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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Antik
von or. Hans Goldschmidt

in Laufe dieses Jahres sind drei Werke, in welchen Deutsch¬
lands auswärtige Politik jüngster Zeit behandelt wird, in neuer
Auflage erschienen: Graf ner-entlows "Deutschlands auswärtige
Politik 1888 bis 1914", Fürst Bülows "Deutsche Politik" und
Hermann Ouckens "Vorgeschichte des Krieges". Drei Persönlich¬
keiten recht verschiedener Lebensstellung behandeln hier das gleiche Thema je
nach ihren Erfahrungen und ihrer Lebensauffassung. Fürst Bülow hat fast
die Hülste der in Frage kommenden Zeit als leitender Staatsmann die von
ihm geschilderte Politik selbst gemacht, Sein Werk ist daher mehr ein Quellen¬
werk zur Charakteristik derselben. Ähnlich Bismarck in seinen "Gedanken und
Erinnerungen" wollte Bülow in seinem Rückblick und Ausblick die großen
Linien seiner Politik verständlich machen und uns für die Fortsetzung seiner
leitenden Ideen gewinnen. Er kennt das Qucllenmaterial unserer auswärtigen
Politik wie kein anderer, aber er darf von seinen Kenntnissen nur beschränkten
Gebrauch macheu und muß auch aus Gründen persönlichen Taktes mit dem
Urteil über die Politik nach seinem Ausscheiden zurückhalten, da die Haupt¬
beteiligten noch fast alle im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens stehen. Bismarck
war da in günstigerer Lage, weil seine Amtszeit eine weit geschlossenere Epoche
bildete und in der Hauptsache zeitlich weiter zurücklag, auch waren die Erfolge
seiner auswärtigen Politik unbestritten. Seine Bündnispolitik hatte den
Frieden bewahrt, und es war daher nicht schwer für ihn, sie zu verteidigen
und vor ihrem Verlassen zu warnen. Bülow verteidigte 1914 seine Politik
der freien Hand, ohne das; günstige Ergebnisse vorlagen, außerdem mußte er
sich nach seinen eigenen Worten in der Vorrede der neuen Auflage Zurück¬
haltung gegenüber dem Ausland auferlegen. 1916 konnte er in dieser Hinsicht
deutlicher sein. Er meint im übrigen, er habe "nirgends auf dem Felde der
auswärtigen Politik Veranlassung, Grundsätzliches von seiner Auffassung der
Verhältnisse anderer standen zum deutschen Reiche zu ändern. Die Ereignisse
hätten ihm im wesentlichen Recht gegeben."

Solche Rücksichten brauchte Graf Reventlow als unabhängiger, konservativer
Publizist nicht zu nehmen, andererseits fehlte ihm Bülows Quellenkenntnis. Er
wollte 1914 in einer für den gebildeten Nichtfachmann berechneten Darstellung
eine anschauliche Schilderung der deutschen Politik des nachbismarckischen




Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Antik
von or. Hans Goldschmidt

in Laufe dieses Jahres sind drei Werke, in welchen Deutsch¬
lands auswärtige Politik jüngster Zeit behandelt wird, in neuer
Auflage erschienen: Graf ner-entlows „Deutschlands auswärtige
Politik 1888 bis 1914", Fürst Bülows „Deutsche Politik" und
Hermann Ouckens „Vorgeschichte des Krieges". Drei Persönlich¬
keiten recht verschiedener Lebensstellung behandeln hier das gleiche Thema je
nach ihren Erfahrungen und ihrer Lebensauffassung. Fürst Bülow hat fast
die Hülste der in Frage kommenden Zeit als leitender Staatsmann die von
ihm geschilderte Politik selbst gemacht, Sein Werk ist daher mehr ein Quellen¬
werk zur Charakteristik derselben. Ähnlich Bismarck in seinen „Gedanken und
Erinnerungen" wollte Bülow in seinem Rückblick und Ausblick die großen
Linien seiner Politik verständlich machen und uns für die Fortsetzung seiner
leitenden Ideen gewinnen. Er kennt das Qucllenmaterial unserer auswärtigen
Politik wie kein anderer, aber er darf von seinen Kenntnissen nur beschränkten
Gebrauch macheu und muß auch aus Gründen persönlichen Taktes mit dem
Urteil über die Politik nach seinem Ausscheiden zurückhalten, da die Haupt¬
beteiligten noch fast alle im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens stehen. Bismarck
war da in günstigerer Lage, weil seine Amtszeit eine weit geschlossenere Epoche
bildete und in der Hauptsache zeitlich weiter zurücklag, auch waren die Erfolge
seiner auswärtigen Politik unbestritten. Seine Bündnispolitik hatte den
Frieden bewahrt, und es war daher nicht schwer für ihn, sie zu verteidigen
und vor ihrem Verlassen zu warnen. Bülow verteidigte 1914 seine Politik
der freien Hand, ohne das; günstige Ergebnisse vorlagen, außerdem mußte er
sich nach seinen eigenen Worten in der Vorrede der neuen Auflage Zurück¬
haltung gegenüber dem Ausland auferlegen. 1916 konnte er in dieser Hinsicht
deutlicher sein. Er meint im übrigen, er habe „nirgends auf dem Felde der
auswärtigen Politik Veranlassung, Grundsätzliches von seiner Auffassung der
Verhältnisse anderer standen zum deutschen Reiche zu ändern. Die Ereignisse
hätten ihm im wesentlichen Recht gegeben."

