenschränken der Ministerien preisgegeben wurde. Wir
sehen hier scharfsinnige Diplomaten ohne besondere Vorliebe oder Abneigung
für die Beteiligten einen diplomatischen Kampf beobachten, an dem sie praktisch
nicht beteiligt sind, nur die Sorge, daß ihr Staat ein Opfer dieses Kampfes
werden könnte, leitet ihr Urteil.

Trotz dieser Reichhaltigkeit bedarf es kaum einer Erörterung, daß es noch
Jahrzehnte dauern wird, bis es möglich ist, die Dinge nach dem Rankeschen
Wort wirklich darzustellen, wie sie gewesen sind. Gemäß dem Zweck, für
den sie bestimmt sind, weisen die verschiedenen Farbbücher, je nachdem sich
die Regierung mehr oder minder an dem Krieg schuldig fühlte, Auslastungen
und Fälschungen auf/) Sind solche auch auf unserer Seite nicht nötig ge¬
wesen, so stellt doch Bergsträsser fest, daß auch das von Oesterreich und Deutsch-
land publizierte Material nicht lückenlos ist.**) Unsere namhaftesten Historiker




*) S. Ludwig Bergsträsser, Die diplomatischen Kämpfe vor Kriegsausbruch, eine
kritische Studie auf Grund der offiziellen Veröffentlichungen aller beteiligten Staaten, Histor.
Ztschr. Bd. 118, z. B. S. 494. 616 Anm. 1, 618, Anm. 2. 620, Anm. 2, 644 Anm. 2,
656 Anm. 1, 667, Anm. 2.
*") S. c>. a. O. S. 634 Anm. 1, 681 Anm. 2.


Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen
Friedenszeit und des gegenwärtigen Arieges
von Dr. Hans Goldschmidt

".gewöhnlich schnell ist dem Historiker für diesen Krieg und seine
Vorgeschichte ein reiches Quellenmaterial zugeflossen. Blaubücher
und Weißbücher der verschiedenen miteinander kriegführenden
Staaten gewähren ein in hohem Maße einander ergänzendes,
amtliches Aktenmaterial, wie wir es für den Krieg von 1870/71
und die vorhergehenden Jahre diplomatischer Gewitterschwüle noch heute nicht
besitzen. Die schwerer als damals erkennbare Ursache des Krieges und der
Wunsch der Regierungen, sich von dem Verdacht, den Krieg leichtsinnig unter¬
nommen zu haben, vor den Parlamenten ihrer Länder zu reinigen, hat diese
Fülle veranlaßt. Der Gang des Krieges hat uns dann in den Berichten der
belgischen Gesandten in London und Paris ein Quellenwerk zur neuesten Ge¬
schichte beschert, wie wir es für das 16. und 17. Jahrhundert in den vene-
tianischen Relationen besitzen, wie es uns aus so unmittelbarer Vergangenheit aber
noch nie aus den Aktenschränken der Ministerien preisgegeben wurde. Wir
sehen hier scharfsinnige Diplomaten ohne besondere Vorliebe oder Abneigung
für die Beteiligten einen diplomatischen Kampf beobachten, an dem sie praktisch
nicht beteiligt sind, nur die Sorge, daß ihr Staat ein Opfer dieses Kampfes
werden könnte, leitet ihr Urteil.

Trotz dieser Reichhaltigkeit bedarf es kaum einer Erörterung, daß es noch
Jahrzehnte dauern wird, bis es möglich ist, die Dinge nach dem Rankeschen
Wort wirklich darzustellen, wie sie gewesen sind. Gemäß dem Zweck, für
den sie bestimmt sind, weisen die verschiedenen Farbbücher, je nachdem sich
die Regierung mehr oder minder an dem Krieg schuldig fühlte, Auslastungen
und Fälschungen auf/) Sind solche auch auf unserer Seite nicht nötig ge¬
wesen, so stellt doch Bergsträsser fest, daß auch das von Oesterreich und Deutsch-
land publizierte Material nicht lückenlos ist.**) Unsere namhaftesten Historiker




*) S. Ludwig Bergsträsser, Die diplomatischen Kämpfe vor Kriegsausbruch, eine
kritische Studie auf Grund der offiziellen Veröffentlichungen aller beteiligten Staaten, Histor.
Ztschr. Bd. 118, z. B. S. 494. 616 Anm. 1, 618, Anm. 2. 620, Anm. 2, 644 Anm. 2,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/25>, abgerufen am 30.04.2024.