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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Der Begriff der historischen Wahrheit und die
Schlacht an der Marne
von Dr. Richard Müller

is in den ersten Wochen dieses Krieges die Wirkungen des von
unseren Gegnern, England voran, eröffneten Lügenfeldzuges bei
uns bekannt wurden, da dämmerte manchem, im übrigen in
sittlicher Entrüstung schwelgenden Kirchturmpolitikus die Erkenntnis,
daß die Unwahrheit und noch mehr die Halbwahrheit keineswegs
etwas Irreales, ein bloßer Trug, der vor der Wahrheit wie Schnee vor der
Märzsonne vergehen müsse, sei, sondern daß die Unwahrheit auch eine Wirklich¬
keit ist und zwar eine von ungeheurer Macht. In dieser Erkenntnis erfolgte
unter dem Feldruf "Die Wahrheit ins Ausland" eine nicht immer geschickte
Propaganda nach den neutralen Ländern. Aber im Grunde beruhigte man sich
doch in weitesten Kreisen bei uns mit der bequemen Überzeugung, daß die
Wahrheit schon von selber ans Licht kommen werde, daß die Weltgeschichte
das Weltgericht sei und daß vor dem "Forum der Geschichte" alle Machenschaften
unserer Gegner so gründlich entlarvt werden würden, daß auch ein Blinder
den teuflischen Bocksfuß bei ihnen wahrnehmen müsse.

Derartige Überzeugungen mögen Beweise für ein sehr gutes Gewissen
sein; Beweise für starke Intelligenz und große Kenntnisse der Geschichte sind
sie nicht. Wir schieben die Erörterung der im Begriffe der historischen Wahr¬
heit liegenden Schwierigkeiten noch etwas zurück, wir wollen nur durch ein
paar Beispiele erhärten, daß es mit dem selbstverständlichen Sieg der historischen
Wahrheit keine so einfache Sache ist. Heute, das heißt nach über zweitausend
Jahren, ist die kritische Geschichtswissenschaft sich allerdings darüber im Reinen,
daß es mit den glorreichen Siegen der Griechen über die Asiaten in den
sogenannten Perserkriegen nicht ganz so bestellt war, wie man zweitausend
Jahre lang im Vertrauen auf Herodot und andere zeitgenösstche Quellen es
hinnahm. Die kritische Geschichtswissenschaft von heute weiß, daß dem Sieg
des Miltiades bei Marathon nicht entfernt die Bedeutung einer faktischen
Niederkämpfung der gegnerischen Hauptmacht zukommt; die kriegsgeschichtlichen
Forschungen Delbrücks und mancher anderen haben heute hinlänglich erwiesen,
daß die Zahlen, die die Griechen über die Heere des Xerxes und anderer
persischer Feldherren überliefern, ins Lächerliche übertrieben sind, in unendlich
viel höherem Maße als die Gefangenenzahlen der Heeresberichte Joffres und




Der Begriff der historischen Wahrheit und die
Schlacht an der Marne
von Dr. Richard Müller

is in den ersten Wochen dieses Krieges die Wirkungen des von
unseren Gegnern, England voran, eröffneten Lügenfeldzuges bei
uns bekannt wurden, da dämmerte manchem, im übrigen in
sittlicher Entrüstung schwelgenden Kirchturmpolitikus die Erkenntnis,
daß die Unwahrheit und noch mehr die Halbwahrheit keineswegs
etwas Irreales, ein bloßer Trug, der vor der Wahrheit wie Schnee vor der
Märzsonne vergehen müsse, sei, sondern daß die Unwahrheit auch eine Wirklich¬
keit ist und zwar eine von ungeheurer Macht. In dieser Erkenntnis erfolgte
unter dem Feldruf „Die Wahrheit ins Ausland" eine nicht immer geschickte
Propaganda nach den neutralen Ländern. Aber im Grunde beruhigte man sich
doch in weitesten Kreisen bei uns mit der bequemen Überzeugung, daß die
Wahrheit schon von selber ans Licht kommen werde, daß die Weltgeschichte
das Weltgericht sei und daß vor dem „Forum der Geschichte" alle Machenschaften
unserer Gegner so gründlich entlarvt werden würden, daß auch ein Blinder
den teuflischen Bocksfuß bei ihnen wahrnehmen müsse.

