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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Die belgische Neutralität

wird, sie kann ihn -- das schärfste Zuchtmittel -- in den Winkel stellen und
mundtot machen. Nur selten wird er gegen die Disziplin der Partei aufbegehren.
Von einer ganzen Partei aber kann und muß man verlangen, daß sie nicht, wie
so leicht der einzelne, dem Parteifanatismns erliegt. In jeder Partei gibt es
besonnene Elemente. Es klingt ja etwas wunderlich, aber es ist doch so: eine
Partei pflegt nicht so parteiisch zu sein wie der einzelne. Ein Jammer, wenn eine
ganze Partei es vergäße, daß das Vaterland mehr ist als die Parken Wenn sie
es vergäße -- es wäre ja möglich -- dann freilich fällt die Würde des Reichs¬
tages in den Staub, nichts kann sie retten. Aber der Fluch des Volkes wird diese
ehrvergessene Partei früher oder später niederschlagen. Wir haben ein besseres
Zutrauen zu Deutschlands Parteien, zumal in gegenwärtiger, entscheidungsschwerer
Zeit. Wenn die Parteien wollen, können sie die Würde des Reichstages, die
zugleich des deutscheu Volkes Würde ist, mehr wahren als bisher. Und sie sollen,
sie müssen es wollen! Das deutsche Volk will es.




Die belgische Neutralität
Dr. Karl Buchheim Von

Is vor fünf Jahren -- man greift sich an die Stirn und staunt,
daß es nicht länger her istl -- die Balkanstaaten die europäische
Türkei zerschlagen hatten und nachher mühsam genug unter Assistenz
der Großmächte die Beute unter sich verteilten, da blieb wegen der
widerstreitenden Interessen Österreich-Ungarns und Italiens die
albanische Adriaküste als ein Gebiet übrig, von dem die europäischen Diplomaten
schlechterdings nicht recht wußten, wer hier der Erbe der bisherigen türkischen
Herrschaft hätte werden können. Die Serben wären ja gar zu gern zur Adria
macht aufgerückt, und nitida von Montenegro hatte sich schon in Skutari festgesetzt.
Aber Stärkere waren entschlossen, das nicht zu leiden. Kurz, als die Herrschafts¬
verhältnisse des Balkangebietes neu feststanden, da blieb Albanien übrig und wurde
ein eigener neuer Staat, nicht etwa nach dem Willen der Völkerschaften, die das
wilde Bergland bewohnen und die von Geschlechtertrotz und schroffen konfessionellen
Gegensätzen zerrissen nicht daran denken, eine einheitliche Nation zu sein, sondern
kraft der Verlegenheit der Diplomaten. Das moderne politische Publikum, dem
der staatenbildende Wille allzuoft als etwas unbedingt Heroisches und Heiliges
vorgeführt wird, hat also hier erlebt, wie Staaten auch entstehen können. Es
wird, wenn es an dies Erlebnis denkt, nicht nur dieses Albanien richtig ein¬
schätzen, sondern auch ein anderes Kunstprodukt europäischer Diplomatie, dessen
Herstellung nur schon so lange zurückliegt, daß niemand mehr aus eigenem Erlebnis


Die belgische Neutralität

wird, sie kann ihn — das schärfste Zuchtmittel — in den Winkel stellen und
mundtot machen. Nur selten wird er gegen die Disziplin der Partei aufbegehren.
Von einer ganzen Partei aber kann und muß man verlangen, daß sie nicht, wie
so leicht der einzelne, dem Parteifanatismns erliegt. In jeder Partei gibt es
besonnene Elemente. Es klingt ja etwas wunderlich, aber es ist doch so: eine
Partei pflegt nicht so parteiisch zu sein wie der einzelne. Ein Jammer, wenn eine
ganze Partei es vergäße, daß das Vaterland mehr ist als die Parken Wenn sie
es vergäße — es wäre ja möglich — dann freilich fällt die Würde des Reichs¬
tages in den Staub, nichts kann sie retten. Aber der Fluch des Volkes wird diese
ehrvergessene Partei früher oder später niederschlagen. Wir haben ein besseres
Zutrauen zu Deutschlands Parteien, zumal in gegenwärtiger, entscheidungsschwerer
Zeit. Wenn die Parteien wollen, können sie die Würde des Reichstages, die
zugleich des deutscheu Volkes Würde ist, mehr wahren als bisher. Und sie sollen,
sie müssen es wollen! Das deutsche Volk will es.




Die belgische Neutralität
Dr. Karl Buchheim Von

Is vor fünf Jahren — man greift sich an die Stirn und staunt,
daß es nicht länger her istl — die Balkanstaaten die europäische
Türkei zerschlagen hatten und nachher mühsam genug unter Assistenz
der Großmächte die Beute unter sich verteilten, da blieb wegen der
widerstreitenden Interessen Österreich-Ungarns und Italiens die
albanische Adriaküste als ein Gebiet übrig, von dem die europäischen Diplomaten
schlechterdings nicht recht wußten, wer hier der Erbe der bisherigen türkischen
Herrschaft hätte werden können. Die Serben wären ja gar zu gern zur Adria
macht aufgerückt, und nitida von Montenegro hatte sich schon in Skutari festgesetzt.
Aber Stärkere waren entschlossen, das nicht zu leiden. Kurz, als die Herrschafts¬
verhältnisse des Balkangebietes neu feststanden, da blieb Albanien übrig und wurde
ein eigener neuer Staat, nicht etwa nach dem Willen der Völkerschaften, die das
wilde Bergland bewohnen und die von Geschlechtertrotz und schroffen konfessionellen
Gegensätzen zerrissen nicht daran denken, eine einheitliche Nation zu sein, sondern
kraft der Verlegenheit der Diplomaten. Das moderne politische Publikum, dem
der staatenbildende Wille allzuoft als etwas unbedingt Heroisches und Heiliges
vorgeführt wird, hat also hier erlebt, wie Staaten auch entstehen können. Es
wird, wenn es an dies Erlebnis denkt, nicht nur dieses Albanien richtig ein¬
schätzen, sondern auch ein anderes Kunstprodukt europäischer Diplomatie, dessen
Herstellung nur schon so lange zurückliegt, daß niemand mehr aus eigenem Erlebnis


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/200>, abgerufen am 06.05.2024.