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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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größten Teil bei. Sechs Monate war ich
draußen an der Front in Rußland: nun fällt
mir in der Ruhe der Heimat Kellermanns
Büchlein in die Hand, und ich fühle mich beim
Lesen dieser knappen, klaren, packenden Be¬
richte, die wie peinlich ausgeführte Federzeich¬
nungen wirken, wieder angeweht vom freien
Atem und frischen Hauch, der dort draußen
über den Schlachtfeldern hinzieht, von jener
unvergeßlichen Kampfluft und jenem hin¬
reißenden Gewitterwind, der dort den ganzen
Menschen anpackt, aufrüttelt und umkrempelt.

In der Tat, Kellermann weiß eine Vor¬
stellung vom Grauenvollen und Erhebenden,
schlichten und Großen des Schützengrciven-
krieges zu vermitteln. Oft schon ward die Kano¬
nade bei Upern, bei Arras so wie von Keller¬
mann gesehen (s. 13, S. 29), aber gewiß
noch nie so in Worte gefaßt, so klar und
sicher gestaltet. Wer noch nie eine Granate
die Luft durchschneiden hörte, wer noch nie
den wilden Lärm hämmernden Trommel¬
feuers erlebte, wer noch nie ini Tiefsten
erschüttert ward durch das Entsetzen, das dort
draußen stündlich den Menschen durchschauert,
und wer noch nie die hohen Reinheiten der
Freuden an der Front genoß, -- durch Keller¬
mann kann er alle sachlichen und seelischen
Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Krieges
an sich erfahren.

Freilich, auch seinen mit höchster Inten¬
sität der Schau- und Nervenkräfte geschaffenen
Bildern von der Front in Frankreich fehlt
jene innere vibrierende Energie, die im
Kämpfer lebt. Wer nie im Feuer stand, die
Büchse an die Schulter riß, um den an¬
dringenden Gegner niederzuknallen, wer nie
die Wut höchsten Artilleriefeuers stundenlang
bis zum Reißen der Nerven mit letzter An¬
spannung ertrug und alles Leid sammelte
zum großen Zorn der Rache im Augenblick
des Sturmes auf die Feinde, des Flinten-
geknatters gegen den Angreifer, wer nicht
Mitkämpfer war in höchster Not, sondern
nur besuchsweise den Frontkrieg sah, der
kann nie in seinen Worten jenes innere
Leben aufzittern lassen, das doch den einzig¬
artigen seelischen Anteil am Kriege, das
eigentliche menschliche Kriegerleben bildet.
Aber wir wollen nicht nörgeln, wir wollen

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dankbar sein, daß wir Kriegsberichte von
der Qualität, wie die Kellermanns, erhalten.

Hanns Martin Elster.
Literaturgeschichte

Philipp Wittop: Heidelberg und die
deutsche Dichtung. (Leipzig 1916, bei
B. G. Teubner.) Der Platz ist beschränkt,
ich muß mich kurz fassen. Es ist auch nicht
nötig, über dieses gute und besinnliche Buch
eine ausführliche Besprechung vom Stapel
zu lassen. -- Der Titel erklärt Absicht und
Wesen des Werkes hinlänglich, so daß eine
allgemeine Übersicht zur Empfehlung aus¬
reichen dürste.

Witkop setzt bei den Beziehungen der
Humanisten zu Heidelberg ein. Mit Paul
Schede Melissus werden uns die ersten
deutschen Verse gegeben; ihn vollenden Martin
OPitz und Julius Wilhelm Zincgref. Über
den sogenannten Sturm und Drang und
den weichen, mondscheintrunkenen Matthisson
werden wir zu Goethe geführt. In Heidel¬
berg war es, wo den schon Zweifelnden der
Wagen nach Weimars Fürstenhof entführte,
und der greise Dichter erlebte in den "weiten
lichtumflossenen Räumen" des "alten, reich¬
bekränzten Fürstenhaus" jene zarte, ergebungs¬
volle und entsagende Liebe zu Marianne
Willemer. Dann stürmen die Romantiker
an uns vorüber, stets zu neuen Plänen be¬
reit, in deutscher Vergangenheit schwelgend.
Brentano, Arnim, Görres kämpften hier gegen
den alten vertrockneten Johann Heinrich Votz.
Eichendorff lauschte in den Ruinen dem
Sänge der Nachtigall und träumte von der
"alten schönen Zeit", zusammen mit seinem
Jugendfreunde, dem verschwommenen Dichter
Graf von Soeben, genannt Isidorus Orien¬
talis. Schenkendorf und Jean Paul genossen
hier glückliche, unvergessene Tage; der un-
stäte, düstere Lenau fand beim Studium
kurze Rast und Ruhe und besang das Stutt¬
garter "Schilflottchen". Der schwerblütige
Hebbel erfuhr hier die ersten unmittelbaren
Natureindrücke, die seine Dichtung freier ge¬
stalteten; Gottfried Keller fand sich durch
Feuerbachs Philosophie in sich selbst zurück

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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größten Teil bei. Sechs Monate war ich
draußen an der Front in Rußland: nun fällt
mir in der Ruhe der Heimat Kellermanns
Büchlein in die Hand, und ich fühle mich beim
Lesen dieser knappen, klaren, packenden Be¬
richte, die wie peinlich ausgeführte Federzeich¬
nungen wirken, wieder angeweht vom freien
Atem und frischen Hauch, der dort draußen
über den Schlachtfeldern hinzieht, von jener
unvergeßlichen Kampfluft und jenem hin¬
reißenden Gewitterwind, der dort den ganzen
Menschen anpackt, aufrüttelt und umkrempelt.

