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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Verfassungsausschuß und Reichstagsabgeordnele

Die Erweiterung der Immunität der Reichstagsabgeordneten.

Art. 31 der Reichsverfassung bestimmt bekanntlich:


"Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben
während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung
zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Aus¬
übung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird.

Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden erforderlich.
Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein

Mitglied desselben und jede Untersuchung oder Zivilhaft für die Dauer der
Sitzungsperiode aufgehoben."


Diese Rechte haben nach den neuesten Beschlüssen des Verfassungsaus¬
schusses eine Änderung dahin erfahren:


"Gleiche Genehmigung ist bei jeder anderen, die Ausübung des Ab¬
geordnetenberufes beeinträchtigenden Beschränkung der persönlichen Freiheit
erforderlich. Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren
gegen ein Mitglied desselben und jede Haft oder sonstige Beschränkung der
persönlichen Freiheit für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben."

Damit werden die Rechte der Abgeordneten nicht unerheblich erweitert.
Da Art. 31 nur von einem "zur Untersuchungziehen oder Verhaften wegen
einer mit Strafe bedrohten Handlung" redet, so hat die herrschende Meinung
bisher mit Recht angenommen, daß Ordnungsstrafen (z. B. wegen Ungebühr),
Verhängung von Zwangsmitteln (z. B. Zeugniszwang), Verfahren zur Ent¬
ziehung einer Gewerbebefugnis und Untersuchung von Seeunfällen nicht unter
den Schutz des Art. 31 fallen. Die beiden erstgenannten Maßnahmen bedeuten
zweifellos eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit des Abgeordneten, sie
sind also solche, auf die die Erweiterungsbestimmung des Art. 31 Anwendung
finden würde. Übrigens würde damit, was der Verfassungsausschuß des
Reichstages wohl nicht bedacht hat, sein neuer Art. 30, der ein besonderes Zeugnis¬
verweigerungsrecht aufstellt, im wesentlichen überflüssig; denn wenn gegen den
Abgeordneten zur Erzwingung einer Aussage nicht mehr mit der Zeugnis¬
zwangshaft ohne Genehmigung des Reichstages vorgegangen werden kann,
sondern nur mit Geldstrafen, so entfällt damit einer der wichtigsten Gesichts¬
punkte des Schutzes der Abgeordneten in dieser Richtung.

Verneinen möchte man die Anwendbarkeit des neuen Paragraphen auf
Verfahren zur Entziehung der Gewerbebefugnis und Untersuchung in See¬
unfällen; denn hier wird die persönliche Freiheit des Abgeordneten nicht be¬
einträchtigt.

Absatz 3 des alten Artikels 31 N.-V. gestattet dem Reichstag nur die
Aufhebung jedes Strafverfahrens und jeder Untersuchung und der Zivilhast;
die neue Fassung spricht hier erweiternd von "jeder Haft oder sonstigen Be¬
schränkung der persönlichen Freiheit". Darunter fallen wiederum die Hastfälle


Verfassungsausschuß und Reichstagsabgeordnele

Die Erweiterung der Immunität der Reichstagsabgeordneten.

Art. 31 der Reichsverfassung bestimmt bekanntlich:


„Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben
während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung
zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Aus¬
übung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird.

Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden erforderlich.
Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein

Mitglied desselben und jede Untersuchung oder Zivilhaft für die Dauer der
Sitzungsperiode aufgehoben."


Diese Rechte haben nach den neuesten Beschlüssen des Verfassungsaus¬
schusses eine Änderung dahin erfahren:


„Gleiche Genehmigung ist bei jeder anderen, die Ausübung des Ab¬
geordnetenberufes beeinträchtigenden Beschränkung der persönlichen Freiheit
erforderlich. Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren
gegen ein Mitglied desselben und jede Haft oder sonstige Beschränkung der
persönlichen Freiheit für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben."

