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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

natürlich wird die nüchterne politische Überlegung der Kundigen durch ein all¬
gemeines unklares Schwärmen in Ideen ersetzen wollen. Aber sollen Programm
und Taktik, soll der politische Positivismus wieder in seine kümmerlichen Allein¬
herrschaftsrechte eingesetzt werden, abseits von der Anteilnahme der besten Kräfte
unserer Intelligenz? Auch das wird niemand wünschen. Wenn das aber so
liegt, dann erwächst dringend und unabweisbar die Forderung, auch das politische
Leben und seine Parteiung mit Ideen zu durchdringen und so der doktrinären
Phrase den Kampf zu erklären, die sich als dürftiger Ersatz an deren Stelle
geschoben hatte. Wir brauchen wieder -- diese Einsicht sollte in weiteste Kreise
dringen -- eine geschichtsphilosophisch unterbaute ideologische Deutung der Gegen¬
wart in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit und Zukunft und zu dem ewigen
Born unserer Geschichte: dem unergründlichen deutschen Wesen.


II.

Prüfen wir an Hand der so gewonnenen Gesichtspunkte die zahlenmäßig
so ungeheure Kriegsliteratur Deutschlands, so ist die ideologische Ausbeute nicht
überaus groß. Daß die akademische Philosophie unserer Universitäten im großen
und ganzen dieser Aufgabe fremd gegenüberstehen mußte, war Zu erwarten.
Nur wenige ihrer Vertreter wie Troellsch, Gucken, Theobald Ziegler und einige
andere wandten die philosophische Besinnung auf die Probleme der Stunde.
Schelers Genius des Krieges, der hinreißende philosophische Ausdruck der
kriegerischen Aufbruchsstimmung, fand wenige Nachfolger. Einzelne Reden, so
die von Joel und Borchardt, erhoben sich weit über das niedere Niveau einer
gutgemeinten, aber ideell höchst dürftigen politischen Erbauungsprosa, in der die
apologetische Lobpreisung des deutschen Geistes einen allzu breiten Raum ein¬
nahm:. Im übrigen wurde in der Kriegsliteratur auf die diplomatische Aus-
bruchsform des Krieges, die leidige und im Grunde so gegenstandslose "Schuld¬
frage" viel peinliche Forschung verwandt; aber eine Deutung des Sinnes dieses
Krieges, seine Einstellung in den philosophisch erfaßten Gesamtzusammenhang
der deutschen Geschichte, sein Bezug auf die Zukunft des deutschen Geistes wurde
nur selten und meist unvollkommen versucht. Hier seien einige neuere Er¬
örterungen in dieser Problemrichtung behandelt.

Sehr merklich kleben die Eierschalen des Posttivismus an Mathieu
Schwarms "Sinn der deutschen Geschichte" > (Verlag von Georg Reimer, Berlin
1916). Gleich zu Beginn beruhigt uns der Verfasser darüber, daß er sich und
uns nicht mit "abstrakter Ideologie" belästigen wolle. In der Tat ist das
geschichtsphilosophische Prinzip, das er seiner ganzen Darstellung zugrunde
legt, der Begriff der "Existenzsicherung", ein so dürftiges und unzulängliches
Instrument der Sinndeutung, daß die ganze Darstellung gänzlich an der Ober¬
fläche der politischen Geschehnisse bleibt und nicht einmal deren immanente
Logik auch nur entfernt mit der gleichen Schärfe und Überzeugungskraft heraus¬
arbeitet, wie das etwa Kjell6n in seinen bekannten Schriften gelungen


Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

natürlich wird die nüchterne politische Überlegung der Kundigen durch ein all¬
gemeines unklares Schwärmen in Ideen ersetzen wollen. Aber sollen Programm
und Taktik, soll der politische Positivismus wieder in seine kümmerlichen Allein¬
herrschaftsrechte eingesetzt werden, abseits von der Anteilnahme der besten Kräfte
unserer Intelligenz? Auch das wird niemand wünschen. Wenn das aber so
liegt, dann erwächst dringend und unabweisbar die Forderung, auch das politische
Leben und seine Parteiung mit Ideen zu durchdringen und so der doktrinären
Phrase den Kampf zu erklären, die sich als dürftiger Ersatz an deren Stelle
geschoben hatte. Wir brauchen wieder — diese Einsicht sollte in weiteste Kreise
dringen — eine geschichtsphilosophisch unterbaute ideologische Deutung der Gegen¬
wart in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit und Zukunft und zu dem ewigen
Born unserer Geschichte: dem unergründlichen deutschen Wesen.


II.