Derartige Überzeugungen mögen Beweise für ein sehr gutes Gewissen
sein; Beweise für starke Intelligenz und große Kenntnisse der Geschichte sind
sie nicht. Wir schieben die Erörterung der im Begriffe der historischen Wahr¬
heit liegenden Schwierigkeiten noch etwas zurück, wir wollen nur durch ein
paar Beispiele erhärten, daß es mit dem selbstverständlichen Sieg der historischen
Wahrheit keine so einfache Sache ist. Heute, das heißt nach über zweitausend
Jahren, ist die kritische Geschichtswissenschaft sich allerdings darüber im Reinen,
daß es mit den glorreichen Siegen der Griechen über die Asiaten in den
sogenannten Perserkriegen nicht ganz so bestellt war, wie man zweitausend
Jahre lang im Vertrauen auf Herodot und andere zeitgenösstche Quellen es
hinnahm. Die kritische Geschichtswissenschaft von heute weiß, daß dem Sieg
des Miltiades bei Marathon nicht entfernt die Bedeutung einer faktischen
Niederkämpfung der gegnerischen Hauptmacht zukommt; die kriegsgeschichtlichen
Forschungen Delbrücks und mancher anderen haben heute hinlänglich erwiesen,
daß die Zahlen, die die Griechen über die Heere des Xerxes und anderer
persischer Feldherren überliefern, ins Lächerliche übertrieben sind, in unendlich
viel höherem Maße als die Gefangenenzahlen der Heeresberichte Joffres und


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[0192] [Abbildung] Der Begriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne von Dr. Richard Müller is in den ersten Wochen dieses Krieges die Wirkungen des von unseren Gegnern, England voran, eröffneten Lügenfeldzuges bei uns bekannt wurden, da dämmerte manchem, im übrigen in sittlicher Entrüstung schwelgenden Kirchturmpolitikus die Erkenntnis, daß die Unwahrheit und noch mehr die Halbwahrheit keineswegs etwas Irreales, ein bloßer Trug, der vor der Wahrheit wie Schnee vor der Märzsonne vergehen müsse, sei, sondern daß die Unwahrheit auch eine Wirklich¬ keit ist und zwar eine von ungeheurer Macht. In dieser Erkenntnis erfolgte unter dem Feldruf „Die Wahrheit ins Ausland" eine nicht immer geschickte Propaganda nach den neutralen Ländern. Aber im Grunde beruhigte man sich doch in weitesten Kreisen bei uns mit der bequemen Überzeugung, daß die Wahrheit schon von selber ans Licht kommen werde, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei und daß vor dem „Forum der Geschichte" alle Machenschaften unserer Gegner so gründlich entlarvt werden würden, daß auch ein Blinder den teuflischen Bocksfuß bei ihnen wahrnehmen müsse. Derartige Überzeugungen mögen Beweise für ein sehr gutes Gewissen sein; Beweise für starke Intelligenz und große Kenntnisse der Geschichte sind sie nicht. Wir schieben die Erörterung der im Begriffe der historischen Wahr¬ heit liegenden Schwierigkeiten noch etwas zurück, wir wollen nur durch ein paar Beispiele erhärten, daß es mit dem selbstverständlichen Sieg der historischen Wahrheit keine so einfache Sache ist. Heute, das heißt nach über zweitausend Jahren, ist die kritische Geschichtswissenschaft sich allerdings darüber im Reinen, daß es mit den glorreichen Siegen der Griechen über die Asiaten in den sogenannten Perserkriegen nicht ganz so bestellt war, wie man zweitausend Jahre lang im Vertrauen auf Herodot und andere zeitgenösstche Quellen es hinnahm. Die kritische Geschichtswissenschaft von heute weiß, daß dem Sieg des Miltiades bei Marathon nicht entfernt die Bedeutung einer faktischen Niederkämpfung der gegnerischen Hauptmacht zukommt; die kriegsgeschichtlichen Forschungen Delbrücks und mancher anderen haben heute hinlänglich erwiesen, daß die Zahlen, die die Griechen über die Heere des Xerxes und anderer persischer Feldherren überliefern, ins Lächerliche übertrieben sind, in unendlich viel höherem Maße als die Gefangenenzahlen der Heeresberichte Joffres und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/192>, abgerufen am 04.05.2024.