Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Französische Stimmungen

weit davon entfernt, die erschreckende Wahrheit zu ahnen. Ich erinnere mich der
fast allgemeinen Bestürzung, als wir an einem gewissen Morgen lasen, daß man
in der Gegend von Lille Ulanen gesehen habe. Diese Nachricht schlug wie eine
Bombe ein. Wir vermuteten die deutschen Truppen weit hinter unserer Grenze.
Man hatte uns dermaßen über die Stärke und Dauer des belgischen Widerstandes
getauscht, daß uns die Kaiserlichen überfielen, als wir sie noch immobilisiert vor
Namur wähnten. Die folgenden Tage brachten uns die Enthüllung des außer¬
ordentlich schnellen feindlichen Marsches durch den Norden Frankreichs. Wir wußten
nicht mehr, was wir davon halten sollten, und es verbreiteten sich die wildesten
Gerüchte über Verrat, welche die Menge ohne weitere Prüfung aufnahm. Unser
Erstaunen wuchs noch bei dein Schauspiel, welches uns während einiger Tage
der Marneschlacht die Hauptstraße von X. bot. Soldaten aller Armeen und aller
Regimenter, Offiziere und Mannschaften drängten sich dort. Das bunte Gemisch
der Uniformen hinterließ einen peinlichen Eindruck. Ich hatte die Empfindung
eines Zusammenbruchs. Am Abend irrte ich in der Umgebung des Bahnhofs
umher und traf eine Gruppe Zuaven und Turkos, welche, da sie die Hoffnung,
ihre Korps wieder zu finden, aufgaben, zu ihrem Depot Sathoney zurückkehrten.
Sie erzählten mir von Charleroi, der darauffolgenden Niederlage und Flucht.
Ihre Entmutigung war groß und steckte mich an. An jenem Abend dachte ich an
Sedan und verzweifelte an der Zukunft. Aber ich dachte nicht im entferntesten,
daß das schreckliche Blutbad noch Jahre dauern würde, und daß unser unglück¬
liches Land erst am Anfang seiner Leiden sei. Ich war nicht der einzige Ver¬
zweifelnde. Plötzlich aufgeklärt und sehend geworden, gab man sich allen Be¬
fürchtungen hin, sah den schlimmsten Katastrophen entgegen. Erst als der deutschen
Offensive durch die Wiederherstellung der französischen Ostarmee Einhalt geboten
wurde und nach der Marneschlacht schöpften wir wieder Hoffnung und Mut. Und
noch glaubten wir zuerst nicht recht daran. Wir befürchteten irgendeinen neuen
..Bluff" einer Presse, die seit dieser Zeit das ihr noch in Frankreich gebliebene
Vertrauen verloren hatte. Hier sieht man so recht, wie gefährlich diese Lügen¬
regierung ist, von der wir uns nach einer mehr als zweijährigen Kriegsdauer
noch nicht frei machen konnten: sie tötet das Vertrauen, entmutigt und macht
vor der unerwarteten, grausamen Enthüllung der Wirklichkeit kraftlos und schwach.
Sowohl für die Völker als auch für die einzelnen ist nichts wertvoller, als bei
allem, was auch kommen mag, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.


Die religiöse Wiedergeburt?

