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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

III-

Die Großmutter ist Rußland, jedoch nicht das ganze, denn Rußland hat
"zwei Seelen", nach dem tiefsinnigen Worte Gorki's, vielleicht dem tiefsinnigsten
oller seiner Worte. Die eine Seele Rußlands ist die Großmutter, die andere --
der Großvater.

Die Großmutter ist schön, der Großvater häßlich. Der "gute Gott der
Großmutter ist ein so lieber Freund alles Lebendigen", der Gott des Gro߬
vaters ist böse. Wenn der Gott der Großmutter der wahre ist, so ist des
Großvaters Gott nicht Gott, sondern der Teufel.

So oder fast so ist es für Aljoscha Peschkow, aber nicht so oder nicht ganz
so ist es für Gorki. Er weiß schon, daß nicht die ganze Wahrheit auf Seiten
der Großmutter ist, daß auch auf Seiten des Großvaters eine gewisse Wahrheit
ist, die ebenso ewig "höchst wahr, höchst russisch" ist.

Nicht immer war auch der Großvater ein böses Scheusal.

Er war doch früher recht gut, als ihm aber dünkte, daß niemand
klüger sei als er, seitdem ist er schlecht und dumm geworden.

Er war gut und wird es vielleicht wieder sein. Möglicherweise ist er
nicht nur aus eigener Schuld, sondern zum Teil auch aus Schuld der Gro߬
mutter selbst schlecht und dumm geworden.

Mich hat der Großvater einmal am ersten Ostertage vom Mittag bis
zum Abend geschlagen; wenn er müde wurde, ruhte er aus und fing wieder
an; er schlug, er schlug mit Stricken und allem anderen.

Wofür?

Ich erinnere mich nicht mehr . . .

Die Großmutter war um das Doppelte stärker als der Großvater und
man glaubte nicht, daß er sie bezwingen könnte.

Ist er stärker als Du?

Nicht stärker, aber älter . . . Gott wird von ihm Auskunft über mich
verlangen, und mir ist befohlen, zu dulden.

Sogar der kleine Aljoscha fühlt, daß der Großmutter etwas fehlt. "Zu¬
weilen möchte man, daß sie irgend ein Kraftwort sagt, irgend etwas laut
schreit". Sie wird aber niemals etwas sagen, sie wird schweigen und dulden
bis ans Ende. Und je mehr die Großmutter dulden wird, desto mehr wird
der Großvater böse und dumm werden.

Obgleich die Großmutter keine Heilige ist, so ist sie doch "eine Art Heilige",
und ihre Hauptsünde besteht nicht in der Sünde, sondern in der Heiligkeit.
Je heiliger sie selbst ist, desto sündhafter ist alles um sie herum.

Sie weiß, -- und kann nicht; sie beschaut, -- und ist nicht tätig. Der
Großvater weiß und ist tätig, er weiß wenig, ist schlecht tätig; in Rußland
aber ist so viel Beschaulichkeit, so wenig Tätigkeit, daß es schon besser ist
schlecht als gar nicht tätig zu sein.


8*
Wohin geht Rußland?

III-

Die Großmutter ist Rußland, jedoch nicht das ganze, denn Rußland hat
„zwei Seelen", nach dem tiefsinnigen Worte Gorki's, vielleicht dem tiefsinnigsten
oller seiner Worte. Die eine Seele Rußlands ist die Großmutter, die andere —
der Großvater.

Die Großmutter ist schön, der Großvater häßlich. Der „gute Gott der
Großmutter ist ein so lieber Freund alles Lebendigen", der Gott des Gro߬
vaters ist böse. Wenn der Gott der Großmutter der wahre ist, so ist des
Großvaters Gott nicht Gott, sondern der Teufel.

So oder fast so ist es für Aljoscha Peschkow, aber nicht so oder nicht ganz
so ist es für Gorki. Er weiß schon, daß nicht die ganze Wahrheit auf Seiten
der Großmutter ist, daß auch auf Seiten des Großvaters eine gewisse Wahrheit
ist, die ebenso ewig „höchst wahr, höchst russisch" ist.

Nicht immer war auch der Großvater ein böses Scheusal.

Er war doch früher recht gut, als ihm aber dünkte, daß niemand
klüger sei als er, seitdem ist er schlecht und dumm geworden.

Er war gut und wird es vielleicht wieder sein. Möglicherweise ist er
nicht nur aus eigener Schuld, sondern zum Teil auch aus Schuld der Gro߬
mutter selbst schlecht und dumm geworden.

