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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Vom Argot poilu
von Winfried Lüdecke

in Januar und März 1915 erschien im "Figaro" eine Reihe von
Briefen, die ein Pariser Arbeiter vom Schützengraben aus an
seine Schwester geschrieben hatte. Diese in unverfälschten Slang
geschriebenen Briefe zeigten den Parisern eindringlich wie noch
nie. daß an der Front eine ihnen unverständliche Sprache ge¬
sprochen wurde, eine Schützengrabensprache (arZot nie3 tranckees). in deren
Verständnis sich ohne Hilfe eines Wörterbuches schwer eindringen ließ. Und
so muß es auch manchem Polin selbst ergangen sein, denn offenbar um einem
Bedürfnis abzuhelfen, veröffentlichten die beiden Frontzeitungen c?e8
1V!armite8" und "KiZolbocKe" ein "Voeabulaire 6s la Auerre" und ein"I^exiqus
Polin-k?l-an<?-u8", die das Verständnis des Argot Polin erleichtern sollen.

Obgleich diese französische Schützengrabensprache in Wirklichkeit nur ein
Bruchstück des Pariser Argot, der Sprache der untersten Klassen und haupt¬
sächlich der Apachen darstellt, ist doch der Franzose auf diese durch den Krieg
hervorgerufene, neuartige soziologische Erscheinung sehr stolz und sieht in ihr
ein bedeutungsvolles Moment der Einheit und des engen Zusammenschlusses
des gesamten französischen Volkes im Kriege.

Es ist verständlich, daß unter den vielen Hunderten von Wörtern und
Redewendungen des Argot Polin sich viele sprachliche Bezeichnungen befinden,
die bereits im Frieden der Soldaten- und Kaserneusprache angehörten. Aber
eine ganze Reihe von ihnen hat im Kriege einen neuen Sinn angenommen,
und schließlich ist auch eine Anzahl von Neubildungen entstanden, denn
gänzlich neue Dinge und Geschehnisse verlangten auch nach neuen sprachlichen Be¬
zeichnungen. Hauptsächlich von diesen letzteren sei im folgenden kurz die Rede.

Das den Deutschen bekannteste Wort der französischen Soldatensprache ist
wohl der Schimpfname "Locke", mit dem nicht nur der französische Soldat,
sondern das ganze Volk vom Gelehrten bis zum Straßenjungen uns benennt
und in dem sich eine blinde ohnmächtige Wut kundtut. Über die Herkunft
dieses Wortes gibt es bei uns wie in Frankreich zahlreiche Hypothesen.") Im
Kriege 1870/71 war es jedenfalls noch nicht gebräuchlich, da nannte man die
Deutschen durchweg "?rü83im8". Um 1874 herum soll die Bezeichnung Boche
bereits auf deutsche und flämische Setzer angewandt worden sein. Was der



*) Vergl. den Aufsatz von Prof. Kießmann in Heft 33 dieses Jahrg.


Vom Argot poilu
von Winfried Lüdecke

in Januar und März 1915 erschien im „Figaro" eine Reihe von
Briefen, die ein Pariser Arbeiter vom Schützengraben aus an
seine Schwester geschrieben hatte. Diese in unverfälschten Slang
geschriebenen Briefe zeigten den Parisern eindringlich wie noch
nie. daß an der Front eine ihnen unverständliche Sprache ge¬
sprochen wurde, eine Schützengrabensprache (arZot nie3 tranckees). in deren
Verständnis sich ohne Hilfe eines Wörterbuches schwer eindringen ließ. Und
so muß es auch manchem Polin selbst ergangen sein, denn offenbar um einem
Bedürfnis abzuhelfen, veröffentlichten die beiden Frontzeitungen c?e8
1V!armite8" und „KiZolbocKe" ein „Voeabulaire 6s la Auerre" und ein„I^exiqus
Polin-k?l-an<?-u8«, die das Verständnis des Argot Polin erleichtern sollen.

Obgleich diese französische Schützengrabensprache in Wirklichkeit nur ein
Bruchstück des Pariser Argot, der Sprache der untersten Klassen und haupt¬
sächlich der Apachen darstellt, ist doch der Franzose auf diese durch den Krieg
hervorgerufene, neuartige soziologische Erscheinung sehr stolz und sieht in ihr
ein bedeutungsvolles Moment der Einheit und des engen Zusammenschlusses
des gesamten französischen Volkes im Kriege.

