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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?
Gorki und Mereschkorvski über die russische Zukunft

isher hat uns die russische Kriegs-Publizistik wenig neues und tief-
grabendes über das Thema von der Zukunft Rußlands gebracht,
über das Problem, das uns Deutsche nächst unserer eigenen Ent¬
wicklung wohl am meisten angeht. Wir bringen heute unseren
Lesern die Übersetzung eines Aufsatzes von Mereschkowski. der
sowohl durch die Schönheit der Form wie die Tiefe der Gedanken allseitige
Beachtung verdient.

Zu seinem Verständnis schicken wir folgende Bemerkungen voraus.
Wir alle erinnern uns des Krieges von 1877/78 mit seinem tiefen
religiösen Aufschwung, seinen echtrussischen philosophischen Theorien. Damals
wurde die Mission Rußlands, die große Mission des völkerbefteienden und der
Welt das letzte Wort der harmonischen Weisheit bringenden Nußland gepredigt.

In der einseitig russischsten Weise kam die Missionsidee bei den Slawo-
philen zur Ausgestaltung, der Osten sollte den verrotteten Westen ablösen und
die Welt erlösen. Dostojewski näherte sich in seiner ersten Periode diesen
Ideen außerordentlich. Sie haben in Rußland seit dieser Zeit den Stimmungs¬
hintergrund für das gebildet, was wir Nationalismus nennen (die ganze
flawophile Idee ist schließlich, mit westeuropäischen Augen betrachtet, weiter
nichts als ein philosophisch-idealistischer Deckmantel für den Erobererzug Ru߬
lands, der es zum Balkan, gegen Österreich und die Türkei hin getrieben hat
und noch treibt) -- später hat Dostojewski seine ursprüngliche Idee mehr, wie
das auch Solowjow getan hat, ins allgemein menschliche, allgemein christliche
umgebogen; -- auch Tschaadajew bewegte sich in ähnlicher Richtung.

Allen diesen Denkern ist eins gemein -- die nahe Berührung ihrer Ideen
mit der Religion. Man darf wohl sagen, daß in keinem anderen Volke auch
bei dem politischen Denken die Religion so sehr im Vordergrunde steht wie
beim russischen. Alles durchtränkt sie, sie ist Ausgangspunkt und Wegweiser.

Wie sehr sie es für Dostojewski war, ist uns allen aus seinen drei großen
Werken, dem "Idiot", den "Brüdern Karamasow" und den "Dämonen"
bekannt. Fürst Myschkin im Idiot und Schadow in den Dämonen sagen es
in gleicher Weise: "Es ist nötig, daß als Reaktion gegen den Westen unser
Christus erstrahlt, den wir uns bewahrt haben und den sie nicht kennen."




Wohin geht Rußland?
Gorki und Mereschkorvski über die russische Zukunft

isher hat uns die russische Kriegs-Publizistik wenig neues und tief-
grabendes über das Thema von der Zukunft Rußlands gebracht,
über das Problem, das uns Deutsche nächst unserer eigenen Ent¬
wicklung wohl am meisten angeht. Wir bringen heute unseren
Lesern die Übersetzung eines Aufsatzes von Mereschkowski. der
sowohl durch die Schönheit der Form wie die Tiefe der Gedanken allseitige
Beachtung verdient.

Zu seinem Verständnis schicken wir folgende Bemerkungen voraus.
Wir alle erinnern uns des Krieges von 1877/78 mit seinem tiefen
religiösen Aufschwung, seinen echtrussischen philosophischen Theorien. Damals
wurde die Mission Rußlands, die große Mission des völkerbefteienden und der
Welt das letzte Wort der harmonischen Weisheit bringenden Nußland gepredigt.