Mich hat der Großvater einmal am ersten Ostertage vom Mittag bis
zum Abend geschlagen; wenn er müde wurde, ruhte er aus und fing wieder
an; er schlug, er schlug mit Stricken und allem anderen.

Wofür?

Ich erinnere mich nicht mehr . . .

Die Großmutter war um das Doppelte stärker als der Großvater und
man glaubte nicht, daß er sie bezwingen könnte.

Ist er stärker als Du?

Nicht stärker, aber älter . . . Gott wird von ihm Auskunft über mich
verlangen, und mir ist befohlen, zu dulden.

Sogar der kleine Aljoscha fühlt, daß der Großmutter etwas fehlt. „Zu¬
weilen möchte man, daß sie irgend ein Kraftwort sagt, irgend etwas laut
schreit". Sie wird aber niemals etwas sagen, sie wird schweigen und dulden
bis ans Ende. Und je mehr die Großmutter dulden wird, desto mehr wird
der Großvater böse und dumm werden.

Obgleich die Großmutter keine Heilige ist, so ist sie doch „eine Art Heilige",
und ihre Hauptsünde besteht nicht in der Sünde, sondern in der Heiligkeit.
Je heiliger sie selbst ist, desto sündhafter ist alles um sie herum.

Sie weiß, — und kann nicht; sie beschaut, — und ist nicht tätig. Der
Großvater weiß und ist tätig, er weiß wenig, ist schlecht tätig; in Rußland
aber ist so viel Beschaulichkeit, so wenig Tätigkeit, daß es schon besser ist
schlecht als gar nicht tätig zu sein.


8*
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[0127] Wohin geht Rußland? III- Die Großmutter ist Rußland, jedoch nicht das ganze, denn Rußland hat „zwei Seelen", nach dem tiefsinnigen Worte Gorki's, vielleicht dem tiefsinnigsten oller seiner Worte. Die eine Seele Rußlands ist die Großmutter, die andere — der Großvater. Die Großmutter ist schön, der Großvater häßlich. Der „gute Gott der Großmutter ist ein so lieber Freund alles Lebendigen", der Gott des Gro߬ vaters ist böse. Wenn der Gott der Großmutter der wahre ist, so ist des Großvaters Gott nicht Gott, sondern der Teufel. So oder fast so ist es für Aljoscha Peschkow, aber nicht so oder nicht ganz so ist es für Gorki. Er weiß schon, daß nicht die ganze Wahrheit auf Seiten der Großmutter ist, daß auch auf Seiten des Großvaters eine gewisse Wahrheit ist, die ebenso ewig „höchst wahr, höchst russisch" ist. Nicht immer war auch der Großvater ein böses Scheusal. Er war doch früher recht gut, als ihm aber dünkte, daß niemand klüger sei als er, seitdem ist er schlecht und dumm geworden. Er war gut und wird es vielleicht wieder sein. Möglicherweise ist er nicht nur aus eigener Schuld, sondern zum Teil auch aus Schuld der Gro߬ mutter selbst schlecht und dumm geworden. Mich hat der Großvater einmal am ersten Ostertage vom Mittag bis zum Abend geschlagen; wenn er müde wurde, ruhte er aus und fing wieder an; er schlug, er schlug mit Stricken und allem anderen. Wofür? Ich erinnere mich nicht mehr . . . Die Großmutter war um das Doppelte stärker als der Großvater und man glaubte nicht, daß er sie bezwingen könnte. Ist er stärker als Du? Nicht stärker, aber älter . . . Gott wird von ihm Auskunft über mich verlangen, und mir ist befohlen, zu dulden. Sogar der kleine Aljoscha fühlt, daß der Großmutter etwas fehlt. „Zu¬ weilen möchte man, daß sie irgend ein Kraftwort sagt, irgend etwas laut schreit". Sie wird aber niemals etwas sagen, sie wird schweigen und dulden bis ans Ende. Und je mehr die Großmutter dulden wird, desto mehr wird der Großvater böse und dumm werden. Obgleich die Großmutter keine Heilige ist, so ist sie doch „eine Art Heilige", und ihre Hauptsünde besteht nicht in der Sünde, sondern in der Heiligkeit. Je heiliger sie selbst ist, desto sündhafter ist alles um sie herum. Sie weiß, — und kann nicht; sie beschaut, — und ist nicht tätig. Der Großvater weiß und ist tätig, er weiß wenig, ist schlecht tätig; in Rußland aber ist so viel Beschaulichkeit, so wenig Tätigkeit, daß es schon besser ist schlecht als gar nicht tätig zu sein. 8*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/127>, abgerufen am 27.04.2024.