In der Tat, Kellermann weiß eine Vor¬
stellung vom Grauenvollen und Erhebenden,
schlichten und Großen des Schützengrciven-
krieges zu vermitteln. Oft schon ward die Kano¬
nade bei Upern, bei Arras so wie von Keller¬
mann gesehen (s. 13, S. 29), aber gewiß
noch nie so in Worte gefaßt, so klar und
sicher gestaltet. Wer noch nie eine Granate
die Luft durchschneiden hörte, wer noch nie
den wilden Lärm hämmernden Trommel¬
feuers erlebte, wer noch nie ini Tiefsten
erschüttert ward durch das Entsetzen, das dort
draußen stündlich den Menschen durchschauert,
und wer noch nie die hohen Reinheiten der
Freuden an der Front genoß, — durch Keller¬
mann kann er alle sachlichen und seelischen
Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Krieges
an sich erfahren.

Freilich, auch seinen mit höchster Inten¬
sität der Schau- und Nervenkräfte geschaffenen
Bildern von der Front in Frankreich fehlt
jene innere vibrierende Energie, die im
Kämpfer lebt. Wer nie im Feuer stand, die
Büchse an die Schulter riß, um den an¬
dringenden Gegner niederzuknallen, wer nie
die Wut höchsten Artilleriefeuers stundenlang
bis zum Reißen der Nerven mit letzter An¬
spannung ertrug und alles Leid sammelte
zum großen Zorn der Rache im Augenblick
des Sturmes auf die Feinde, des Flinten-
geknatters gegen den Angreifer, wer nicht
Mitkämpfer war in höchster Not, sondern
nur besuchsweise den Frontkrieg sah, der
kann nie in seinen Worten jenes innere
Leben aufzittern lassen, das doch den einzig¬
artigen seelischen Anteil am Kriege, das
eigentliche menschliche Kriegerleben bildet.
Aber wir wollen nicht nörgeln, wir wollen

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dankbar sein, daß wir Kriegsberichte von
der Qualität, wie die Kellermanns, erhalten.

Hanns Martin Elster.
Literaturgeschichte

Philipp Wittop: Heidelberg und die
deutsche Dichtung. (Leipzig 1916, bei
B. G. Teubner.) Der Platz ist beschränkt,
ich muß mich kurz fassen. Es ist auch nicht
nötig, über dieses gute und besinnliche Buch
eine ausführliche Besprechung vom Stapel
zu lassen. — Der Titel erklärt Absicht und
Wesen des Werkes hinlänglich, so daß eine
allgemeine Übersicht zur Empfehlung aus¬
reichen dürste.

Witkop setzt bei den Beziehungen der
Humanisten zu Heidelberg ein. Mit Paul
Schede Melissus werden uns die ersten
deutschen Verse gegeben; ihn vollenden Martin
OPitz und Julius Wilhelm Zincgref. Über
den sogenannten Sturm und Drang und
den weichen, mondscheintrunkenen Matthisson
werden wir zu Goethe geführt. In Heidel¬
berg war es, wo den schon Zweifelnden der
Wagen nach Weimars Fürstenhof entführte,
und der greise Dichter erlebte in den „weiten
lichtumflossenen Räumen" des „alten, reich¬
bekränzten Fürstenhaus" jene zarte, ergebungs¬
volle und entsagende Liebe zu Marianne
Willemer. Dann stürmen die Romantiker
an uns vorüber, stets zu neuen Plänen be¬
reit, in deutscher Vergangenheit schwelgend.
Brentano, Arnim, Görres kämpften hier gegen
den alten vertrockneten Johann Heinrich Votz.
Eichendorff lauschte in den Ruinen dem
Sänge der Nachtigall und träumte von der
„alten schönen Zeit", zusammen mit seinem
Jugendfreunde, dem verschwommenen Dichter
Graf von Soeben, genannt Isidorus Orien¬
talis. Schenkendorf und Jean Paul genossen
hier glückliche, unvergessene Tage; der un-
stäte, düstere Lenau fand beim Studium
kurze Rast und Ruhe und besang das Stutt¬
garter „Schilflottchen". Der schwerblütige
Hebbel erfuhr hier die ersten unmittelbaren
Natureindrücke, die seine Dichtung freier ge¬
stalteten; Gottfried Keller fand sich durch
Feuerbachs Philosophie in sich selbst zurück

