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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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II.

Gerade dieser Aufstand des Rentamtes in Verbindung mit den un¬
erschöpflichen Reserven an Menschen und an Boden, über die es verfügt, lassen
die Frage entstehen: kann sich Europa dieses Angriffs erwehren, ist es imstande,
seine alte Vormachtstellung auf ^die Dauer zu behaupten? Denn seine Be¬
stimmung scheint zwar die Herstellung und Aufrechterhaltung einer geistigen
Einheit, aber ebenso auch und noch mehr die Verewigung politischer Zer¬
klüftung zu sein, in der sich der Erdteil zerfleischt und die ihn stärkeren und
reicheren Kontinenten zum Opfer zu bestimmen scheint.

Wir wünschten ein Ja zu hören. Aber diese Hoffnung wird zunächst
dadurch in Frage gestellt, daß das eine der großen Völker, die den europäischen
Kultmkreis bilden, nur zum Teil mit seinen Interessen und seinem Blute in
dem Erdteil wurzelt. Das Weltumspannende des englischen Handels, des
englischen Reiches und der englischen Nationalität bringt es so mit sich. Wohl
verbindet sich in England der Begriff "Lolonial" mit einem etwas abschätzigen
Nebensinn. aber das Gefühl, daß die Größe und Macht des Reiches gerade
auf dem Kranz von großen Kolonien beruht, der es umgibt, ist zu lebhaft:
soll England bestehen' bleiben, so wird es sich für die Kolonien und gegen
Europa entscheiden, wo ihre Wege sich trennen. Rußland anderseits wird uns
durch die Revolution vielleicht näher rücken; aber auch hier wirkt das Schwer¬
gewicht avßereuropüischen Territoriums, das es von Europa abzieht: in dem
Muße, als Sibirien und Mittelasien erschlossen werden, erwächst auch ein
Gegengewicht zu den Gedanken, die Nußland an den Westen binden.

Nicht nur aber die Verhältnisse der Gegenwart, wie die Vergangenheit
sie geschaffen hat. sondern auch die geschichtliche Ersahrung spricht gegen die
politische Einigung Europas. Alle bisherigen Versuche, die westliche Welt zu
einer Einheit zusammen zu fassen, die über die unmittelbaren Interessen der
einzelnen Staaten und Völker hinausging, sind ohne B stand geblieben. Sehen
wir von dem ephemeren Karolingerrcich und dem römischen Reich deutscher
Nation ab. dessen Ansprüche von vornherein theoretische blieben, so ist der erste
derartige Versuch der eines päpstlichen Weltreiches, das die mittelalterlichen
Völker zu einer Wrstenrepublik mit geistlicher Spitze zusammen zu fassen sucht.
Aber kaum, daß es hergestellt ist. reagieren auch schon die Teile mit solcher
Gewalt gegen das Ganze, daß es niemals lebendig geworden ist. Am deut¬
lichsten zeigte sich das in den Kreuzzügen. Hier war das denkbar stärkste
Element der Einigung mächtig, der gemeinsame religiöse Gegensatz zu einer ganz
anders gearteten Welt. Aber auch er war nicht stark genug, die Rivaliiäteu
der einzelnen europäischen Staaten zu unterdrücken; nicht einmal die spanischen
Könige und die Kreuzfahrerstaatm haben sich von Bündnissen mit dem Glaubcns-
feinde zurückhalten lassen. Die nächste, ähnliche Gemeinschaft, welche die Abend¬
länder eingehen, die gegen die Türken, wurde durch Frankreich durchbrochen,
das in einem Zusammengehen mit dem Sultan das sicherste Gegengewicht gegen


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II.

Gerade dieser Aufstand des Rentamtes in Verbindung mit den un¬
erschöpflichen Reserven an Menschen und an Boden, über die es verfügt, lassen
die Frage entstehen: kann sich Europa dieses Angriffs erwehren, ist es imstande,
seine alte Vormachtstellung auf ^die Dauer zu behaupten? Denn seine Be¬
stimmung scheint zwar die Herstellung und Aufrechterhaltung einer geistigen
Einheit, aber ebenso auch und noch mehr die Verewigung politischer Zer¬
klüftung zu sein, in der sich der Erdteil zerfleischt und die ihn stärkeren und
reicheren Kontinenten zum Opfer zu bestimmen scheint.

Wir wünschten ein Ja zu hören. Aber diese Hoffnung wird zunächst
dadurch in Frage gestellt, daß das eine der großen Völker, die den europäischen
Kultmkreis bilden, nur zum Teil mit seinen Interessen und seinem Blute in
dem Erdteil wurzelt. Das Weltumspannende des englischen Handels, des
englischen Reiches und der englischen Nationalität bringt es so mit sich. Wohl
verbindet sich in England der Begriff „Lolonial" mit einem etwas abschätzigen
Nebensinn. aber das Gefühl, daß die Größe und Macht des Reiches gerade
auf dem Kranz von großen Kolonien beruht, der es umgibt, ist zu lebhaft:
soll England bestehen' bleiben, so wird es sich für die Kolonien und gegen
Europa entscheiden, wo ihre Wege sich trennen. Rußland anderseits wird uns
durch die Revolution vielleicht näher rücken; aber auch hier wirkt das Schwer¬
gewicht avßereuropüischen Territoriums, das es von Europa abzieht: in dem
Muße, als Sibirien und Mittelasien erschlossen werden, erwächst auch ein
Gegengewicht zu den Gedanken, die Nußland an den Westen binden.

