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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande

Verhältnis zu verbleiben, oder auf volle Gleichbehandlung mit den anderen
Reichsgenossen ein Anrecht hätte, mag aus sich beruhen. Im Interesse des
Reiches liegt es gewiß nicht, wenn in seiner Westmark ein Herd sich stets er¬
neuernder Unzufriedenheit und Agitation fortbesteht.

Um über das Bedürfnis der Reform volle Klarheit zu gewinnen, muß
die Rechtslage des Landes, wie sie seit 1871 auf Grund der Ordnungen des
Reiches, zumal des umfassenden Gesetzes von 1911 sich gebildet hat, in ihren
charakteristischen Zügen festgestellt werden. Das ist um so mehr geboten, als
weitgehendes Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Elsaß-Lothringer
zu Abweichungen von der Grundanlage geführt hat. die eine Fülle von Zweifeln
und Streitfragen im Gefolge gehabt haben. Und auch abgesehen von der Frage
der Umgestaltung ist die Klarstellung des Bestehenden von Wert, weil in weiten
Kreisen die Kenntnis der Rechtszustände des Reichslandes durchaus unge¬
nügend ist.

Die weitere Aufgabe wird dann sein, für durchgreifende Neuordnung, die
bei der gegebenen entschieden nicht befriedigenden Lage in der Tat ernstlich zu
erwägen ist, die rechtlichen Voraussetzungen und Wege zu bestimmen. Dabei
kommt neben Umwandlung in einen Bundesstaat in gleichem Maße die An¬
nexion des Landes in Betracht. Gerade dieses letztere Bestreben, Einverleibung
in einen, mehrere deutsche Einzelstaaten (Preußen. Bayern usw.), das 1870/71
gegen die damals entschieden volkstümliche und von Bismarcks mächtigem Willen
getragene Reichslandsidee nicht durchdringen konnte, ist neuerdings wieder zur
Geltung gekommen. Die politische Berechtigung des einen und des anderen Ver¬
langens gemessen an den Erfahrungen, die im Elsaß und in Lothringen gemacht
worden sind, seit beiden Gebieten in steigendem Maße Selbständigkeit zuteil
geworden war, bleibt beiseite. Es soll nur geprüft werden, was Recht ist und
auf welchen Wegen neues Recht werden kann.

Z 1. Die bestehende Rechtslage
I.

Die staatsrechtliche Zugehörigkeit zum Reichsgebiet beginnt für Elsaß-
Lothringen mit dem Vereinigungsgesetz vom 9. Juni 1871. Was voranging,
die kriegerische Besetzung -- Kabinettsorder des Königs von Preußen vom
14. August 1870 -- und die Abtretung durch Frankreich an das Reich
Präliminarfrieden von Versailles vom 26. Februar 1871, bestätigt durch Frank¬
furter Frieden vom 10. Mai 1871 -- bereitete nur vor und lieferte nur die
völkerrechtliche Grundlage, auf der die Eingliederung des Landes in das Reich
sich vollziehen konnte.

Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen steht nach dem Vereinigungsgesetze
dem Reiche, der Gesamtheit der verbündeten Regierungen zu; der Kaiser übt
sie aus als Organ des Reiches, nicht als Landesherr von Elsaß-Lothringen,
Ver.-Geh. Z 3. Die Anordnungen des Kaisers werden vom Reichskanzler als
Reichsminister für Elsaß-Lothringen gegengezeichnet, Z 4. Bei Gesetzen bedarf
es der Zustimmung des Bundesrates, Z 3. Die Sanktion der Gesetze ist Sache


Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande

Verhältnis zu verbleiben, oder auf volle Gleichbehandlung mit den anderen
Reichsgenossen ein Anrecht hätte, mag aus sich beruhen. Im Interesse des
Reiches liegt es gewiß nicht, wenn in seiner Westmark ein Herd sich stets er¬
neuernder Unzufriedenheit und Agitation fortbesteht.

Um über das Bedürfnis der Reform volle Klarheit zu gewinnen, muß
die Rechtslage des Landes, wie sie seit 1871 auf Grund der Ordnungen des
Reiches, zumal des umfassenden Gesetzes von 1911 sich gebildet hat, in ihren
charakteristischen Zügen festgestellt werden. Das ist um so mehr geboten, als
weitgehendes Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Elsaß-Lothringer
zu Abweichungen von der Grundanlage geführt hat. die eine Fülle von Zweifeln
und Streitfragen im Gefolge gehabt haben. Und auch abgesehen von der Frage
der Umgestaltung ist die Klarstellung des Bestehenden von Wert, weil in weiten
Kreisen die Kenntnis der Rechtszustände des Reichslandes durchaus unge¬
nügend ist.

Die weitere Aufgabe wird dann sein, für durchgreifende Neuordnung, die
bei der gegebenen entschieden nicht befriedigenden Lage in der Tat ernstlich zu
erwägen ist, die rechtlichen Voraussetzungen und Wege zu bestimmen. Dabei
kommt neben Umwandlung in einen Bundesstaat in gleichem Maße die An¬
nexion des Landes in Betracht. Gerade dieses letztere Bestreben, Einverleibung
in einen, mehrere deutsche Einzelstaaten (Preußen. Bayern usw.), das 1870/71
gegen die damals entschieden volkstümliche und von Bismarcks mächtigem Willen
getragene Reichslandsidee nicht durchdringen konnte, ist neuerdings wieder zur
Geltung gekommen. Die politische Berechtigung des einen und des anderen Ver¬
langens gemessen an den Erfahrungen, die im Elsaß und in Lothringen gemacht
worden sind, seit beiden Gebieten in steigendem Maße Selbständigkeit zuteil
geworden war, bleibt beiseite. Es soll nur geprüft werden, was Recht ist und
auf welchen Wegen neues Recht werden kann.

