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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Flurbereinigung

tretenen Schichten deS mittleren Bürgertums Abbruch tun wird, steht fest. Dem
wird durch Änderung der Wahlkreiseinteilung oder durch Einführung der Ver¬
hältniswahlen entgegengearbeitet werden müssen. Ebenso wird Vorsorge dafür
zu treffen sein, daß durch eine entsprechende Ausgestaltung des Herrenhauses und
durch Vermehrung seiner Befugnisse Schäden, die für den Staat aus vorüber¬
gehenden Mehrheiten geschaffen werden, von vornherein beschworen werden.

Die Partei hatte stets als die Grundlage ihres Wirkens betrachtet, die
Zeichen der Zeit zu beobachten. Lehnt die Fraktion des Abgeordnetenhauses auch
nur in einer starken Minderheit das gleiche Wahlrecht ab, und kann man ihr gar
mit einem Anschein von Recht die Verantwortung dafür aufbürden, daß das gleiche
Wahlrecht in Preußen zu Fall gekommen ist, so werden die Folgen für die Partei,
sowohl in Preußen wie im Reiche, unabsehbar sein, und es steht zu befürchten,
daß sie bei den kommenden Wahlen zerrieben wird.

Der bisherige Führer der Fraktion hat als stellvertretender Minister selbst
bekannt, daß er bisher ein Gegner des gleichen Wahlrechts gewesen sei. Wenn
ein Mann von der staatsmännischen Kunst und Erfahrung wie er offen bekennt,
daß die genauere Kenntnis der Verhältnisse ihn davon überzeugt habe, daß
die Einführung des gleichen Wahlrechts eine StaatSnotwendigkeit sei, so sollte das
jedem, ohne Rücksicht auf seine persönlichen Interessen, einen Fingerzeig geben,
daß die Frage in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann, und daß sie
für die Fortentwicklung des Staates sowohl wie für unsere Partei von grund¬
legender Bedeutung ist.




Deutsche Flurbereinigung
Geschichtliche Erinnerungen -- politische Mahnungen Dr. Paul N?entzcke von
2. Unsere elsatz - lothringische Frage

>ibd es für uns überhaupt eine elsaß-lothringische Frage? -- Mit
diesem Zweifel möchten weite Kreise vor allem Norddeutschlands
gar zu gern aller Verantwortung und aller Opfer enthoben sein,
die die Auseinandersetzung über die staatsrechtliche Zukunft des
Reichslandes vom Reich und von den Bundesstaaten fordert.
Gewiß: eine internationale elsaß-lothringische Frage gibt es nicht
mehr, seit im Frankfurter Frieden der "historische Prozeß" um die Zugehörigkeit der
beiden Grenzlünder zugunsten Deutschlands entschieden wurde. Auch auf den künftigen
Friedenskonferenzen darf sie nicht vorgebracht werden, um dem geschlagenen Frank¬
reich "die Loslösung vom Feinde zu erleichtern". Aber um so offener dürfen und
müssen wir es uns selbst eingestehen, daß die nationale Not im heutigen Reichs¬
land ein Problem ernstester Art bietet. Ein Problem, das unsere Machtstellung
und unsere Sicherheit im Westen bedroht und das wertvolle Kräfte unseres Volkstums
zur wirtschaftlichen und sozialen Unfruchtbarkeit verdammt.W

Wie all diese bösen Zustände eingerissen sind, darüber ist in letzter Zeit
bereits oft genug gesprochen worden und es steht zu hoffen, daß auch die Kreise,
die bislang gleichgültig oder nur parteipolitisch interessiert zusahen, endlich zur
Wahrschau aufgerufen werden. Richtlinien zur Lösung aber fehlen gemeinhin.
Und nicht nur Rücksichten der Zensur versperren die Aussicht: Giftpflanzen und


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tretenen Schichten deS mittleren Bürgertums Abbruch tun wird, steht fest. Dem
wird durch Änderung der Wahlkreiseinteilung oder durch Einführung der Ver¬
hältniswahlen entgegengearbeitet werden müssen. Ebenso wird Vorsorge dafür
zu treffen sein, daß durch eine entsprechende Ausgestaltung des Herrenhauses und
durch Vermehrung seiner Befugnisse Schäden, die für den Staat aus vorüber¬
gehenden Mehrheiten geschaffen werden, von vornherein beschworen werden.

Die Partei hatte stets als die Grundlage ihres Wirkens betrachtet, die
Zeichen der Zeit zu beobachten. Lehnt die Fraktion des Abgeordnetenhauses auch
nur in einer starken Minderheit das gleiche Wahlrecht ab, und kann man ihr gar
mit einem Anschein von Recht die Verantwortung dafür aufbürden, daß das gleiche
Wahlrecht in Preußen zu Fall gekommen ist, so werden die Folgen für die Partei,
sowohl in Preußen wie im Reiche, unabsehbar sein, und es steht zu befürchten,
daß sie bei den kommenden Wahlen zerrieben wird.

Der bisherige Führer der Fraktion hat als stellvertretender Minister selbst
bekannt, daß er bisher ein Gegner des gleichen Wahlrechts gewesen sei. Wenn
ein Mann von der staatsmännischen Kunst und Erfahrung wie er offen bekennt,
daß die genauere Kenntnis der Verhältnisse ihn davon überzeugt habe, daß
die Einführung des gleichen Wahlrechts eine StaatSnotwendigkeit sei, so sollte das
jedem, ohne Rücksicht auf seine persönlichen Interessen, einen Fingerzeig geben,
daß die Frage in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann, und daß sie
für die Fortentwicklung des Staates sowohl wie für unsere Partei von grund¬
legender Bedeutung ist.




Deutsche Flurbereinigung
Geschichtliche Erinnerungen — politische Mahnungen Dr. Paul N?entzcke von
2. Unsere elsatz - lothringische Frage

>ibd es für uns überhaupt eine elsaß-lothringische Frage? — Mit
diesem Zweifel möchten weite Kreise vor allem Norddeutschlands
gar zu gern aller Verantwortung und aller Opfer enthoben sein,
die die Auseinandersetzung über die staatsrechtliche Zukunft des
Reichslandes vom Reich und von den Bundesstaaten fordert.
Gewiß: eine internationale elsaß-lothringische Frage gibt es nicht
mehr, seit im Frankfurter Frieden der „historische Prozeß" um die Zugehörigkeit der
beiden Grenzlünder zugunsten Deutschlands entschieden wurde. Auch auf den künftigen
Friedenskonferenzen darf sie nicht vorgebracht werden, um dem geschlagenen Frank¬
reich „die Loslösung vom Feinde zu erleichtern". Aber um so offener dürfen und
müssen wir es uns selbst eingestehen, daß die nationale Not im heutigen Reichs¬
land ein Problem ernstester Art bietet. Ein Problem, das unsere Machtstellung
und unsere Sicherheit im Westen bedroht und das wertvolle Kräfte unseres Volkstums
zur wirtschaftlichen und sozialen Unfruchtbarkeit verdammt.W

Wie all diese bösen Zustände eingerissen sind, darüber ist in letzter Zeit
bereits oft genug gesprochen worden und es steht zu hoffen, daß auch die Kreise,
die bislang gleichgültig oder nur parteipolitisch interessiert zusahen, endlich zur
Wahrschau aufgerufen werden. Richtlinien zur Lösung aber fehlen gemeinhin.
Und nicht nur Rücksichten der Zensur versperren die Aussicht: Giftpflanzen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/308>, abgerufen am 05.05.2024.