Es ist verständlich, daß unter den vielen Hunderten von Wörtern und
Redewendungen des Argot Polin sich viele sprachliche Bezeichnungen befinden,
die bereits im Frieden der Soldaten- und Kaserneusprache angehörten. Aber
eine ganze Reihe von ihnen hat im Kriege einen neuen Sinn angenommen,
und schließlich ist auch eine Anzahl von Neubildungen entstanden, denn
gänzlich neue Dinge und Geschehnisse verlangten auch nach neuen sprachlichen Be¬
zeichnungen. Hauptsächlich von diesen letzteren sei im folgenden kurz die Rede.

Das den Deutschen bekannteste Wort der französischen Soldatensprache ist
wohl der Schimpfname „Locke", mit dem nicht nur der französische Soldat,
sondern das ganze Volk vom Gelehrten bis zum Straßenjungen uns benennt
und in dem sich eine blinde ohnmächtige Wut kundtut. Über die Herkunft
dieses Wortes gibt es bei uns wie in Frankreich zahlreiche Hypothesen.") Im
Kriege 1870/71 war es jedenfalls noch nicht gebräuchlich, da nannte man die
Deutschen durchweg „?rü83im8". Um 1874 herum soll die Bezeichnung Boche
bereits auf deutsche und flämische Setzer angewandt worden sein. Was der



*) Vergl. den Aufsatz von Prof. Kießmann in Heft 33 dieses Jahrg.
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[0265] [Abbildung] Vom Argot poilu von Winfried Lüdecke in Januar und März 1915 erschien im „Figaro" eine Reihe von Briefen, die ein Pariser Arbeiter vom Schützengraben aus an seine Schwester geschrieben hatte. Diese in unverfälschten Slang geschriebenen Briefe zeigten den Parisern eindringlich wie noch nie. daß an der Front eine ihnen unverständliche Sprache ge¬ sprochen wurde, eine Schützengrabensprache (arZot nie3 tranckees). in deren Verständnis sich ohne Hilfe eines Wörterbuches schwer eindringen ließ. Und so muß es auch manchem Polin selbst ergangen sein, denn offenbar um einem Bedürfnis abzuhelfen, veröffentlichten die beiden Frontzeitungen c?e8 1V!armite8" und „KiZolbocKe" ein „Voeabulaire 6s la Auerre" und ein„I^exiqus Polin-k?l-an<?-u8«, die das Verständnis des Argot Polin erleichtern sollen. Obgleich diese französische Schützengrabensprache in Wirklichkeit nur ein Bruchstück des Pariser Argot, der Sprache der untersten Klassen und haupt¬ sächlich der Apachen darstellt, ist doch der Franzose auf diese durch den Krieg hervorgerufene, neuartige soziologische Erscheinung sehr stolz und sieht in ihr ein bedeutungsvolles Moment der Einheit und des engen Zusammenschlusses des gesamten französischen Volkes im Kriege. Es ist verständlich, daß unter den vielen Hunderten von Wörtern und Redewendungen des Argot Polin sich viele sprachliche Bezeichnungen befinden, die bereits im Frieden der Soldaten- und Kaserneusprache angehörten. Aber eine ganze Reihe von ihnen hat im Kriege einen neuen Sinn angenommen, und schließlich ist auch eine Anzahl von Neubildungen entstanden, denn gänzlich neue Dinge und Geschehnisse verlangten auch nach neuen sprachlichen Be¬ zeichnungen. Hauptsächlich von diesen letzteren sei im folgenden kurz die Rede. Das den Deutschen bekannteste Wort der französischen Soldatensprache ist wohl der Schimpfname „Locke", mit dem nicht nur der französische Soldat, sondern das ganze Volk vom Gelehrten bis zum Straßenjungen uns benennt und in dem sich eine blinde ohnmächtige Wut kundtut. Über die Herkunft dieses Wortes gibt es bei uns wie in Frankreich zahlreiche Hypothesen.") Im Kriege 1870/71 war es jedenfalls noch nicht gebräuchlich, da nannte man die Deutschen durchweg „?rü83im8". Um 1874 herum soll die Bezeichnung Boche bereits auf deutsche und flämische Setzer angewandt worden sein. Was der *) Vergl. den Aufsatz von Prof. Kießmann in Heft 33 dieses Jahrg.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/265>, abgerufen am 28.04.2024.