Z 1. Die bestehende Rechtslage
I.

Die staatsrechtliche Zugehörigkeit zum Reichsgebiet beginnt für Elsaß-
Lothringen mit dem Vereinigungsgesetz vom 9. Juni 1871. Was voranging,
die kriegerische Besetzung — Kabinettsorder des Königs von Preußen vom
14. August 1870 — und die Abtretung durch Frankreich an das Reich
Präliminarfrieden von Versailles vom 26. Februar 1871, bestätigt durch Frank¬
furter Frieden vom 10. Mai 1871 — bereitete nur vor und lieferte nur die
völkerrechtliche Grundlage, auf der die Eingliederung des Landes in das Reich
sich vollziehen konnte.

Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen steht nach dem Vereinigungsgesetze
dem Reiche, der Gesamtheit der verbündeten Regierungen zu; der Kaiser übt
sie aus als Organ des Reiches, nicht als Landesherr von Elsaß-Lothringen,
Ver.-Geh. Z 3. Die Anordnungen des Kaisers werden vom Reichskanzler als
Reichsminister für Elsaß-Lothringen gegengezeichnet, Z 4. Bei Gesetzen bedarf
es der Zustimmung des Bundesrates, Z 3. Die Sanktion der Gesetze ist Sache


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[0378] Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande Verhältnis zu verbleiben, oder auf volle Gleichbehandlung mit den anderen Reichsgenossen ein Anrecht hätte, mag aus sich beruhen. Im Interesse des Reiches liegt es gewiß nicht, wenn in seiner Westmark ein Herd sich stets er¬ neuernder Unzufriedenheit und Agitation fortbesteht. Um über das Bedürfnis der Reform volle Klarheit zu gewinnen, muß die Rechtslage des Landes, wie sie seit 1871 auf Grund der Ordnungen des Reiches, zumal des umfassenden Gesetzes von 1911 sich gebildet hat, in ihren charakteristischen Zügen festgestellt werden. Das ist um so mehr geboten, als weitgehendes Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Elsaß-Lothringer zu Abweichungen von der Grundanlage geführt hat. die eine Fülle von Zweifeln und Streitfragen im Gefolge gehabt haben. Und auch abgesehen von der Frage der Umgestaltung ist die Klarstellung des Bestehenden von Wert, weil in weiten Kreisen die Kenntnis der Rechtszustände des Reichslandes durchaus unge¬ nügend ist. Die weitere Aufgabe wird dann sein, für durchgreifende Neuordnung, die bei der gegebenen entschieden nicht befriedigenden Lage in der Tat ernstlich zu erwägen ist, die rechtlichen Voraussetzungen und Wege zu bestimmen. Dabei kommt neben Umwandlung in einen Bundesstaat in gleichem Maße die An¬ nexion des Landes in Betracht. Gerade dieses letztere Bestreben, Einverleibung in einen, mehrere deutsche Einzelstaaten (Preußen. Bayern usw.), das 1870/71 gegen die damals entschieden volkstümliche und von Bismarcks mächtigem Willen getragene Reichslandsidee nicht durchdringen konnte, ist neuerdings wieder zur Geltung gekommen. Die politische Berechtigung des einen und des anderen Ver¬ langens gemessen an den Erfahrungen, die im Elsaß und in Lothringen gemacht worden sind, seit beiden Gebieten in steigendem Maße Selbständigkeit zuteil geworden war, bleibt beiseite. Es soll nur geprüft werden, was Recht ist und auf welchen Wegen neues Recht werden kann. Z 1. Die bestehende Rechtslage I. Die staatsrechtliche Zugehörigkeit zum Reichsgebiet beginnt für Elsaß- Lothringen mit dem Vereinigungsgesetz vom 9. Juni 1871. Was voranging, die kriegerische Besetzung — Kabinettsorder des Königs von Preußen vom 14. August 1870 — und die Abtretung durch Frankreich an das Reich Präliminarfrieden von Versailles vom 26. Februar 1871, bestätigt durch Frank¬ furter Frieden vom 10. Mai 1871 — bereitete nur vor und lieferte nur die völkerrechtliche Grundlage, auf der die Eingliederung des Landes in das Reich sich vollziehen konnte. Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen steht nach dem Vereinigungsgesetze dem Reiche, der Gesamtheit der verbündeten Regierungen zu; der Kaiser übt sie aus als Organ des Reiches, nicht als Landesherr von Elsaß-Lothringen, Ver.-Geh. Z 3. Die Anordnungen des Kaisers werden vom Reichskanzler als Reichsminister für Elsaß-Lothringen gegengezeichnet, Z 4. Bei Gesetzen bedarf es der Zustimmung des Bundesrates, Z 3. Die Sanktion der Gesetze ist Sache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/378>, abgerufen am 04.05.2024.