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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Richtungen der Psychologie
von Dr. Max Levy

-ÄMt?
MW
MGnennten aller Erschütterungen der Gegenwart sehen wir im
deutschen Volke den edlen Drang nach Erkenntnis und wissen¬
schaftlicher Bildung um ihrer selbst willen unverändert erhalten
geblieben. So konnten auch auf Gebieten, die dem Krieg und
den Kriegswissenschaften fern liegen, wie die Psychologie, eine
ganze Anzahl neuer Schöpfungen im Jahre 1915 erfolgreich an die Öffentlichkeit
treten. Zwei kleinere Werke, der bekannten Sammlung "Aus Natur und
Geisteswelt" (Teubner, Leipzig) entstammend, haben in gemeinverständlicher
Weise den gegenwärtigen Stand der psychologischen Wissenschaft zur Darstellung
gebracht: Braunshausen, "Einführung in die experimentelle Psychologie" und
v. Aster, "Einführung in die Psychologie". Daß sie aus der Hand zweier
verschiedener Autoren gleichzeitig herausgegeben wurden, entsprang offenbar dem
von v. Aster auch ausgesprochenen Gedanken, daß eine gegenseitige Ergänzung
notwendig sei, und führt uns sogleich den seit Jahren herrschenden Grenzstreit
vor Augen, zwischen den Vertretern einer philosophischen und einer naturwissen¬
schaftlichen Richtung, von denen jede in gleichem Maße die Psychologie als ihr
Forschungs- und Lehrgebiet in Anspruch nimmt.

Die Betrachtung dieser Gegensätzlichkeit zweier sonst voneinander streng
geschiedener Fakultäten vermag uns als Ausgangspunkt für die Frage zu dienen,
was heute unter Psychologie oder Lehre vom Seelenleben verstanden wird, und
welche Mittel und Methoden zu ihrer Erforschung bereit stehen.

Zunächst: Wissenschaftliche Psychologie bedeutet nicht Seelenkenntnis im
Alltagssinn, nicht das Verständnis feinster Gedanken- und Gemütsbewegungen
beim Mitmenschen, das tiefe nachempfinden seelischer Konflikte, wie wir es dem
Romanschriftsteller, dem dramatischen Dichter oder auch dem erfahrenen Arzte
zuschreiben, -- es ist auch nicht jene Menschenkenntnis, die befähigt, den Cha¬
rakter der Mitmenschen zu durchschauen, ihre verborgenen Beweggründe und
Absichten zu erraten, ihre Handlungsweise in dieser oder jener Lage voraus¬
zusehen und klug in Rechnung zu stellen, wie wir es vom Diplomaten erwarten,
vom gewiegten Kaufmann, vom Verteidiger, aber auch vom Schwindler an¬
gewandt sehen.

Diese zur allgemeinen Weltkenntnis oder, wie Kant es nannte, "prag¬
matischen Anthropologie" gehörenden Fähigkeiten beruhen einmal auf einer eher




Richtungen der Psychologie
von Dr. Max Levy

-ÄMt?
MW
MGnennten aller Erschütterungen der Gegenwart sehen wir im
deutschen Volke den edlen Drang nach Erkenntnis und wissen¬
schaftlicher Bildung um ihrer selbst willen unverändert erhalten
geblieben. So konnten auch auf Gebieten, die dem Krieg und
den Kriegswissenschaften fern liegen, wie die Psychologie, eine
ganze Anzahl neuer Schöpfungen im Jahre 1915 erfolgreich an die Öffentlichkeit
treten. Zwei kleinere Werke, der bekannten Sammlung „Aus Natur und
Geisteswelt" (Teubner, Leipzig) entstammend, haben in gemeinverständlicher
Weise den gegenwärtigen Stand der psychologischen Wissenschaft zur Darstellung
gebracht: Braunshausen, „Einführung in die experimentelle Psychologie" und
v. Aster, „Einführung in die Psychologie". Daß sie aus der Hand zweier
verschiedener Autoren gleichzeitig herausgegeben wurden, entsprang offenbar dem
von v. Aster auch ausgesprochenen Gedanken, daß eine gegenseitige Ergänzung
notwendig sei, und führt uns sogleich den seit Jahren herrschenden Grenzstreit
vor Augen, zwischen den Vertretern einer philosophischen und einer naturwissen¬
schaftlichen Richtung, von denen jede in gleichem Maße die Psychologie als ihr
Forschungs- und Lehrgebiet in Anspruch nimmt.