Prüfen wir an Hand der so gewonnenen Gesichtspunkte die zahlenmäßig
so ungeheure Kriegsliteratur Deutschlands, so ist die ideologische Ausbeute nicht
überaus groß. Daß die akademische Philosophie unserer Universitäten im großen
und ganzen dieser Aufgabe fremd gegenüberstehen mußte, war Zu erwarten.
Nur wenige ihrer Vertreter wie Troellsch, Gucken, Theobald Ziegler und einige
andere wandten die philosophische Besinnung auf die Probleme der Stunde.
Schelers Genius des Krieges, der hinreißende philosophische Ausdruck der
kriegerischen Aufbruchsstimmung, fand wenige Nachfolger. Einzelne Reden, so
die von Joel und Borchardt, erhoben sich weit über das niedere Niveau einer
gutgemeinten, aber ideell höchst dürftigen politischen Erbauungsprosa, in der die
apologetische Lobpreisung des deutschen Geistes einen allzu breiten Raum ein¬
nahm:. Im übrigen wurde in der Kriegsliteratur auf die diplomatische Aus-
bruchsform des Krieges, die leidige und im Grunde so gegenstandslose „Schuld¬
frage" viel peinliche Forschung verwandt; aber eine Deutung des Sinnes dieses
Krieges, seine Einstellung in den philosophisch erfaßten Gesamtzusammenhang
der deutschen Geschichte, sein Bezug auf die Zukunft des deutschen Geistes wurde
nur selten und meist unvollkommen versucht. Hier seien einige neuere Er¬
örterungen in dieser Problemrichtung behandelt.

Sehr merklich kleben die Eierschalen des Posttivismus an Mathieu
Schwarms „Sinn der deutschen Geschichte" > (Verlag von Georg Reimer, Berlin
1916). Gleich zu Beginn beruhigt uns der Verfasser darüber, daß er sich und
uns nicht mit „abstrakter Ideologie" belästigen wolle. In der Tat ist das
geschichtsphilosophische Prinzip, das er seiner ganzen Darstellung zugrunde
legt, der Begriff der „Existenzsicherung", ein so dürftiges und unzulängliches
Instrument der Sinndeutung, daß die ganze Darstellung gänzlich an der Ober¬
fläche der politischen Geschehnisse bleibt und nicht einmal deren immanente
Logik auch nur entfernt mit der gleichen Schärfe und Überzeugungskraft heraus¬
arbeitet, wie das etwa Kjell6n in seinen bekannten Schriften gelungen


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[0261] Zur ideologischen Deutung der Gegenwart natürlich wird die nüchterne politische Überlegung der Kundigen durch ein all¬ gemeines unklares Schwärmen in Ideen ersetzen wollen. Aber sollen Programm und Taktik, soll der politische Positivismus wieder in seine kümmerlichen Allein¬ herrschaftsrechte eingesetzt werden, abseits von der Anteilnahme der besten Kräfte unserer Intelligenz? Auch das wird niemand wünschen. Wenn das aber so liegt, dann erwächst dringend und unabweisbar die Forderung, auch das politische Leben und seine Parteiung mit Ideen zu durchdringen und so der doktrinären Phrase den Kampf zu erklären, die sich als dürftiger Ersatz an deren Stelle geschoben hatte. Wir brauchen wieder — diese Einsicht sollte in weiteste Kreise dringen — eine geschichtsphilosophisch unterbaute ideologische Deutung der Gegen¬ wart in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit und Zukunft und zu dem ewigen Born unserer Geschichte: dem unergründlichen deutschen Wesen. II. Prüfen wir an Hand der so gewonnenen Gesichtspunkte die zahlenmäßig so ungeheure Kriegsliteratur Deutschlands, so ist die ideologische Ausbeute nicht überaus groß. Daß die akademische Philosophie unserer Universitäten im großen und ganzen dieser Aufgabe fremd gegenüberstehen mußte, war Zu erwarten. Nur wenige ihrer Vertreter wie Troellsch, Gucken, Theobald Ziegler und einige andere wandten die philosophische Besinnung auf die Probleme der Stunde. Schelers Genius des Krieges, der hinreißende philosophische Ausdruck der kriegerischen Aufbruchsstimmung, fand wenige Nachfolger. Einzelne Reden, so die von Joel und Borchardt, erhoben sich weit über das niedere Niveau einer gutgemeinten, aber ideell höchst dürftigen politischen Erbauungsprosa, in der die apologetische Lobpreisung des deutschen Geistes einen allzu breiten Raum ein¬ nahm:. Im übrigen wurde in der Kriegsliteratur auf die diplomatische Aus- bruchsform des Krieges, die leidige und im Grunde so gegenstandslose „Schuld¬ frage" viel peinliche Forschung verwandt; aber eine Deutung des Sinnes dieses Krieges, seine Einstellung in den philosophisch erfaßten Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte, sein Bezug auf die Zukunft des deutschen Geistes wurde nur selten und meist unvollkommen versucht. Hier seien einige neuere Er¬ örterungen in dieser Problemrichtung behandelt. Sehr merklich kleben die Eierschalen des Posttivismus an Mathieu Schwarms „Sinn der deutschen Geschichte" > (Verlag von Georg Reimer, Berlin 1916). Gleich zu Beginn beruhigt uns der Verfasser darüber, daß er sich und uns nicht mit „abstrakter Ideologie" belästigen wolle. In der Tat ist das geschichtsphilosophische Prinzip, das er seiner ganzen Darstellung zugrunde legt, der Begriff der „Existenzsicherung", ein so dürftiges und unzulängliches Instrument der Sinndeutung, daß die ganze Darstellung gänzlich an der Ober¬ fläche der politischen Geschehnisse bleibt und nicht einmal deren immanente Logik auch nur entfernt mit der gleichen Schärfe und Überzeugungskraft heraus¬ arbeitet, wie das etwa Kjell6n in seinen bekannten Schriften gelungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/261>, abgerufen am 27.04.2024.