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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Von Not und Teuerung vor hundert Jahren und
ihrer Abwehr
von Dr. H. Unnfermann


ernten und Teuerung Hut es zu allen Zeiten und bei allen
Völkern gegeben, seitdem sagenhafte und geschichtliche Über¬
lieferungen berichten. Bei den mangelhaften Wege- und Trans-
portoerhältnissen und der dadurch bewirkten Unmöglichkeit einer
schnellen Zufuhr und Verteilung von Lebensmitteln mußte aller¬
dings in früheren Jahrhunderten die Not in den von Mißernten betroffenen
Landstrichen oft die schlimmsten Formen annehmen. Wir aber, die wir vor
dem Kriege und vor der Abschließung Deutschlands durch Englands Blockade¬
politik eine gleichmäßige und stetige Nahrungsmittelzusuhr durch Hunderte von
Schiffen und Eisenbahnzügen aus allen Ländern der Erde erhielten, wußten
gar nicht mehr, was Teuerung eigentlich bedeutete. Und doch liegen die Zeiten
so sehr weit noch nicht zurück, als Deutschland und ein großer Teil Mittel¬
europas von der letzten großen Not und Teuerung heimgesucht wurden. Ge¬
rade jetzt jährt sich diese Zeit zum hundertsten Male/')

Noch war Europa nach dem endgültigen Sturze des korsischen Eroberers
nicht ganz zur Ruhe gekommen, noch standen die Besatzungstruppen der Ver¬
bündeten in Nordfmnkreich, noch hatte man erst kaum begonnen, sich in die
neuen Verhältnisse einzuleben, da trat im Jahre 1316 eine furchtbare Mi߬
ernte in Mitteleuropa ein. Bei dem Mangel an Arbeitskräften in den
am Kriege beteiligten oder vom Kriege betroffenen Ländern war vielfach die
Feldbestellung nur sehr notdürftig vorgenommen worden. Nun brachte der
Sommer 1816 unendlichen Regen und kalte Witterung, wie man sich ihrer
seit 1794/95 nicht mehr erinnerte. Noch im September stand in manchen
Gegenden der Roggen unreif auf den Feldern. Unendlich viel verdarb in der
Nässe. So waren die Ernteergebnifse äußerst dürstig. Zwar waren die Er¬
träge in Rußland, den Ostseegebieten und Polen nicht schlecht, zum Teil sogar
gut. Aber umso schlimmer stand es in Nordwest- und Süddeutschland, Ober¬
italien, Frankreich, den Niederlanden und in England. In Deutschland



*) Für die nachfolgenden Mitteilungen sind als Quellen besonders benutzt "Die Staats¬
und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unparteiischen Correspondenten", sowie die "Pri-
diligierten wöchentlichen und gemeinnützigen Nachrichten von und für Hamburg" und der
^.Westfälische Anzeiger", Jahrgänge 1316/17. Vergl. ferner: Verger, der alte Harkort, Leipzig
189S, S, 145 ff. Andere Zeitungen werden weiteres Material bieten.
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Von Not und Teuerung vor hundert Jahren und
ihrer Abwehr
von Dr. H. Unnfermann


ernten und Teuerung Hut es zu allen Zeiten und bei allen
Völkern gegeben, seitdem sagenhafte und geschichtliche Über¬
lieferungen berichten. Bei den mangelhaften Wege- und Trans-
portoerhältnissen und der dadurch bewirkten Unmöglichkeit einer
schnellen Zufuhr und Verteilung von Lebensmitteln mußte aller¬
dings in früheren Jahrhunderten die Not in den von Mißernten betroffenen
Landstrichen oft die schlimmsten Formen annehmen. Wir aber, die wir vor
dem Kriege und vor der Abschließung Deutschlands durch Englands Blockade¬
politik eine gleichmäßige und stetige Nahrungsmittelzusuhr durch Hunderte von
Schiffen und Eisenbahnzügen aus allen Ländern der Erde erhielten, wußten
gar nicht mehr, was Teuerung eigentlich bedeutete. Und doch liegen die Zeiten
so sehr weit noch nicht zurück, als Deutschland und ein großer Teil Mittel¬
europas von der letzten großen Not und Teuerung heimgesucht wurden. Ge¬
rade jetzt jährt sich diese Zeit zum hundertsten Male/')

