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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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N)ir und die Chinesen

der beharrlichen Staatskunst eines Bismarck und der kongenialen Mitarbeiterschaft
eines Andrassy ist es gelungen, aus dem kühlen Frieden allmählich ein Ein¬
vernehmen und aus dem Einvernehmen eine Defensivallianz zu schaffen. Und
aus dieser wurde ein weit das Maß alles international Gewöhnten überragender
Freundschaftsbund. Seine Früchte reifen täglich und stündlich. Für solche Politik
aber wurde der Weg im Sommer 1866 zu Nikolsburg und Prag frei gemacht.

Und das ist der letzte Sinn dieser Halbjahrhundert-Erinnerung.




Wir und die Chinesen
v Generalsekretär Dr. Max Linde on

le neueren Beziehungen zwischen China und den westeuropäisch¬
amerikanischen Staaten haben von Beginn an, also ungefähr seit
dem Anfang der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts,
unter einem unglücklichen Sterne gestanden. Irrungen und
Wirrungen haben sie beherrscht, die entstanden waren und ent¬
stehen mußten aus der vollständigen Unkenntnis, in der sich jeder Teil bezüglich
der Staats- und Weltanschauung des andern befand.

Was wußte der Westen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vom
alten China, seiner großen Geschichte, seiner Machtentfaltung in früherer Zeit,
seiner religiös-ethischen Staatsidee, seiner uralten Kultur, seinem reichen Geistes¬
leben? Nichts. Zwar trafen Westen und Osten damals ja nicht zum ersten
Male zusammen, denn schon Jahrhunderte früher waren die Kaufleute und
Gesandten der führenden westlichen Staaten nach China gekommen, hatte ein
Marco Polo, der größte Chinakenner am Ausgang des dreizehnten Jahrhunderts,
seine Reisen durch das weite Reich gemacht, waren katholische Misstonare drüben
erfolgreich tätig gewesen. Aber was sie uns überliefert hatten, war in den
Archiven und Büchereien vergraben, war das geistige Eigentum einer ganz
geringen Zahl von Gelehrten. Die europäischen Regierungen und ihre Diplomaten
und Admiräle, die europäischen Kaufleute und Schiffseigentümer hatten von
Wna kaum eine andere Vorstellung als die eines großen dichtbevölkerten
Landes, das aus teuflischer Bosheit oder verblendeter Torheit sich abschloß,
keine diplomatischen Beziehungen anknüpfen, keine kaufmännischen Geschäfte mit
Ausländern machen, keine Fremden seine Grenzen überschreiten lassen wollte.

Und was wußte auf der anderen Seite China vom Westen, seiner politischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung, seiner Weltanschauung, seinen Zielen
und Absichten, seinem Willen und Wollen? Ebenfalls nichts. Den katholischen


N)ir und die Chinesen

der beharrlichen Staatskunst eines Bismarck und der kongenialen Mitarbeiterschaft
eines Andrassy ist es gelungen, aus dem kühlen Frieden allmählich ein Ein¬
vernehmen und aus dem Einvernehmen eine Defensivallianz zu schaffen. Und
aus dieser wurde ein weit das Maß alles international Gewöhnten überragender
Freundschaftsbund. Seine Früchte reifen täglich und stündlich. Für solche Politik
aber wurde der Weg im Sommer 1866 zu Nikolsburg und Prag frei gemacht.

Und das ist der letzte Sinn dieser Halbjahrhundert-Erinnerung.




Wir und die Chinesen
v Generalsekretär Dr. Max Linde on

le neueren Beziehungen zwischen China und den westeuropäisch¬
amerikanischen Staaten haben von Beginn an, also ungefähr seit
dem Anfang der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts,
unter einem unglücklichen Sterne gestanden. Irrungen und
Wirrungen haben sie beherrscht, die entstanden waren und ent¬
stehen mußten aus der vollständigen Unkenntnis, in der sich jeder Teil bezüglich
der Staats- und Weltanschauung des andern befand.