Die Betrachtung dieser Gegensätzlichkeit zweier sonst voneinander streng
geschiedener Fakultäten vermag uns als Ausgangspunkt für die Frage zu dienen,
was heute unter Psychologie oder Lehre vom Seelenleben verstanden wird, und
welche Mittel und Methoden zu ihrer Erforschung bereit stehen.

Zunächst: Wissenschaftliche Psychologie bedeutet nicht Seelenkenntnis im
Alltagssinn, nicht das Verständnis feinster Gedanken- und Gemütsbewegungen
beim Mitmenschen, das tiefe nachempfinden seelischer Konflikte, wie wir es dem
Romanschriftsteller, dem dramatischen Dichter oder auch dem erfahrenen Arzte
zuschreiben, — es ist auch nicht jene Menschenkenntnis, die befähigt, den Cha¬
rakter der Mitmenschen zu durchschauen, ihre verborgenen Beweggründe und
Absichten zu erraten, ihre Handlungsweise in dieser oder jener Lage voraus¬
zusehen und klug in Rechnung zu stellen, wie wir es vom Diplomaten erwarten,
vom gewiegten Kaufmann, vom Verteidiger, aber auch vom Schwindler an¬
gewandt sehen.

Diese zur allgemeinen Weltkenntnis oder, wie Kant es nannte, „prag¬
matischen Anthropologie" gehörenden Fähigkeiten beruhen einmal auf einer eher


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[0262] [Abbildung] Richtungen der Psychologie von Dr. Max Levy -ÄMt? MW MGnennten aller Erschütterungen der Gegenwart sehen wir im deutschen Volke den edlen Drang nach Erkenntnis und wissen¬ schaftlicher Bildung um ihrer selbst willen unverändert erhalten geblieben. So konnten auch auf Gebieten, die dem Krieg und den Kriegswissenschaften fern liegen, wie die Psychologie, eine ganze Anzahl neuer Schöpfungen im Jahre 1915 erfolgreich an die Öffentlichkeit treten. Zwei kleinere Werke, der bekannten Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt" (Teubner, Leipzig) entstammend, haben in gemeinverständlicher Weise den gegenwärtigen Stand der psychologischen Wissenschaft zur Darstellung gebracht: Braunshausen, „Einführung in die experimentelle Psychologie" und v. Aster, „Einführung in die Psychologie". Daß sie aus der Hand zweier verschiedener Autoren gleichzeitig herausgegeben wurden, entsprang offenbar dem von v. Aster auch ausgesprochenen Gedanken, daß eine gegenseitige Ergänzung notwendig sei, und führt uns sogleich den seit Jahren herrschenden Grenzstreit vor Augen, zwischen den Vertretern einer philosophischen und einer naturwissen¬ schaftlichen Richtung, von denen jede in gleichem Maße die Psychologie als ihr Forschungs- und Lehrgebiet in Anspruch nimmt. Die Betrachtung dieser Gegensätzlichkeit zweier sonst voneinander streng geschiedener Fakultäten vermag uns als Ausgangspunkt für die Frage zu dienen, was heute unter Psychologie oder Lehre vom Seelenleben verstanden wird, und welche Mittel und Methoden zu ihrer Erforschung bereit stehen. Zunächst: Wissenschaftliche Psychologie bedeutet nicht Seelenkenntnis im Alltagssinn, nicht das Verständnis feinster Gedanken- und Gemütsbewegungen beim Mitmenschen, das tiefe nachempfinden seelischer Konflikte, wie wir es dem Romanschriftsteller, dem dramatischen Dichter oder auch dem erfahrenen Arzte zuschreiben, — es ist auch nicht jene Menschenkenntnis, die befähigt, den Cha¬ rakter der Mitmenschen zu durchschauen, ihre verborgenen Beweggründe und Absichten zu erraten, ihre Handlungsweise in dieser oder jener Lage voraus¬ zusehen und klug in Rechnung zu stellen, wie wir es vom Diplomaten erwarten, vom gewiegten Kaufmann, vom Verteidiger, aber auch vom Schwindler an¬ gewandt sehen. Diese zur allgemeinen Weltkenntnis oder, wie Kant es nannte, „prag¬ matischen Anthropologie" gehörenden Fähigkeiten beruhen einmal auf einer eher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/262>, abgerufen am 30.04.2024.