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[0075] Maßgebliches und Unmaßgebliches größten Teil bei. Sechs Monate war ich draußen an der Front in Rußland: nun fällt mir in der Ruhe der Heimat Kellermanns Büchlein in die Hand, und ich fühle mich beim Lesen dieser knappen, klaren, packenden Be¬ richte, die wie peinlich ausgeführte Federzeich¬ nungen wirken, wieder angeweht vom freien Atem und frischen Hauch, der dort draußen über den Schlachtfeldern hinzieht, von jener unvergeßlichen Kampfluft und jenem hin¬ reißenden Gewitterwind, der dort den ganzen Menschen anpackt, aufrüttelt und umkrempelt. In der Tat, Kellermann weiß eine Vor¬ stellung vom Grauenvollen und Erhebenden, schlichten und Großen des Schützengrciven- krieges zu vermitteln. Oft schon ward die Kano¬ nade bei Upern, bei Arras so wie von Keller¬ mann gesehen (s. 13, S. 29), aber gewiß noch nie so in Worte gefaßt, so klar und sicher gestaltet. Wer noch nie eine Granate die Luft durchschneiden hörte, wer noch nie den wilden Lärm hämmernden Trommel¬ feuers erlebte, wer noch nie ini Tiefsten erschüttert ward durch das Entsetzen, das dort draußen stündlich den Menschen durchschauert, und wer noch nie die hohen Reinheiten der Freuden an der Front genoß, — durch Keller¬ mann kann er alle sachlichen und seelischen Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Krieges an sich erfahren. Freilich, auch seinen mit höchster Inten¬ sität der Schau- und Nervenkräfte geschaffenen Bildern von der Front in Frankreich fehlt jene innere vibrierende Energie, die im Kämpfer lebt. Wer nie im Feuer stand, die Büchse an die Schulter riß, um den an¬ dringenden Gegner niederzuknallen, wer nie die Wut höchsten Artilleriefeuers stundenlang bis zum Reißen der Nerven mit letzter An¬ spannung ertrug und alles Leid sammelte zum großen Zorn der Rache im Augenblick des Sturmes auf die Feinde, des Flinten- geknatters gegen den Angreifer, wer nicht Mitkämpfer war in höchster Not, sondern nur besuchsweise den Frontkrieg sah, der kann nie in seinen Worten jenes innere Leben aufzittern lassen, das doch den einzig¬ artigen seelischen Anteil am Kriege, das eigentliche menschliche Kriegerleben bildet. Aber wir wollen nicht nörgeln, wir wollen dankbar sein, daß wir Kriegsberichte von der Qualität, wie die Kellermanns, erhalten. Hanns Martin Elster. Literaturgeschichte Philipp Wittop: Heidelberg und die deutsche Dichtung. (Leipzig 1916, bei B. G. Teubner.) Der Platz ist beschränkt, ich muß mich kurz fassen. Es ist auch nicht nötig, über dieses gute und besinnliche Buch eine ausführliche Besprechung vom Stapel zu lassen. — Der Titel erklärt Absicht und Wesen des Werkes hinlänglich, so daß eine allgemeine Übersicht zur Empfehlung aus¬ reichen dürste. Witkop setzt bei den Beziehungen der Humanisten zu Heidelberg ein. Mit Paul Schede Melissus werden uns die ersten deutschen Verse gegeben; ihn vollenden Martin OPitz und Julius Wilhelm Zincgref. Über den sogenannten Sturm und Drang und den weichen, mondscheintrunkenen Matthisson werden wir zu Goethe geführt. In Heidel¬ berg war es, wo den schon Zweifelnden der Wagen nach Weimars Fürstenhof entführte, und der greise Dichter erlebte in den „weiten lichtumflossenen Räumen" des „alten, reich¬ bekränzten Fürstenhaus" jene zarte, ergebungs¬ volle und entsagende Liebe zu Marianne Willemer. Dann stürmen die Romantiker an uns vorüber, stets zu neuen Plänen be¬ reit, in deutscher Vergangenheit schwelgend. Brentano, Arnim, Görres kämpften hier gegen den alten vertrockneten Johann Heinrich Votz. Eichendorff lauschte in den Ruinen dem Sänge der Nachtigall und träumte von der „alten schönen Zeit", zusammen mit seinem Jugendfreunde, dem verschwommenen Dichter Graf von Soeben, genannt Isidorus Orien¬ talis. Schenkendorf und Jean Paul genossen hier glückliche, unvergessene Tage; der un- stäte, düstere Lenau fand beim Studium kurze Rast und Ruhe und besang das Stutt¬ garter „Schilflottchen". Der schwerblütige Hebbel erfuhr hier die ersten unmittelbaren Natureindrücke, die seine Dichtung freier ge¬ stalteten; Gottfried Keller fand sich durch Feuerbachs Philosophie in sich selbst zurück

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/75>, abgerufen am 30.04.2024.