Was wußte der Westen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vom
alten China, seiner großen Geschichte, seiner Machtentfaltung in früherer Zeit,
seiner religiös-ethischen Staatsidee, seiner uralten Kultur, seinem reichen Geistes¬
leben? Nichts. Zwar trafen Westen und Osten damals ja nicht zum ersten
Male zusammen, denn schon Jahrhunderte früher waren die Kaufleute und
Gesandten der führenden westlichen Staaten nach China gekommen, hatte ein
Marco Polo, der größte Chinakenner am Ausgang des dreizehnten Jahrhunderts,
seine Reisen durch das weite Reich gemacht, waren katholische Misstonare drüben
erfolgreich tätig gewesen. Aber was sie uns überliefert hatten, war in den
Archiven und Büchereien vergraben, war das geistige Eigentum einer ganz
geringen Zahl von Gelehrten. Die europäischen Regierungen und ihre Diplomaten
und Admiräle, die europäischen Kaufleute und Schiffseigentümer hatten von
Wna kaum eine andere Vorstellung als die eines großen dichtbevölkerten
Landes, das aus teuflischer Bosheit oder verblendeter Torheit sich abschloß,
keine diplomatischen Beziehungen anknüpfen, keine kaufmännischen Geschäfte mit
Ausländern machen, keine Fremden seine Grenzen überschreiten lassen wollte.

Und was wußte auf der anderen Seite China vom Westen, seiner politischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung, seiner Weltanschauung, seinen Zielen
und Absichten, seinem Willen und Wollen? Ebenfalls nichts. Den katholischen


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[0259] N)ir und die Chinesen der beharrlichen Staatskunst eines Bismarck und der kongenialen Mitarbeiterschaft eines Andrassy ist es gelungen, aus dem kühlen Frieden allmählich ein Ein¬ vernehmen und aus dem Einvernehmen eine Defensivallianz zu schaffen. Und aus dieser wurde ein weit das Maß alles international Gewöhnten überragender Freundschaftsbund. Seine Früchte reifen täglich und stündlich. Für solche Politik aber wurde der Weg im Sommer 1866 zu Nikolsburg und Prag frei gemacht. Und das ist der letzte Sinn dieser Halbjahrhundert-Erinnerung. Wir und die Chinesen v Generalsekretär Dr. Max Linde on le neueren Beziehungen zwischen China und den westeuropäisch¬ amerikanischen Staaten haben von Beginn an, also ungefähr seit dem Anfang der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, unter einem unglücklichen Sterne gestanden. Irrungen und Wirrungen haben sie beherrscht, die entstanden waren und ent¬ stehen mußten aus der vollständigen Unkenntnis, in der sich jeder Teil bezüglich der Staats- und Weltanschauung des andern befand. Was wußte der Westen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vom alten China, seiner großen Geschichte, seiner Machtentfaltung in früherer Zeit, seiner religiös-ethischen Staatsidee, seiner uralten Kultur, seinem reichen Geistes¬ leben? Nichts. Zwar trafen Westen und Osten damals ja nicht zum ersten Male zusammen, denn schon Jahrhunderte früher waren die Kaufleute und Gesandten der führenden westlichen Staaten nach China gekommen, hatte ein Marco Polo, der größte Chinakenner am Ausgang des dreizehnten Jahrhunderts, seine Reisen durch das weite Reich gemacht, waren katholische Misstonare drüben erfolgreich tätig gewesen. Aber was sie uns überliefert hatten, war in den Archiven und Büchereien vergraben, war das geistige Eigentum einer ganz geringen Zahl von Gelehrten. Die europäischen Regierungen und ihre Diplomaten und Admiräle, die europäischen Kaufleute und Schiffseigentümer hatten von Wna kaum eine andere Vorstellung als die eines großen dichtbevölkerten Landes, das aus teuflischer Bosheit oder verblendeter Torheit sich abschloß, keine diplomatischen Beziehungen anknüpfen, keine kaufmännischen Geschäfte mit Ausländern machen, keine Fremden seine Grenzen überschreiten lassen wollte. Und was wußte auf der anderen Seite China vom Westen, seiner politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung, seiner Weltanschauung, seinen Zielen und Absichten, seinem Willen und Wollen? Ebenfalls nichts. Den katholischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/259>, abgerufen am 05.05.2024.