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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Brüsseler Theaterspiel während des Rrieges
von Dr. R. Schacht

n einem kleinen Staate wie Belgien, in dem bei annähernd
gleichem Kräfteverhältnis zwei völlig verschiedene Volksgruppen
beständig um die geistige Oberherrschaft bezw. um Gleichberechti¬
gung ringen, muß notwendig jede den Anschluß an ihr nahe¬
stehende stärkere Kulturgruppen außerhalb des Staates suchen.
So liebäugeln die Vlamen mit "Groß-Niederland", die Wallonen mit Frank¬
reich, genauer gesagt mit jener Kulturmacht, die sich im Namen Paris verkörpert
oder verkörperte. Wallone sein war nichts. Belgier war -- eben infolge der
völkischen Spaltung -- etwas Unbestimmtes. Physiognomieloses -- geistig
Franzose sein dagegen, das hieß einen Teil der geistigen Welt beherrschen.
So ist es bei dem kulturellen Übergewicht, das die Wallonen nun einmal hatten,
ohne weiteres verständlich, daß die offizielle belgische Kultur französisch orientiert
ist. Nicht so, als ob es ihr völlig an Selbständigkeit mangelt. Die neue
belgische Monumentalarchitektur ist z. B. durchschnittlich besser als die französtfche,
die belgische Gartenkunst steht weit höher, und Maeterlinck. Verhaeren sowie der
Bildhauer Minne sind wichtige Faktoren des französischen Geisteslebens gewor¬
den. Aber alles, was die Kultur des täglichen Lebens betrifft, Kunstgewerbe,
Möbel, Kleidung, Lebensführung, wird in den wallonischen Provinzen durch¬
weg von Paris bestimmt. Der Brüsseler Advokat, der Brüsseler Gelehrte, der
Brüsseler Industrielle sind von den französischen Berufsgenossen nur schwer zu
unterscheiden. Sie sind im Vergleich zu Parisern Provinziale, ihre Lebens¬
führung ist nicht so nervös, dafür breiter und gröber, ihr Französisch klingt
nicht tadellos, aber ihr Ideal ist deutlich der Pariser.

Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß im Gegensatz zu den viamischen
Zentren Gent und Antwerpen, auch die Theater in Brüssel, die mit Ausnahme
der Königlichen Oper fast durchweg ihre Tore wieder geöffnet haben, im wesent¬
lichen, d. h. mit Ausnahme eines kaum ins Gewicht fallenden Volks- und eines
Operettentheaters, französische Theater sind. Auch sie haben unleugbar etwas
Provinziales: In Dekorationen, die, auch wenn sie prunkvoll gedacht sind,
immer an die altmodische Pracht von Passagecafös der achtziger Jahre erinnern,
bewegt sich um wenige gute oder doch mindestens gewandte Schauspieler viel
Anfängertum mit offenkundiger Freude an geschmetterten Tiraden und leeren
Gesten, viel hoffnungslose Mädeben und Gleichgültigkeit, und angesichts der




Brüsseler Theaterspiel während des Rrieges
von Dr. R. Schacht

n einem kleinen Staate wie Belgien, in dem bei annähernd
gleichem Kräfteverhältnis zwei völlig verschiedene Volksgruppen
beständig um die geistige Oberherrschaft bezw. um Gleichberechti¬
gung ringen, muß notwendig jede den Anschluß an ihr nahe¬
stehende stärkere Kulturgruppen außerhalb des Staates suchen.
So liebäugeln die Vlamen mit „Groß-Niederland", die Wallonen mit Frank¬
reich, genauer gesagt mit jener Kulturmacht, die sich im Namen Paris verkörpert
oder verkörperte. Wallone sein war nichts. Belgier war — eben infolge der
völkischen Spaltung — etwas Unbestimmtes. Physiognomieloses — geistig
Franzose sein dagegen, das hieß einen Teil der geistigen Welt beherrschen.
So ist es bei dem kulturellen Übergewicht, das die Wallonen nun einmal hatten,
ohne weiteres verständlich, daß die offizielle belgische Kultur französisch orientiert
ist. Nicht so, als ob es ihr völlig an Selbständigkeit mangelt. Die neue
belgische Monumentalarchitektur ist z. B. durchschnittlich besser als die französtfche,
die belgische Gartenkunst steht weit höher, und Maeterlinck. Verhaeren sowie der
Bildhauer Minne sind wichtige Faktoren des französischen Geisteslebens gewor¬
den. Aber alles, was die Kultur des täglichen Lebens betrifft, Kunstgewerbe,
Möbel, Kleidung, Lebensführung, wird in den wallonischen Provinzen durch¬
weg von Paris bestimmt. Der Brüsseler Advokat, der Brüsseler Gelehrte, der
Brüsseler Industrielle sind von den französischen Berufsgenossen nur schwer zu
unterscheiden. Sie sind im Vergleich zu Parisern Provinziale, ihre Lebens¬
führung ist nicht so nervös, dafür breiter und gröber, ihr Französisch klingt
nicht tadellos, aber ihr Ideal ist deutlich der Pariser.

Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß im Gegensatz zu den viamischen
Zentren Gent und Antwerpen, auch die Theater in Brüssel, die mit Ausnahme
der Königlichen Oper fast durchweg ihre Tore wieder geöffnet haben, im wesent¬
lichen, d. h. mit Ausnahme eines kaum ins Gewicht fallenden Volks- und eines
Operettentheaters, französische Theater sind. Auch sie haben unleugbar etwas
Provinziales: In Dekorationen, die, auch wenn sie prunkvoll gedacht sind,
immer an die altmodische Pracht von Passagecafös der achtziger Jahre erinnern,
bewegt sich um wenige gute oder doch mindestens gewandte Schauspieler viel
Anfängertum mit offenkundiger Freude an geschmetterten Tiraden und leeren
Gesten, viel hoffnungslose Mädeben und Gleichgültigkeit, und angesichts der


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[0025] [Abbildung] Brüsseler Theaterspiel während des Rrieges von Dr. R. Schacht n einem kleinen Staate wie Belgien, in dem bei annähernd gleichem Kräfteverhältnis zwei völlig verschiedene Volksgruppen beständig um die geistige Oberherrschaft bezw. um Gleichberechti¬ gung ringen, muß notwendig jede den Anschluß an ihr nahe¬ stehende stärkere Kulturgruppen außerhalb des Staates suchen. So liebäugeln die Vlamen mit „Groß-Niederland", die Wallonen mit Frank¬ reich, genauer gesagt mit jener Kulturmacht, die sich im Namen Paris verkörpert oder verkörperte. Wallone sein war nichts. Belgier war — eben infolge der völkischen Spaltung — etwas Unbestimmtes. Physiognomieloses — geistig Franzose sein dagegen, das hieß einen Teil der geistigen Welt beherrschen. So ist es bei dem kulturellen Übergewicht, das die Wallonen nun einmal hatten, ohne weiteres verständlich, daß die offizielle belgische Kultur französisch orientiert ist. Nicht so, als ob es ihr völlig an Selbständigkeit mangelt. Die neue belgische Monumentalarchitektur ist z. B. durchschnittlich besser als die französtfche, die belgische Gartenkunst steht weit höher, und Maeterlinck. Verhaeren sowie der Bildhauer Minne sind wichtige Faktoren des französischen Geisteslebens gewor¬ den. Aber alles, was die Kultur des täglichen Lebens betrifft, Kunstgewerbe, Möbel, Kleidung, Lebensführung, wird in den wallonischen Provinzen durch¬ weg von Paris bestimmt. Der Brüsseler Advokat, der Brüsseler Gelehrte, der Brüsseler Industrielle sind von den französischen Berufsgenossen nur schwer zu unterscheiden. Sie sind im Vergleich zu Parisern Provinziale, ihre Lebens¬ führung ist nicht so nervös, dafür breiter und gröber, ihr Französisch klingt nicht tadellos, aber ihr Ideal ist deutlich der Pariser. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß im Gegensatz zu den viamischen Zentren Gent und Antwerpen, auch die Theater in Brüssel, die mit Ausnahme der Königlichen Oper fast durchweg ihre Tore wieder geöffnet haben, im wesent¬ lichen, d. h. mit Ausnahme eines kaum ins Gewicht fallenden Volks- und eines Operettentheaters, französische Theater sind. Auch sie haben unleugbar etwas Provinziales: In Dekorationen, die, auch wenn sie prunkvoll gedacht sind, immer an die altmodische Pracht von Passagecafös der achtziger Jahre erinnern, bewegt sich um wenige gute oder doch mindestens gewandte Schauspieler viel Anfängertum mit offenkundiger Freude an geschmetterten Tiraden und leeren Gesten, viel hoffnungslose Mädeben und Gleichgültigkeit, und angesichts der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/25>, abgerufen am 27.04.2024.