Nicht nur aber die Verhältnisse der Gegenwart, wie die Vergangenheit
sie geschaffen hat. sondern auch die geschichtliche Ersahrung spricht gegen die
politische Einigung Europas. Alle bisherigen Versuche, die westliche Welt zu
einer Einheit zusammen zu fassen, die über die unmittelbaren Interessen der
einzelnen Staaten und Völker hinausging, sind ohne B stand geblieben. Sehen
wir von dem ephemeren Karolingerrcich und dem römischen Reich deutscher
Nation ab. dessen Ansprüche von vornherein theoretische blieben, so ist der erste
derartige Versuch der eines päpstlichen Weltreiches, das die mittelalterlichen
Völker zu einer Wrstenrepublik mit geistlicher Spitze zusammen zu fassen sucht.
Aber kaum, daß es hergestellt ist. reagieren auch schon die Teile mit solcher
Gewalt gegen das Ganze, daß es niemals lebendig geworden ist. Am deut¬
lichsten zeigte sich das in den Kreuzzügen. Hier war das denkbar stärkste
Element der Einigung mächtig, der gemeinsame religiöse Gegensatz zu einer ganz
anders gearteten Welt. Aber auch er war nicht stark genug, die Rivaliiäteu
der einzelnen europäischen Staaten zu unterdrücken; nicht einmal die spanischen
Könige und die Kreuzfahrerstaatm haben sich von Bündnissen mit dem Glaubcns-
feinde zurückhalten lassen. Die nächste, ähnliche Gemeinschaft, welche die Abend¬
länder eingehen, die gegen die Türken, wurde durch Frankreich durchbrochen,
das in einem Zusammengehen mit dem Sultan das sicherste Gegengewicht gegen


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[0178] Lnri'pa II. Gerade dieser Aufstand des Rentamtes in Verbindung mit den un¬ erschöpflichen Reserven an Menschen und an Boden, über die es verfügt, lassen die Frage entstehen: kann sich Europa dieses Angriffs erwehren, ist es imstande, seine alte Vormachtstellung auf ^die Dauer zu behaupten? Denn seine Be¬ stimmung scheint zwar die Herstellung und Aufrechterhaltung einer geistigen Einheit, aber ebenso auch und noch mehr die Verewigung politischer Zer¬ klüftung zu sein, in der sich der Erdteil zerfleischt und die ihn stärkeren und reicheren Kontinenten zum Opfer zu bestimmen scheint. Wir wünschten ein Ja zu hören. Aber diese Hoffnung wird zunächst dadurch in Frage gestellt, daß das eine der großen Völker, die den europäischen Kultmkreis bilden, nur zum Teil mit seinen Interessen und seinem Blute in dem Erdteil wurzelt. Das Weltumspannende des englischen Handels, des englischen Reiches und der englischen Nationalität bringt es so mit sich. Wohl verbindet sich in England der Begriff „Lolonial" mit einem etwas abschätzigen Nebensinn. aber das Gefühl, daß die Größe und Macht des Reiches gerade auf dem Kranz von großen Kolonien beruht, der es umgibt, ist zu lebhaft: soll England bestehen' bleiben, so wird es sich für die Kolonien und gegen Europa entscheiden, wo ihre Wege sich trennen. Rußland anderseits wird uns durch die Revolution vielleicht näher rücken; aber auch hier wirkt das Schwer¬ gewicht avßereuropüischen Territoriums, das es von Europa abzieht: in dem Muße, als Sibirien und Mittelasien erschlossen werden, erwächst auch ein Gegengewicht zu den Gedanken, die Nußland an den Westen binden. Nicht nur aber die Verhältnisse der Gegenwart, wie die Vergangenheit sie geschaffen hat. sondern auch die geschichtliche Ersahrung spricht gegen die politische Einigung Europas. Alle bisherigen Versuche, die westliche Welt zu einer Einheit zusammen zu fassen, die über die unmittelbaren Interessen der einzelnen Staaten und Völker hinausging, sind ohne B stand geblieben. Sehen wir von dem ephemeren Karolingerrcich und dem römischen Reich deutscher Nation ab. dessen Ansprüche von vornherein theoretische blieben, so ist der erste derartige Versuch der eines päpstlichen Weltreiches, das die mittelalterlichen Völker zu einer Wrstenrepublik mit geistlicher Spitze zusammen zu fassen sucht. Aber kaum, daß es hergestellt ist. reagieren auch schon die Teile mit solcher Gewalt gegen das Ganze, daß es niemals lebendig geworden ist. Am deut¬ lichsten zeigte sich das in den Kreuzzügen. Hier war das denkbar stärkste Element der Einigung mächtig, der gemeinsame religiöse Gegensatz zu einer ganz anders gearteten Welt. Aber auch er war nicht stark genug, die Rivaliiäteu der einzelnen europäischen Staaten zu unterdrücken; nicht einmal die spanischen Könige und die Kreuzfahrerstaatm haben sich von Bündnissen mit dem Glaubcns- feinde zurückhalten lassen. Die nächste, ähnliche Gemeinschaft, welche die Abend¬ länder eingehen, die gegen die Türken, wurde durch Frankreich durchbrochen, das in einem Zusammengehen mit dem Sultan das sicherste Gegengewicht gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/178>, abgerufen am 08.05.2024.