Solche Rücksichten brauchte Graf Reventlow als unabhängiger, konservativer
Publizist nicht zu nehmen, andererseits fehlte ihm Bülows Quellenkenntnis. Er
wollte 1914 in einer für den gebildeten Nichtfachmann berechneten Darstellung
eine anschauliche Schilderung der deutschen Politik des nachbismarckischen


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[0380] [Abbildung] Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Antik von or. Hans Goldschmidt in Laufe dieses Jahres sind drei Werke, in welchen Deutsch¬ lands auswärtige Politik jüngster Zeit behandelt wird, in neuer Auflage erschienen: Graf ner-entlows „Deutschlands auswärtige Politik 1888 bis 1914", Fürst Bülows „Deutsche Politik" und Hermann Ouckens „Vorgeschichte des Krieges". Drei Persönlich¬ keiten recht verschiedener Lebensstellung behandeln hier das gleiche Thema je nach ihren Erfahrungen und ihrer Lebensauffassung. Fürst Bülow hat fast die Hülste der in Frage kommenden Zeit als leitender Staatsmann die von ihm geschilderte Politik selbst gemacht, Sein Werk ist daher mehr ein Quellen¬ werk zur Charakteristik derselben. Ähnlich Bismarck in seinen „Gedanken und Erinnerungen" wollte Bülow in seinem Rückblick und Ausblick die großen Linien seiner Politik verständlich machen und uns für die Fortsetzung seiner leitenden Ideen gewinnen. Er kennt das Qucllenmaterial unserer auswärtigen Politik wie kein anderer, aber er darf von seinen Kenntnissen nur beschränkten Gebrauch macheu und muß auch aus Gründen persönlichen Taktes mit dem Urteil über die Politik nach seinem Ausscheiden zurückhalten, da die Haupt¬ beteiligten noch fast alle im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens stehen. Bismarck war da in günstigerer Lage, weil seine Amtszeit eine weit geschlossenere Epoche bildete und in der Hauptsache zeitlich weiter zurücklag, auch waren die Erfolge seiner auswärtigen Politik unbestritten. Seine Bündnispolitik hatte den Frieden bewahrt, und es war daher nicht schwer für ihn, sie zu verteidigen und vor ihrem Verlassen zu warnen. Bülow verteidigte 1914 seine Politik der freien Hand, ohne das; günstige Ergebnisse vorlagen, außerdem mußte er sich nach seinen eigenen Worten in der Vorrede der neuen Auflage Zurück¬ haltung gegenüber dem Ausland auferlegen. 1916 konnte er in dieser Hinsicht deutlicher sein. Er meint im übrigen, er habe „nirgends auf dem Felde der auswärtigen Politik Veranlassung, Grundsätzliches von seiner Auffassung der Verhältnisse anderer standen zum deutschen Reiche zu ändern. Die Ereignisse hätten ihm im wesentlichen Recht gegeben." Solche Rücksichten brauchte Graf Reventlow als unabhängiger, konservativer Publizist nicht zu nehmen, andererseits fehlte ihm Bülows Quellenkenntnis. Er wollte 1914 in einer für den gebildeten Nichtfachmann berechneten Darstellung eine anschauliche Schilderung der deutschen Politik des nachbismarckischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/380>, abgerufen am 27.04.2024.