Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Belgien

er Krieg ging um Deutschland, der Frieden geht um Belgien.
Das ist die Quintessenz aller neueren Kundgebungen der feind-
lichen Westmächte. "Volle Souveränität, Unabhängigkeit und
Schadloshaltung dieses Staates", lautet die in der Hauptsache
ohne Zweifel ernst gemeinte Forderung. Streng genommen setzt
sich die Entente damit in einen gewissen Widerspruch mit sich selbst; denn zu
oberst ihrer Kriegsziele stand sonst immer das Nationalitäts- und Selbst¬
bestimmungsrecht der Völker. Nach dem Nationalitätsprinzip müßte Belgien
zur größeren Hülste, die germanisch-niederländischen Blutes und ebensolcher
Kultur ist, an Holland, zur kleineren, die der romanisch-keltischen Rasse und
Kultur zugehört, an Frankreich fallen. Das Selbstbestimmungsrecht würde
kaum zu ernstlichem Widerspruche führen, zumal die politischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Verhältnisse einer solchen Aufteilung entgegenkämen. Diese
Lösung, die Frankreich zugleich einen vollwertigen Ausgleich für Elsaß-Lothringen
böte, hätte manches für sich. Im besonderen steht ihr aber das dritte Zauberrezept
aus der Friedensretorte der Entente im Wege: der "Schutz der Kleinstaaten".
Die Entente besteht darauf, weil es ihr gerade in den politischen Kram paßt
und sich überdies gut ausnimmt, völkerschaftliche Sozialpolitik zu treiben. Das
nötigt sie, mindestens für Belgien, das sich, wenn auch wider Willen und
Voraussicht, für sie geopfert hat, an diesem so laut und so oft verkündeten
Prinzip festzuhalten.

Der wahre Leitgrund hierfür ist natürlich ein anderer. Belgien ist sowohl
für Deutschland wie für England wie für Frankreich das Ein- und Ausfalltor
von und nach ihren Ländern, für England außerdem von und nach dem Welt¬
meer, das es als sein eigentliches nationales Sonderreich, als den ihm ge¬
hörigen sechsten Erdteil betrachtet; denn England ist kein europäischer, überhaupt
kein Landstaat, sondern ein interozeanisches Wasserreich zwischen den Welten,
dessen Landbesitzungen lediglich die Tragepfeiler, die Flotten- und Handels-


GreniMen IV 1917 S


Belgien

er Krieg ging um Deutschland, der Frieden geht um Belgien.
Das ist die Quintessenz aller neueren Kundgebungen der feind-
lichen Westmächte. „Volle Souveränität, Unabhängigkeit und
Schadloshaltung dieses Staates", lautet die in der Hauptsache
ohne Zweifel ernst gemeinte Forderung. Streng genommen setzt
sich die Entente damit in einen gewissen Widerspruch mit sich selbst; denn zu
oberst ihrer Kriegsziele stand sonst immer das Nationalitäts- und Selbst¬
bestimmungsrecht der Völker. Nach dem Nationalitätsprinzip müßte Belgien
zur größeren Hülste, die germanisch-niederländischen Blutes und ebensolcher
Kultur ist, an Holland, zur kleineren, die der romanisch-keltischen Rasse und
Kultur zugehört, an Frankreich fallen. Das Selbstbestimmungsrecht würde
kaum zu ernstlichem Widerspruche führen, zumal die politischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Verhältnisse einer solchen Aufteilung entgegenkämen. Diese
Lösung, die Frankreich zugleich einen vollwertigen Ausgleich für Elsaß-Lothringen
böte, hätte manches für sich. Im besonderen steht ihr aber das dritte Zauberrezept
aus der Friedensretorte der Entente im Wege: der „Schutz der Kleinstaaten".
Die Entente besteht darauf, weil es ihr gerade in den politischen Kram paßt
und sich überdies gut ausnimmt, völkerschaftliche Sozialpolitik zu treiben. Das
nötigt sie, mindestens für Belgien, das sich, wenn auch wider Willen und
Voraussicht, für sie geopfert hat, an diesem so laut und so oft verkündeten
Prinzip festzuhalten.

Der wahre Leitgrund hierfür ist natürlich ein anderer. Belgien ist sowohl
für Deutschland wie für England wie für Frankreich das Ein- und Ausfalltor
von und nach ihren Ländern, für England außerdem von und nach dem Welt¬
meer, das es als sein eigentliches nationales Sonderreich, als den ihm ge¬
hörigen sechsten Erdteil betrachtet; denn England ist kein europäischer, überhaupt
kein Landstaat, sondern ein interozeanisches Wasserreich zwischen den Welten,
dessen Landbesitzungen lediglich die Tragepfeiler, die Flotten- und Handels-