Nach Ansicht der katholischen Schriftsteller soll der Krieg eine wahre religiöse
Wiedergeburt in Frankreich hervorgebracht haben. Die "Älteste Tochter der Kirche"
soll zu sich gekommen sein, und die Aufnahme des verlorenen und reumütigen Kindes
durch Rom bevorstehen. Ist es nötig, die Hoffnungen, welche die streitenden Katho¬
liken auf diese angebliche Auferstehung gründen, genau zu bezeichnen: Wieder¬
herstellung des Konkordats und Wiedereinsetzung der Autorität, oder besser -- der
politischen und moralischen Oberherrschaft der französischen Geistlichkeit. Ich sehe
von den Besessenen, die vom "Weißen Schrecken" träumen, ab und es fragt sich
nur noch, was diese Hoffnungen wert sind, und ob das, was man etwas kühn
religiöse Wiedergeburt nennt, nicht vielmehr eine der oberflächlichen Kundgebungen
ist, die durch die Umstünde geschaffen sind und mit ihnen erlöschen. Über diese
Frage ist schon sehr gestritten worden. Im Jahre 1915 hat die "Grande Revue",
eine unserer besten, vorkämpfenden Veröffentlichungen, eine ernste, überaus inter¬
essante Untersuchung dieser Angelegenheit angestellt, die ich gelesen habe. Es ist
klar, daß die Aussagen verschieden sein mußten und sich widersprachen. Sie waren
es nach Wunsch. Aber auch viele fanden den Grund dieser Uneinigkeit heraus,
der in der beständigen Verwirrung -- unbewußt oder vorbedacht -- des Gefühls
und der Betätigung liegt. Wer wollte bestreiten, daß wir im August 1914 eine
Art religiöser Überspanntheit erlebten? Ich wohnte in einer Stadt, wo das


Französische Stimmungen

weit davon entfernt, die erschreckende Wahrheit zu ahnen. Ich erinnere mich der
fast allgemeinen Bestürzung, als wir an einem gewissen Morgen lasen, daß man
in der Gegend von Lille Ulanen gesehen habe. Diese Nachricht schlug wie eine
Bombe ein. Wir vermuteten die deutschen Truppen weit hinter unserer Grenze.
Man hatte uns dermaßen über die Stärke und Dauer des belgischen Widerstandes
getauscht, daß uns die Kaiserlichen überfielen, als wir sie noch immobilisiert vor
Namur wähnten. Die folgenden Tage brachten uns die Enthüllung des außer¬
ordentlich schnellen feindlichen Marsches durch den Norden Frankreichs. Wir wußten
nicht mehr, was wir davon halten sollten, und es verbreiteten sich die wildesten
Gerüchte über Verrat, welche die Menge ohne weitere Prüfung aufnahm. Unser
Erstaunen wuchs noch bei dein Schauspiel, welches uns während einiger Tage
der Marneschlacht die Hauptstraße von X. bot. Soldaten aller Armeen und aller
Regimenter, Offiziere und Mannschaften drängten sich dort. Das bunte Gemisch
der Uniformen hinterließ einen peinlichen Eindruck. Ich hatte die Empfindung
eines Zusammenbruchs. Am Abend irrte ich in der Umgebung des Bahnhofs
umher und traf eine Gruppe Zuaven und Turkos, welche, da sie die Hoffnung,
ihre Korps wieder zu finden, aufgaben, zu ihrem Depot Sathoney zurückkehrten.
Sie erzählten mir von Charleroi, der darauffolgenden Niederlage und Flucht.
Ihre Entmutigung war groß und steckte mich an. An jenem Abend dachte ich an
Sedan und verzweifelte an der Zukunft. Aber ich dachte nicht im entferntesten,
daß das schreckliche Blutbad noch Jahre dauern würde, und daß unser unglück¬
liches Land erst am Anfang seiner Leiden sei. Ich war nicht der einzige Ver¬
zweifelnde. Plötzlich aufgeklärt und sehend geworden, gab man sich allen Be¬
fürchtungen hin, sah den schlimmsten Katastrophen entgegen. Erst als der deutschen
Offensive durch die Wiederherstellung der französischen Ostarmee Einhalt geboten
wurde und nach der Marneschlacht schöpften wir wieder Hoffnung und Mut. Und
noch glaubten wir zuerst nicht recht daran. Wir befürchteten irgendeinen neuen
..Bluff" einer Presse, die seit dieser Zeit das ihr noch in Frankreich gebliebene
Vertrauen verloren hatte. Hier sieht man so recht, wie gefährlich diese Lügen¬
regierung ist, von der wir uns nach einer mehr als zweijährigen Kriegsdauer
noch nicht frei machen konnten: sie tötet das Vertrauen, entmutigt und macht
vor der unerwarteten, grausamen Enthüllung der Wirklichkeit kraftlos und schwach.
Sowohl für die Völker als auch für die einzelnen ist nichts wertvoller, als bei
allem, was auch kommen mag, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.


Die religiöse Wiedergeburt?

