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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Schleiermacher als Patriot
von Uonsistorialrat Professor Dr. Simon

me stolzen Insulaner, welche viele unter euch so ungebührlich ver¬
ehren, kennen keine andere Losung, als gewinnen und genießen,
ihr Eifer für die Wissenschaften, für die Freiheit des Lebens und
für die heilige Freiheit ist nur ein leeres Spielgefecht. So wie
die begeisterten Verfechter der letzteren unter ihnen nichts tun,
als die nationale Orthodoxie mit Wut verteidigen und dem Volke Wunder vor¬
spiegeln, damit die abergläubische Anhänglichkeit an alte Gebräuche nicht ver¬
loren gehe, so ist es ihnen eben nicht mehr ernst mit allem übrigen, was über
das Sinnliche und den nächsten unmittelbaren Nutzen hinausgeht. So gehen
sie auf Kenntnisse aus, so ist ihre Weisheit nur auf eine jämmerliche Empirie
gerichtet, und so kann ihnen die Religion nichts anderes sein, als ein toter
Buchstabe, ein heiliger Artikel in der Verfassung, in welcher nichts Reelles ist...
Aus anderen Ursachen wende ich mich weg von den Franken, deren Anblick ein
Verehrer der Religion kaum erträgt, weil sie in jeder Handlung, in jedem
Worte fast ihre heiligsten Gesetze mit Füßen treten. Die frivole Gleichgültigkeit,
mit der Millionen des Volks, der witzige Leichtsinn, mit dem einzelne glänzende
Geister der erhabensten Tat des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren
Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens be¬
stimmt, beweist zur Genüge, wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer
wahren Anbetung fähig sind. . . Hier im väterlichen Lande ist das beglückte
Klima, was keine Frucht gänzlich versagt, hier findet ihr alles zerstreut, was
die Menschheit ziert, und alles, was gedeiht, bildet sich irgendwo, im einzelnen
wenigstens, zu seiner schönsten Gestalt, hier fehlt es weder an weiser Mäßigung,
noch an stiller Betrachtung. Hier muß sie (die Religion) also eine Freistatt
finden vor der plumpen Barbarei und dem kalten irdischen Sinn des Zeitalters."

Welch scharfe, treffende Charakteristik der Nationen, wie aus den neuesten
Erfahrungen unserer Zeit heraus geboren, enthalten diese Worte Schleiermachers
in seinen "Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern"
aus dem Jahre 1799; welche freudige, männliche Vaterlandsliebe klingt aus
ihnen! Er gehört zu den Propheten, die in jenen trüben, dunklen Tagen
unseres Vaterlandes den Stern der Freiheit sahen. Sein Bild als eines der
wirkungsvollsten Patrioten aus der Zeit der FreiheitslÄnipfe, dessen Andenken
wir noch heute Dank schuldig sind, wollen wir vor unserem Auge erstehen lassen.




Schleiermacher als Patriot
von Uonsistorialrat Professor Dr. Simon

me stolzen Insulaner, welche viele unter euch so ungebührlich ver¬
ehren, kennen keine andere Losung, als gewinnen und genießen,
ihr Eifer für die Wissenschaften, für die Freiheit des Lebens und
für die heilige Freiheit ist nur ein leeres Spielgefecht. So wie
die begeisterten Verfechter der letzteren unter ihnen nichts tun,
als die nationale Orthodoxie mit Wut verteidigen und dem Volke Wunder vor¬
spiegeln, damit die abergläubische Anhänglichkeit an alte Gebräuche nicht ver¬
loren gehe, so ist es ihnen eben nicht mehr ernst mit allem übrigen, was über
das Sinnliche und den nächsten unmittelbaren Nutzen hinausgeht. So gehen
sie auf Kenntnisse aus, so ist ihre Weisheit nur auf eine jämmerliche Empirie
gerichtet, und so kann ihnen die Religion nichts anderes sein, als ein toter
Buchstabe, ein heiliger Artikel in der Verfassung, in welcher nichts Reelles ist...
Aus anderen Ursachen wende ich mich weg von den Franken, deren Anblick ein
Verehrer der Religion kaum erträgt, weil sie in jeder Handlung, in jedem
Worte fast ihre heiligsten Gesetze mit Füßen treten. Die frivole Gleichgültigkeit,
mit der Millionen des Volks, der witzige Leichtsinn, mit dem einzelne glänzende
Geister der erhabensten Tat des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren
Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens be¬
stimmt, beweist zur Genüge, wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer
wahren Anbetung fähig sind. . . Hier im väterlichen Lande ist das beglückte
Klima, was keine Frucht gänzlich versagt, hier findet ihr alles zerstreut, was
die Menschheit ziert, und alles, was gedeiht, bildet sich irgendwo, im einzelnen
wenigstens, zu seiner schönsten Gestalt, hier fehlt es weder an weiser Mäßigung,
noch an stiller Betrachtung. Hier muß sie (die Religion) also eine Freistatt
finden vor der plumpen Barbarei und dem kalten irdischen Sinn des Zeitalters."