Noch war Europa nach dem endgültigen Sturze des korsischen Eroberers
nicht ganz zur Ruhe gekommen, noch standen die Besatzungstruppen der Ver¬
bündeten in Nordfmnkreich, noch hatte man erst kaum begonnen, sich in die
neuen Verhältnisse einzuleben, da trat im Jahre 1316 eine furchtbare Mi߬
ernte in Mitteleuropa ein. Bei dem Mangel an Arbeitskräften in den
am Kriege beteiligten oder vom Kriege betroffenen Ländern war vielfach die
Feldbestellung nur sehr notdürftig vorgenommen worden. Nun brachte der
Sommer 1816 unendlichen Regen und kalte Witterung, wie man sich ihrer
seit 1794/95 nicht mehr erinnerte. Noch im September stand in manchen
Gegenden der Roggen unreif auf den Feldern. Unendlich viel verdarb in der
Nässe. So waren die Ernteergebnifse äußerst dürstig. Zwar waren die Er¬
träge in Rußland, den Ostseegebieten und Polen nicht schlecht, zum Teil sogar
gut. Aber umso schlimmer stand es in Nordwest- und Süddeutschland, Ober¬
italien, Frankreich, den Niederlanden und in England. In Deutschland



*) Für die nachfolgenden Mitteilungen sind als Quellen besonders benutzt „Die Staats¬
und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unparteiischen Correspondenten", sowie die „Pri-
diligierten wöchentlichen und gemeinnützigen Nachrichten von und für Hamburg" und der
^.Westfälische Anzeiger", Jahrgänge 1316/17. Vergl. ferner: Verger, der alte Harkort, Leipzig
189S, S, 145 ff. Andere Zeitungen werden weiteres Material bieten.
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[0351] [Abbildung] Von Not und Teuerung vor hundert Jahren und ihrer Abwehr von Dr. H. Unnfermann iß ernten und Teuerung Hut es zu allen Zeiten und bei allen Völkern gegeben, seitdem sagenhafte und geschichtliche Über¬ lieferungen berichten. Bei den mangelhaften Wege- und Trans- portoerhältnissen und der dadurch bewirkten Unmöglichkeit einer schnellen Zufuhr und Verteilung von Lebensmitteln mußte aller¬ dings in früheren Jahrhunderten die Not in den von Mißernten betroffenen Landstrichen oft die schlimmsten Formen annehmen. Wir aber, die wir vor dem Kriege und vor der Abschließung Deutschlands durch Englands Blockade¬ politik eine gleichmäßige und stetige Nahrungsmittelzusuhr durch Hunderte von Schiffen und Eisenbahnzügen aus allen Ländern der Erde erhielten, wußten gar nicht mehr, was Teuerung eigentlich bedeutete. Und doch liegen die Zeiten so sehr weit noch nicht zurück, als Deutschland und ein großer Teil Mittel¬ europas von der letzten großen Not und Teuerung heimgesucht wurden. Ge¬ rade jetzt jährt sich diese Zeit zum hundertsten Male/') Noch war Europa nach dem endgültigen Sturze des korsischen Eroberers nicht ganz zur Ruhe gekommen, noch standen die Besatzungstruppen der Ver¬ bündeten in Nordfmnkreich, noch hatte man erst kaum begonnen, sich in die neuen Verhältnisse einzuleben, da trat im Jahre 1316 eine furchtbare Mi߬ ernte in Mitteleuropa ein. Bei dem Mangel an Arbeitskräften in den am Kriege beteiligten oder vom Kriege betroffenen Ländern war vielfach die Feldbestellung nur sehr notdürftig vorgenommen worden. Nun brachte der Sommer 1816 unendlichen Regen und kalte Witterung, wie man sich ihrer seit 1794/95 nicht mehr erinnerte. Noch im September stand in manchen Gegenden der Roggen unreif auf den Feldern. Unendlich viel verdarb in der Nässe. So waren die Ernteergebnifse äußerst dürstig. Zwar waren die Er¬ träge in Rußland, den Ostseegebieten und Polen nicht schlecht, zum Teil sogar gut. Aber umso schlimmer stand es in Nordwest- und Süddeutschland, Ober¬ italien, Frankreich, den Niederlanden und in England. In Deutschland *) Für die nachfolgenden Mitteilungen sind als Quellen besonders benutzt „Die Staats¬ und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unparteiischen Correspondenten", sowie die „Pri- diligierten wöchentlichen und gemeinnützigen Nachrichten von und für Hamburg" und der ^.Westfälische Anzeiger", Jahrgänge 1316/17. Vergl. ferner: Verger, der alte Harkort, Leipzig 189S, S, 145 ff. Andere Zeitungen werden weiteres Material bieten. ?S*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/351>, abgerufen am 27.04.2024.