Nach Ansicht der katholischen Schriftsteller soll der Krieg eine wahre religiöse
Wiedergeburt in Frankreich hervorgebracht haben. Die „Älteste Tochter der Kirche"
soll zu sich gekommen sein, und die Aufnahme des verlorenen und reumütigen Kindes
durch Rom bevorstehen. Ist es nötig, die Hoffnungen, welche die streitenden Katho¬
liken auf diese angebliche Auferstehung gründen, genau zu bezeichnen: Wieder¬
herstellung des Konkordats und Wiedereinsetzung der Autorität, oder besser — der
politischen und moralischen Oberherrschaft der französischen Geistlichkeit. Ich sehe
von den Besessenen, die vom „Weißen Schrecken" träumen, ab und es fragt sich
nur noch, was diese Hoffnungen wert sind, und ob das, was man etwas kühn
religiöse Wiedergeburt nennt, nicht vielmehr eine der oberflächlichen Kundgebungen
ist, die durch die Umstünde geschaffen sind und mit ihnen erlöschen. Über diese
Frage ist schon sehr gestritten worden. Im Jahre 1915 hat die „Grande Revue",
eine unserer besten, vorkämpfenden Veröffentlichungen, eine ernste, überaus inter¬
essante Untersuchung dieser Angelegenheit angestellt, die ich gelesen habe. Es ist
klar, daß die Aussagen verschieden sein mußten und sich widersprachen. Sie waren
es nach Wunsch. Aber auch viele fanden den Grund dieser Uneinigkeit heraus,
der in der beständigen Verwirrung — unbewußt oder vorbedacht — des Gefühls
und der Betätigung liegt. Wer wollte bestreiten, daß wir im August 1914 eine
Art religiöser Überspanntheit erlebten? Ich wohnte in einer Stadt, wo das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0204" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333301"/>
            <fw type="header" place="top"> Französische Stimmungen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_732" prev="#ID_731"> weit davon entfernt, die erschreckende Wahrheit zu ahnen. Ich erinnere mich der<lb/>
fast allgemeinen Bestürzung, als wir an einem gewissen Morgen lasen, daß man<lb/>
in der Gegend von Lille Ulanen gesehen habe. Diese Nachricht schlug wie eine<lb/>
Bombe ein. Wir vermuteten die deutschen Truppen weit hinter unserer Grenze.<lb/>
Man hatte uns dermaßen über die Stärke und Dauer des belgischen Widerstandes<lb/>
getauscht, daß uns die Kaiserlichen überfielen, als wir sie noch immobilisiert vor<lb/>
Namur wähnten. Die folgenden Tage brachten uns die Enthüllung des außer¬<lb/>
ordentlich schnellen feindlichen Marsches durch den Norden Frankreichs. Wir wußten<lb/>
nicht mehr, was wir davon halten sollten, und es verbreiteten sich die wildesten<lb/>
Gerüchte über Verrat, welche die Menge ohne weitere Prüfung aufnahm. Unser<lb/>
Erstaunen wuchs noch bei dein Schauspiel, welches uns während einiger Tage<lb/>
der Marneschlacht die Hauptstraße von X. bot. Soldaten aller Armeen und aller<lb/>
Regimenter, Offiziere und Mannschaften drängten sich dort. Das bunte Gemisch<lb/>
der Uniformen hinterließ einen peinlichen Eindruck. Ich hatte die Empfindung<lb/>
eines Zusammenbruchs. Am Abend irrte ich in der Umgebung des Bahnhofs<lb/>
umher und traf eine Gruppe Zuaven und Turkos, welche, da sie die Hoffnung,<lb/>
ihre Korps wieder zu finden, aufgaben, zu ihrem Depot Sathoney zurückkehrten.<lb/>
Sie erzählten mir von Charleroi, der darauffolgenden Niederlage und Flucht.<lb/>
Ihre Entmutigung war groß und steckte mich an. An jenem Abend dachte ich an<lb/>
Sedan und verzweifelte an der Zukunft. Aber ich dachte nicht im entferntesten,<lb/>
daß das schreckliche Blutbad noch Jahre dauern würde, und daß unser unglück¬<lb/>
liches Land erst am Anfang seiner Leiden sei. Ich war nicht der einzige Ver¬<lb/>