GreniMen IV 1917 S
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0077" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/332792"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341905_332712/figures/grenzboten_341905_332712_332792_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Belgien</head><lb/>
          <p xml:id="ID_288"> er Krieg ging um Deutschland, der Frieden geht um Belgien.<lb/>
Das ist die Quintessenz aller neueren Kundgebungen der feind-<lb/>
lichen Westmächte. &#x201E;Volle Souveränität, Unabhängigkeit und<lb/>
Schadloshaltung dieses Staates", lautet die in der Hauptsache<lb/>
ohne Zweifel ernst gemeinte Forderung. Streng genommen setzt<lb/>
sich die Entente damit in einen gewissen Widerspruch mit sich selbst; denn zu<lb/>
oberst ihrer Kriegsziele stand sonst immer das Nationalitäts- und Selbst¬<lb/>
bestimmungsrecht der Völker. Nach dem Nationalitätsprinzip müßte Belgien<lb/>
zur größeren Hülste, die germanisch-niederländischen Blutes und ebensolcher<lb/>
Kultur ist, an Holland, zur kleineren, die der romanisch-keltischen Rasse und<lb/>
Kultur zugehört, an Frankreich fallen. Das Selbstbestimmungsrecht würde<lb/>
kaum zu ernstlichem Widerspruche führen, zumal die politischen, wirtschaftlichen<lb/>
und kulturellen Verhältnisse einer solchen Aufteilung entgegenkämen. Diese<lb/>
Lösung, die Frankreich zugleich einen vollwertigen Ausgleich für Elsaß-Lothringen<lb/>
böte, hätte manches für sich. Im besonderen steht ihr aber das dritte Zauberrezept<lb/>
aus der Friedensretorte der Entente im Wege: der &#x201E;Schutz der Kleinstaaten".<lb/>
Die Entente besteht darauf, weil es ihr gerade in den politischen Kram paßt<lb/>
und sich überdies gut ausnimmt, völkerschaftliche Sozialpolitik zu treiben. Das<lb/>
nötigt sie, mindestens für Belgien, das sich, wenn auch wider Willen und<lb/>
Voraussicht, für sie geopfert hat, an diesem so laut und so oft verkündeten<lb/>
Prinzip festzuhalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_289" next="#ID_290"> Der wahre Leitgrund hierfür ist natürlich ein anderer. Belgien ist sowohl<lb/>
für Deutschland wie für England wie für Frankreich das Ein- und Ausfalltor<lb/>
von und nach ihren Ländern, für England außerdem von und nach dem Welt¬<lb/>
meer, das es als sein eigentliches nationales Sonderreich, als den ihm ge¬<lb/>
hörigen sechsten Erdteil betrachtet; denn England ist kein europäischer, überhaupt<lb/>
kein Landstaat, sondern ein interozeanisches Wasserreich zwischen den Welten,<lb/>
dessen Landbesitzungen lediglich die Tragepfeiler, die Flotten- und Handels-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GreniMen IV 1917 S</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0077] [Abbildung] Belgien er Krieg ging um Deutschland, der Frieden geht um Belgien. Das ist die Quintessenz aller neueren Kundgebungen der feind- lichen Westmächte. „Volle Souveränität, Unabhängigkeit und Schadloshaltung dieses Staates", lautet die in der Hauptsache ohne Zweifel ernst gemeinte Forderung. Streng genommen setzt sich die Entente damit in einen gewissen Widerspruch mit sich selbst; denn zu oberst ihrer Kriegsziele stand sonst immer das Nationalitäts- und Selbst¬ bestimmungsrecht der Völker. Nach dem Nationalitätsprinzip müßte Belgien zur größeren Hülste, die germanisch-niederländischen Blutes und ebensolcher Kultur ist, an Holland, zur kleineren, die der romanisch-keltischen Rasse und Kultur zugehört, an Frankreich fallen. Das Selbstbestimmungsrecht würde kaum zu ernstlichem Widerspruche führen, zumal die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse einer solchen Aufteilung entgegenkämen. Diese Lösung, die Frankreich zugleich einen vollwertigen Ausgleich für Elsaß-Lothringen böte, hätte manches für sich. Im besonderen steht ihr aber das dritte Zauberrezept aus der Friedensretorte der Entente im Wege: der „Schutz der Kleinstaaten". Die Entente besteht darauf, weil es ihr gerade in den politischen Kram paßt und sich überdies gut ausnimmt, völkerschaftliche Sozialpolitik zu treiben. Das nötigt sie, mindestens für Belgien, das sich, wenn auch wider Willen und Voraussicht, für sie geopfert hat, an diesem so laut und so oft verkündeten Prinzip festzuhalten. Der wahre Leitgrund hierfür ist natürlich ein anderer. Belgien ist sowohl für Deutschland wie für England wie für Frankreich das Ein- und Ausfalltor von und nach ihren Ländern, für England außerdem von und nach dem Welt¬ meer, das es als sein eigentliches nationales Sonderreich, als den ihm ge¬ hörigen sechsten Erdteil betrachtet; denn England ist kein europäischer, überhaupt kein Landstaat, sondern ein interozeanisches Wasserreich zwischen den Welten, dessen Landbesitzungen lediglich die Tragepfeiler, die Flotten- und Handels- GreniMen IV 1917 S

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/77
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/77>, abgerufen am 06.05.2024.