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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Volksmärchen der Bulgaren
von Professor Dr. Robert petsch

urch den Gang der politischen Ereignisse ist auf einmal ein
Volk an unsere Seite gedrängt worden, dessen staatliche Entwick¬
lung uns in den letzten Jahrzehnten gelegentlich beschäftigte, dessen
heldenhafte Kämpfe im Balkankriege tiefen Eindruck auf uns
gemacht haben, von dessen geistiger Art wir aber doch recht wenig
wissen. Hoffentlich bleibt dieser Zustand nicht bestehen, denn abgesehen von
unserer Waffenbrüderschaft, die sich in diesen Tagen so herrlich bewährt hat,
schulden wir dem jngendstarken Volke, das in den letzten Jahren in guten
und bösen Tagen kraftvoll emporstieg, unsere menschliche Teilnahme. So hören
wir denn gern auf jeden, der uns von der geistigen Kultur der Bulgaren und
von ihren volkstümlichen Grundlagen berichtet, und wir begrüßen es mit
doppelter Freude, wenn ein so ausgezeichneter Kenner slavischer Sprache und
slavischen Volkstums, wie August Leskien, uns in seiner Sammlung "Balkan¬
märchen" *) echte bulgarische Volkserzählungen in treuer und schlichter Sprache
wiedergibt. Sie entstammen zum guten Teil einem hervorragenden Sammel¬
werk des bulgarischen Ministeriums der Volksaufklärung **), das bei uns so
unbekannt geblieben ist, wie die bulgarische Sprache; und so werden sie hier
der deutschen Lesewelt zum ersten Male unterbreitet.

Freilich, wer nun alle von Leskien mitgeteilten Märchen aus Bulgarien,
21 an der Zahl, für Erfindungen des bulgarischen Volkes halten und aus den
Stoffen und einzelnen Zügen gleich auf dessen Charakter schließen wollte, würde
sich arg verrechnen. So gut wie unsere deutschen, wie die nordischen, russischen,
orientalischen und andere Märchen, die das schöne Sammelwerk des Dieoerichsschen
Verlages nun den weiteren Kreisen zugänglich macht, so gehören auch die
bulgarischen zum allergrößten Teil dem allgemeinen Erzählungsschatze an, zu
dem die verschiedensten Völker des Morgen- und Abendlandes beigesteuert
haben. In steter Bewegung wandern die Märchen durch Krieg und Handel,
durch Sklaven- und Franenraub, durch Schiffahrt und Landreisen von Ort zu




') Jena, E. Diederichs 1915. (Aus den "Märchen der Weltliteratur"). Mit Buch,
schmuck von Ehmke.
**) SborniK ?Ä naroclni umotvoreniza, nguka i Kri?ma.


Volksmärchen der Bulgaren
von Professor Dr. Robert petsch

urch den Gang der politischen Ereignisse ist auf einmal ein
Volk an unsere Seite gedrängt worden, dessen staatliche Entwick¬
lung uns in den letzten Jahrzehnten gelegentlich beschäftigte, dessen
heldenhafte Kämpfe im Balkankriege tiefen Eindruck auf uns
gemacht haben, von dessen geistiger Art wir aber doch recht wenig
wissen. Hoffentlich bleibt dieser Zustand nicht bestehen, denn abgesehen von
unserer Waffenbrüderschaft, die sich in diesen Tagen so herrlich bewährt hat,
schulden wir dem jngendstarken Volke, das in den letzten Jahren in guten
und bösen Tagen kraftvoll emporstieg, unsere menschliche Teilnahme. So hören
wir denn gern auf jeden, der uns von der geistigen Kultur der Bulgaren und
von ihren volkstümlichen Grundlagen berichtet, und wir begrüßen es mit
doppelter Freude, wenn ein so ausgezeichneter Kenner slavischer Sprache und
slavischen Volkstums, wie August Leskien, uns in seiner Sammlung „Balkan¬
märchen" *) echte bulgarische Volkserzählungen in treuer und schlichter Sprache
wiedergibt. Sie entstammen zum guten Teil einem hervorragenden Sammel¬
werk des bulgarischen Ministeriums der Volksaufklärung **), das bei uns so
unbekannt geblieben ist, wie die bulgarische Sprache; und so werden sie hier
der deutschen Lesewelt zum ersten Male unterbreitet.