zweifelnde. Plötzlich aufgeklärt und sehend geworden, gab man sich allen Be¬<lb/>
fürchtungen hin, sah den schlimmsten Katastrophen entgegen. Erst als der deutschen<lb/>
Offensive durch die Wiederherstellung der französischen Ostarmee Einhalt geboten<lb/>
wurde und nach der Marneschlacht schöpften wir wieder Hoffnung und Mut. Und<lb/>
noch glaubten wir zuerst nicht recht daran. Wir befürchteten irgendeinen neuen<lb/>
..Bluff" einer Presse, die seit dieser Zeit das ihr noch in Frankreich gebliebene<lb/>
Vertrauen verloren hatte. Hier sieht man so recht, wie gefährlich diese Lügen¬<lb/>
regierung ist, von der wir uns nach einer mehr als zweijährigen Kriegsdauer<lb/>
noch nicht frei machen konnten: sie tötet das Vertrauen, entmutigt und macht<lb/>
vor der unerwarteten, grausamen Enthüllung der Wirklichkeit kraftlos und schwach.<lb/>
Sowohl für die Völker als auch für die einzelnen ist nichts wertvoller, als bei<lb/>
allem, was auch kommen mag, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Die religiöse Wiedergeburt?</head><lb/>
            <p xml:id="ID_733" next="#ID_734"> Nach Ansicht der katholischen Schriftsteller soll der Krieg eine wahre religiöse<lb/>
Wiedergeburt in Frankreich hervorgebracht haben. Die &#x201E;Älteste Tochter der Kirche"<lb/>
soll zu sich gekommen sein, und die Aufnahme des verlorenen und reumütigen Kindes<lb/>
durch Rom bevorstehen. Ist es nötig, die Hoffnungen, welche die streitenden Katho¬<lb/>
liken auf diese angebliche Auferstehung gründen, genau zu bezeichnen: Wieder¬<lb/>
herstellung des Konkordats und Wiedereinsetzung der Autorität, oder besser &#x2014; der<lb/>
politischen und moralischen Oberherrschaft der französischen Geistlichkeit. Ich sehe<lb/>
von den Besessenen, die vom &#x201E;Weißen Schrecken" träumen, ab und es fragt sich<lb/>
nur noch, was diese Hoffnungen wert sind, und ob das, was man etwas kühn<lb/>
religiöse Wiedergeburt nennt, nicht vielmehr eine der oberflächlichen Kundgebungen<lb/>
ist, die durch die Umstünde geschaffen sind und mit ihnen erlöschen. Über diese<lb/>
Frage ist schon sehr gestritten worden. Im Jahre 1915 hat die &#x201E;Grande Revue",<lb/>
eine unserer besten, vorkämpfenden Veröffentlichungen, eine ernste, überaus inter¬<lb/>
essante Untersuchung dieser Angelegenheit angestellt, die ich gelesen habe. Es ist<lb/>
klar, daß die Aussagen verschieden sein mußten und sich widersprachen. Sie waren<lb/>
es nach Wunsch. Aber auch viele fanden den Grund dieser Uneinigkeit heraus,<lb/>
der in der beständigen Verwirrung &#x2014; unbewußt oder vorbedacht &#x2014; des Gefühls<lb/>
und der Betätigung liegt. Wer wollte bestreiten, daß wir im August 1914 eine<lb/>
Art religiöser Überspanntheit erlebten? Ich wohnte in einer Stadt, wo das</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0204] Französische Stimmungen weit davon entfernt, die erschreckende Wahrheit zu ahnen. Ich erinnere mich der fast allgemeinen Bestürzung, als wir an einem gewissen Morgen lasen, daß man in der Gegend von Lille Ulanen gesehen habe. Diese Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Wir vermuteten die deutschen Truppen weit hinter unserer Grenze. Man hatte uns dermaßen über die Stärke und Dauer des belgischen Widerstandes getauscht, daß uns die Kaiserlichen überfielen, als wir sie noch immobilisiert vor Namur wähnten. Die folgenden Tage brachten uns die Enthüllung des außer¬ ordentlich schnellen feindlichen Marsches durch den Norden Frankreichs. Wir wußten nicht mehr, was wir davon halten sollten, und es verbreiteten sich die wildesten Gerüchte über Verrat, welche die Menge