In der einseitig russischsten Weise kam die Missionsidee bei den Slawo-
philen zur Ausgestaltung, der Osten sollte den verrotteten Westen ablösen und
die Welt erlösen. Dostojewski näherte sich in seiner ersten Periode diesen
Ideen außerordentlich. Sie haben in Rußland seit dieser Zeit den Stimmungs¬
hintergrund für das gebildet, was wir Nationalismus nennen (die ganze
flawophile Idee ist schließlich, mit westeuropäischen Augen betrachtet, weiter
nichts als ein philosophisch-idealistischer Deckmantel für den Erobererzug Ru߬
lands, der es zum Balkan, gegen Österreich und die Türkei hin getrieben hat
und noch treibt) — später hat Dostojewski seine ursprüngliche Idee mehr, wie
das auch Solowjow getan hat, ins allgemein menschliche, allgemein christliche
umgebogen; — auch Tschaadajew bewegte sich in ähnlicher Richtung.

Allen diesen Denkern ist eins gemein — die nahe Berührung ihrer Ideen
mit der Religion. Man darf wohl sagen, daß in keinem anderen Volke auch
bei dem politischen Denken die Religion so sehr im Vordergrunde steht wie
beim russischen. Alles durchtränkt sie, sie ist Ausgangspunkt und Wegweiser.

Wie sehr sie es für Dostojewski war, ist uns allen aus seinen drei großen
Werken, dem „Idiot", den „Brüdern Karamasow" und den „Dämonen"
bekannt. Fürst Myschkin im Idiot und Schadow in den Dämonen sagen es
in gleicher Weise: „Es ist nötig, daß als Reaktion gegen den Westen unser
Christus erstrahlt, den wir uns bewahrt haben und den sie nicht kennen."


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[0115] [Abbildung] Wohin geht Rußland? Gorki und Mereschkorvski über die russische Zukunft isher hat uns die russische Kriegs-Publizistik wenig neues und tief- grabendes über das Thema von der Zukunft Rußlands gebracht, über das Problem, das uns Deutsche nächst unserer eigenen Ent¬ wicklung wohl am meisten angeht. Wir bringen heute unseren Lesern die Übersetzung eines Aufsatzes von Mereschkowski. der sowohl durch die Schönheit der Form wie die Tiefe der Gedanken allseitige Beachtung verdient. Zu seinem Verständnis schicken wir folgende Bemerkungen voraus. Wir alle erinnern uns des Krieges von 1877/78 mit seinem tiefen religiösen Aufschwung, seinen echtrussischen philosophischen Theorien. Damals wurde die Mission Rußlands, die große Mission des völkerbefteienden und der Welt das letzte Wort der harmonischen Weisheit bringenden Nußland gepredigt. In der einseitig russischsten Weise kam die Missionsidee bei den Slawo- philen zur Ausgestaltung, der Osten sollte den verrotteten Westen ablösen und die Welt erlösen. Dostojewski näherte sich in seiner ersten Periode diesen Ideen außerordentlich. Sie haben in Rußland seit dieser Zeit den Stimmungs¬ hintergrund für das gebildet, was wir Nationalismus nennen (die ganze flawophile Idee ist schließlich, mit westeuropäischen Augen betrachtet, weiter nichts als ein philosophisch-idealistischer Deckmantel für den Erobererzug Ru߬ lands, der es zum Balkan, gegen Österreich und die Türkei hin getrieben hat und noch treibt) — später hat Dostojewski seine ursprüngliche Idee mehr, wie das auch Solowjow getan hat, ins allgemein menschliche, allgemein christliche umgebogen; — auch Tschaadajew bewegte sich in ähnlicher Richtung. Allen diesen Denkern ist eins gemein — die nahe Berührung ihrer Ideen mit der Religion. Man darf wohl sagen, daß in keinem anderen Volke auch bei dem politischen Denken die Religion so sehr im Vordergrunde steht wie beim russischen. Alles durchtränkt sie, sie ist Ausgangspunkt und Wegweiser. Wie sehr sie es für Dostojewski war, ist uns allen aus seinen drei großen Werken, dem „Idiot", den „Brüdern Karamasow" und den „Dämonen" bekannt. Fürst Myschkin im Idiot und Schadow in den Dämonen sagen es in gleicher Weise: „Es ist nötig, daß als Reaktion gegen den Westen unser Christus erstrahlt, den wir uns bewahrt haben und den sie nicht kennen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/115>, abgerufen am 27.04.2024.