Freilich, wer nun alle von Leskien mitgeteilten Märchen aus Bulgarien,
21 an der Zahl, für Erfindungen des bulgarischen Volkes halten und aus den
Stoffen und einzelnen Zügen gleich auf dessen Charakter schließen wollte, würde
sich arg verrechnen. So gut wie unsere deutschen, wie die nordischen, russischen,
orientalischen und andere Märchen, die das schöne Sammelwerk des Dieoerichsschen
Verlages nun den weiteren Kreisen zugänglich macht, so gehören auch die
bulgarischen zum allergrößten Teil dem allgemeinen Erzählungsschatze an, zu
dem die verschiedensten Völker des Morgen- und Abendlandes beigesteuert
haben. In steter Bewegung wandern die Märchen durch Krieg und Handel,
durch Sklaven- und Franenraub, durch Schiffahrt und Landreisen von Ort zu




') Jena, E. Diederichs 1915. (Aus den „Märchen der Weltliteratur"). Mit Buch,
schmuck von Ehmke.
**) SborniK ?Ä naroclni umotvoreniza, nguka i Kri?ma.
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[0040] [Abbildung] Volksmärchen der Bulgaren von Professor Dr. Robert petsch urch den Gang der politischen Ereignisse ist auf einmal ein Volk an unsere Seite gedrängt worden, dessen staatliche Entwick¬ lung uns in den letzten Jahrzehnten gelegentlich beschäftigte, dessen heldenhafte Kämpfe im Balkankriege tiefen Eindruck auf uns gemacht haben, von dessen geistiger Art wir aber doch recht wenig wissen. Hoffentlich bleibt dieser Zustand nicht bestehen, denn abgesehen von unserer Waffenbrüderschaft, die sich in diesen Tagen so herrlich bewährt hat, schulden wir dem jngendstarken Volke, das in den letzten Jahren in guten und bösen Tagen kraftvoll emporstieg, unsere menschliche Teilnahme. So hören wir denn gern auf jeden, der uns von der geistigen Kultur der Bulgaren und von ihren volkstümlichen Grundlagen berichtet, und wir begrüßen es mit doppelter Freude, wenn ein so ausgezeichneter Kenner slavischer Sprache und slavischen Volkstums, wie August Leskien, uns in seiner Sammlung „Balkan¬ märchen" *) echte bulgarische Volkserzählungen in treuer und schlichter Sprache wiedergibt. Sie entstammen zum guten Teil einem hervorragenden Sammel¬ werk des bulgarischen Ministeriums der Volksaufklärung **), das bei uns so unbekannt geblieben ist, wie die bulgarische Sprache; und so werden sie hier der deutschen Lesewelt zum ersten Male unterbreitet. Freilich, wer nun alle von Leskien mitgeteilten Märchen aus Bulgarien, 21 an der Zahl, für Erfindungen des bulgarischen Volkes halten und aus den Stoffen und einzelnen Zügen gleich auf dessen Charakter schließen wollte, würde sich arg verrechnen. So gut wie unsere deutschen, wie die nordischen, russischen, orientalischen und andere Märchen, die das schöne Sammelwerk des Dieoerichsschen Verlages nun den weiteren Kreisen zugänglich macht, so gehören auch die bulgarischen zum allergrößten Teil dem allgemeinen Erzählungsschatze an, zu dem die verschiedensten Völker des Morgen- und Abendlandes beigesteuert haben. In steter Bewegung wandern die Märchen durch Krieg und Handel, durch Sklaven- und Franenraub, durch Schiffahrt und Landreisen von Ort zu ') Jena, E. Diederichs 1915. (Aus den „Märchen der Weltliteratur"). Mit Buch, schmuck von Ehmke. **) SborniK ?Ä naroclni umotvoreniza, nguka i Kri?ma.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/40>, abgerufen am 30.04.2024.