ohne weitere Prüfung aufnahm. Unser Erstaunen wuchs noch bei dein Schauspiel, welches uns während einiger Tage der Marneschlacht die Hauptstraße von X. bot. Soldaten aller Armeen und aller Regimenter, Offiziere und Mannschaften drängten sich dort. Das bunte Gemisch der Uniformen hinterließ einen peinlichen Eindruck. Ich hatte die Empfindung eines Zusammenbruchs. Am Abend irrte ich in der Umgebung des Bahnhofs umher und traf eine Gruppe Zuaven und Turkos, welche, da sie die Hoffnung, ihre Korps wieder zu finden, aufgaben, zu ihrem Depot Sathoney zurückkehrten. Sie erzählten mir von Charleroi, der darauffolgenden Niederlage und Flucht. Ihre Entmutigung war groß und steckte mich an. An jenem Abend dachte ich an Sedan und verzweifelte an der Zukunft. Aber ich dachte nicht im entferntesten, daß das schreckliche Blutbad noch Jahre dauern würde, und daß unser unglück¬ liches Land erst am Anfang seiner Leiden sei. Ich war nicht der einzige Ver¬ zweifelnde. Plötzlich aufgeklärt und sehend geworden, gab man sich allen Be¬ fürchtungen hin, sah den schlimmsten Katastrophen entgegen. Erst als der deutschen Offensive durch die Wiederherstellung der französischen Ostarmee Einhalt geboten wurde und nach der Marneschlacht schöpften wir wieder Hoffnung und Mut. Und noch glaubten wir zuerst nicht recht daran. Wir befürchteten irgendeinen neuen ..Bluff" einer Presse, die seit dieser Zeit das ihr noch in Frankreich gebliebene Vertrauen verloren hatte. Hier sieht man so recht, wie gefährlich diese Lügen¬ regierung ist, von der wir uns nach einer mehr als zweijährigen Kriegsdauer noch nicht frei machen konnten: sie tötet das Vertrauen, entmutigt und macht vor der unerwarteten, grausamen Enthüllung der Wirklichkeit kraftlos und schwach. Sowohl für die Völker als auch für die einzelnen ist nichts wertvoller, als bei allem, was auch kommen mag, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Die religiöse Wiedergeburt? Nach Ansicht der katholischen Schriftsteller soll der Krieg eine wahre religiöse Wiedergeburt in Frankreich hervorgebracht haben. Die „Älteste Tochter der Kirche" soll zu sich gekommen sein, und die Aufnahme des verlorenen und reumütigen Kindes durch Rom bevorstehen. Ist es nötig, die Hoffnungen, welche die streitenden Katho¬ liken auf diese angebliche Auferstehung gründen, genau zu bezeichnen: Wieder¬ herstellung des Konkordats und Wiedereinsetzung der Autorität, oder besser — der politischen und moralischen Oberherrschaft der französischen Geistlichkeit. Ich sehe von den Besessenen, die vom „Weißen Schrecken" träumen, ab und es fragt sich nur noch, was diese Hoffnungen wert sind, und ob das, was man etwas kühn religiöse Wiedergeburt nennt, nicht vielmehr eine der oberflächlichen Kundgebungen ist, die durch die Umstünde geschaffen sind und mit ihnen erlöschen. Über diese Frage ist schon sehr gestritten worden. Im Jahre 1915 hat die „Grande Revue", eine unserer besten, vorkämpfenden Veröffentlichungen, eine ernste, überaus inter¬ essante Untersuchung dieser Angelegenheit angestellt, die ich gelesen habe. Es ist klar, daß die Aussagen verschieden sein mußten und sich widersprachen. Sie waren es nach Wunsch. Aber auch viele fanden den Grund dieser Uneinigkeit heraus, der in der beständigen Verwirrung — unbewußt oder vorbedacht — des Gefühls und der Betätigung liegt. Wer wollte bestreiten, daß wir im August 1914 eine Art religiöser Überspanntheit erlebten? Ich wohnte in einer Stadt, wo das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/204
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/204>, abgerufen am 05.05.2024.