Welch scharfe, treffende Charakteristik der Nationen, wie aus den neuesten
Erfahrungen unserer Zeit heraus geboren, enthalten diese Worte Schleiermachers
in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern"
aus dem Jahre 1799; welche freudige, männliche Vaterlandsliebe klingt aus
ihnen! Er gehört zu den Propheten, die in jenen trüben, dunklen Tagen
unseres Vaterlandes den Stern der Freiheit sahen. Sein Bild als eines der
wirkungsvollsten Patrioten aus der Zeit der FreiheitslÄnipfe, dessen Andenken
wir noch heute Dank schuldig sind, wollen wir vor unserem Auge erstehen lassen.


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[0322] [Abbildung] Schleiermacher als Patriot von Uonsistorialrat Professor Dr. Simon me stolzen Insulaner, welche viele unter euch so ungebührlich ver¬ ehren, kennen keine andere Losung, als gewinnen und genießen, ihr Eifer für die Wissenschaften, für die Freiheit des Lebens und für die heilige Freiheit ist nur ein leeres Spielgefecht. So wie die begeisterten Verfechter der letzteren unter ihnen nichts tun, als die nationale Orthodoxie mit Wut verteidigen und dem Volke Wunder vor¬ spiegeln, damit die abergläubische Anhänglichkeit an alte Gebräuche nicht ver¬ loren gehe, so ist es ihnen eben nicht mehr ernst mit allem übrigen, was über das Sinnliche und den nächsten unmittelbaren Nutzen hinausgeht. So gehen sie auf Kenntnisse aus, so ist ihre Weisheit nur auf eine jämmerliche Empirie gerichtet, und so kann ihnen die Religion nichts anderes sein, als ein toter Buchstabe, ein heiliger Artikel in der Verfassung, in welcher nichts Reelles ist... Aus anderen Ursachen wende ich mich weg von den Franken, deren Anblick ein Verehrer der Religion kaum erträgt, weil sie in jeder Handlung, in jedem Worte fast ihre heiligsten Gesetze mit Füßen treten. Die frivole Gleichgültigkeit, mit der Millionen des Volks, der witzige Leichtsinn, mit dem einzelne glänzende Geister der erhabensten Tat des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens be¬ stimmt, beweist zur Genüge, wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer wahren Anbetung fähig sind. . . Hier im väterlichen Lande ist das beglückte Klima, was keine Frucht gänzlich versagt, hier findet ihr alles zerstreut, was die Menschheit ziert, und alles, was gedeiht, bildet sich irgendwo, im einzelnen wenigstens, zu seiner schönsten Gestalt, hier fehlt es weder an weiser Mäßigung, noch an stiller Betrachtung. Hier muß sie (die Religion) also eine Freistatt finden vor der plumpen Barbarei und dem kalten irdischen Sinn des Zeitalters." Welch scharfe, treffende Charakteristik der Nationen, wie aus den neuesten Erfahrungen unserer Zeit heraus geboren, enthalten diese Worte Schleiermachers in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" aus dem Jahre 1799; welche freudige, männliche Vaterlandsliebe klingt aus ihnen! Er gehört zu den Propheten, die in jenen trüben, dunklen Tagen unseres Vaterlandes den Stern der Freiheit sahen. Sein Bild als eines der wirkungsvollsten Patrioten aus der Zeit der FreiheitslÄnipfe, dessen Andenken wir noch heute Dank schuldig sind, wollen wir vor unserem Auge erstehen lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/322>, abgerufen am 30.04.2024.