Damit werden die Rechte der Abgeordneten nicht unerheblich erweitert.
Da Art. 31 nur von einem „zur Untersuchungziehen oder Verhaften wegen
einer mit Strafe bedrohten Handlung" redet, so hat die herrschende Meinung
bisher mit Recht angenommen, daß Ordnungsstrafen (z. B. wegen Ungebühr),
Verhängung von Zwangsmitteln (z. B. Zeugniszwang), Verfahren zur Ent¬
ziehung einer Gewerbebefugnis und Untersuchung von Seeunfällen nicht unter
den Schutz des Art. 31 fallen. Die beiden erstgenannten Maßnahmen bedeuten
zweifellos eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit des Abgeordneten, sie
sind also solche, auf die die Erweiterungsbestimmung des Art. 31 Anwendung
finden würde. Übrigens würde damit, was der Verfassungsausschuß des
Reichstages wohl nicht bedacht hat, sein neuer Art. 30, der ein besonderes Zeugnis¬
verweigerungsrecht aufstellt, im wesentlichen überflüssig; denn wenn gegen den
Abgeordneten zur Erzwingung einer Aussage nicht mehr mit der Zeugnis¬
zwangshaft ohne Genehmigung des Reichstages vorgegangen werden kann,
sondern nur mit Geldstrafen, so entfällt damit einer der wichtigsten Gesichts¬
punkte des Schutzes der Abgeordneten in dieser Richtung.

Verneinen möchte man die Anwendbarkeit des neuen Paragraphen auf
Verfahren zur Entziehung der Gewerbebefugnis und Untersuchung in See¬
unfällen; denn hier wird die persönliche Freiheit des Abgeordneten nicht be¬
einträchtigt.

Absatz 3 des alten Artikels 31 N.-V. gestattet dem Reichstag nur die
Aufhebung jedes Strafverfahrens und jeder Untersuchung und der Zivilhast;
die neue Fassung spricht hier erweiternd von „jeder Haft oder sonstigen Be¬
schränkung der persönlichen Freiheit". Darunter fallen wiederum die Hastfälle


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[0259] Verfassungsausschuß und Reichstagsabgeordnele Die Erweiterung der Immunität der Reichstagsabgeordneten. Art. 31 der Reichsverfassung bestimmt bekanntlich: „Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Aus¬ übung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird. Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden erforderlich. Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede Untersuchung oder Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben." Diese Rechte haben nach den neuesten Beschlüssen des Verfassungsaus¬ schusses eine Änderung dahin erfahren: „Gleiche Genehmigung ist bei jeder anderen, die Ausübung des Ab¬ geordnetenberufes beeinträchtigenden Beschränkung der persönlichen Freiheit erforderlich. Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede Haft oder sonstige Beschränkung der persönlichen Freiheit für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben." Damit werden die Rechte der Abgeordneten nicht unerheblich erweitert. Da Art. 31 nur von einem „zur Untersuchungziehen oder Verhaften wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung" redet, so hat die herrschende Meinung bisher mit Recht angenommen, daß Ordnungsstrafen (z. B. wegen Ungebühr), Verhängung von Zwangsmitteln (z. B. Zeugniszwang), Verfahren zur Ent¬ ziehung einer Gewerbebefugnis und Untersuchung von Seeunfällen nicht unter den Schutz des Art. 31 fallen. Die beiden erstgenannten Maßnahmen bedeuten zweifellos eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit des Abgeordneten, sie sind also solche, auf die die Erweiterungsbestimmung des Art. 31 Anwendung finden würde. Übrigens würde damit, was der Verfassungsausschuß des Reichstages wohl nicht bedacht hat, sein neuer Art. 30, der ein besonderes Zeugnis¬ verweigerungsrecht aufstellt, im wesentlichen überflüssig; denn wenn gegen den Abgeordneten zur Erzwingung einer Aussage nicht mehr mit der Zeugnis¬ zwangshaft ohne Genehmigung des Reichstages vorgegangen werden kann, sondern nur mit Geldstrafen, so entfällt damit einer der wichtigsten Gesichts¬ punkte des Schutzes der Abgeordneten in dieser Richtung. Verneinen möchte man die Anwendbarkeit des neuen Paragraphen auf Verfahren zur Entziehung der Gewerbebefugnis und Untersuchung in See¬ unfällen; denn hier wird die persönliche Freiheit des Abgeordneten nicht be¬ einträchtigt. Absatz 3 des alten Artikels 31 N.-V. gestattet dem Reichstag nur die Aufhebung jedes Strafverfahrens und jeder Untersuchung und der Zivilhast; die neue Fassung spricht hier erweiternd von „jeder Haft oder sonstigen Be¬ schränkung der persönlichen Freiheit". Darunter fallen wiederum die Hastfälle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/259>, abgerufen am 08.05.2024.