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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Neues über die Ariegsschuld

le Frage der Schuld am Kriege, so sehr sie vielen im In- und
Auslande schon seit dem Herbst 1914 in einem oder anderem Sinn
als erledigt galt, ist in Wahrheit nie zur Ruhe gekommen, und es
hat nicht den Anschein, als ob sie sobald zur Ruhe kommen sollte.
Es ist nicht ohne Interesse, die Wandlungen der öffentlichen Meinung
im Verhältnis zu dieser Frage sich kurz zu vergegenwärtigen. Was
das Ausland betrifft, so bewirkten zu Beginn des Krieges die von Deutschland
ausgehenden Kriegserklärungen, die blitzartige Schnelligkeit der deutschen Offensive
und vor allem der Eindruck des Einfalles in Belgien, daß die Welt fast ein¬
stimmig Deutschland allein schuldig sprach. Die überlegene Pressetaktik der Entente
hat es verstanden, dieses gefühlsmäßig entstandene Urteil durch das bekannte
Mittel des "Einhämmerns" zu befestigen, und die als Kriegswerkzeug gehandhabte
Propaganda hat in einem geschickt abgefaßten und verbreiteten Buche (J'accuse) die
Meinung, an die die Welt glauben sollte, mit allem tatsächlichen Beweismaterial
und allen logischen und dialektischen Beweismitteln eines gerissenen Advokaten
so fest untermauert, daß dieser Block unzerstörbar schien. Aber alles nutzt sich ab.
Die im Laufe der Jahre sich einstellende ruhigere Überlegung mußte zu der Frage¬
stellung führen, ob denn in den Jahren vor dem Krieg bei der Entente alles so
herrlich war, als sie es vorgab; die Auffindung der Berichte der belgischen Ge¬
sandten an den europäischen Höfen^), einige für die Entente unliebsame Ent¬
hüllungen, wie der Suchomlinowprozeß^) und die Veröffentlichung der Geheim-
verträge^) mußten den Köhlerglauben an den schwarzen Wolf und das weiße
Schaf erschüttern. Auch das Verhalten der Entente während des Krieges hat
dazu beigetragen. Heute gibt es weite Kreise in den neutralen, wie auch in den
feindlichen Ländern, deren Meinung darauf hinausläuft, daß alle mehr oder
weniger im gleichen Maße schuldig sind. Zwar dürfte die große Masse auch der
Gebildeten, namentlich in den uns feindlichen Ländern, noch immer an eine zum
mindesten überwiegende Schuld Deutschlands glauben. Bei uns in Deutschland
ist die Erörterung auf der Suche nach dem eigentlichen Ausgangspunkt derjenigen
außenpolitischen Entwicklung, die zum Kriege geführt hat, immer weiter in die
Vergangenheit zurückgeglitten und hat erst beim Jahre 1890 Halt gemacht. Die
Kündigung des Nückversicherungsvertrages mit Rußland sollte an allem Unglück





Belgische Aktenstücke 1905--1914, Berlin, E. S. Mittler u. Sohn, vgl. hierzu
auch die neuere Veröffentlichung von Bernhard Schwertfeger, "Zur europäischen Politik
1897, 1914". Unveröffentl. Dokumente, 4 Bde. Berlin, Reimar Hobbing,
2"
) Am vollständigsten wiedergegeben in der Broschüre "Suchomlinow, Bern
Ferd. Wyß."
°) Am vollständigsten wiedergegeben in der Broschüre "Geheimdiplomatie von
Hanson, Bern, Ferdinand Wyß.
Grenzvoten II 1919 16


Neues über die Ariegsschuld

le Frage der Schuld am Kriege, so sehr sie vielen im In- und
Auslande schon seit dem Herbst 1914 in einem oder anderem Sinn
als erledigt galt, ist in Wahrheit nie zur Ruhe gekommen, und es
hat nicht den Anschein, als ob sie sobald zur Ruhe kommen sollte.
Es ist nicht ohne Interesse, die Wandlungen der öffentlichen Meinung
im Verhältnis zu dieser Frage sich kurz zu vergegenwärtigen. Was
das Ausland betrifft, so bewirkten zu Beginn des Krieges die von Deutschland
ausgehenden Kriegserklärungen, die blitzartige Schnelligkeit der deutschen Offensive
und vor allem der Eindruck des Einfalles in Belgien, daß die Welt fast ein¬
stimmig Deutschland allein schuldig sprach. Die überlegene Pressetaktik der Entente
hat es verstanden, dieses gefühlsmäßig entstandene Urteil durch das bekannte
Mittel des „Einhämmerns" zu befestigen, und die als Kriegswerkzeug gehandhabte
Propaganda hat in einem geschickt abgefaßten und verbreiteten Buche (J'accuse) die
Meinung, an die die Welt glauben sollte, mit allem tatsächlichen Beweismaterial
und allen logischen und dialektischen Beweismitteln eines gerissenen Advokaten
so fest untermauert, daß dieser Block unzerstörbar schien. Aber alles nutzt sich ab.
Die im Laufe der Jahre sich einstellende ruhigere Überlegung mußte zu der Frage¬
stellung führen, ob denn in den Jahren vor dem Krieg bei der Entente alles so
herrlich war, als sie es vorgab; die Auffindung der Berichte der belgischen Ge¬
sandten an den europäischen Höfen^), einige für die Entente unliebsame Ent¬
hüllungen, wie der Suchomlinowprozeß^) und die Veröffentlichung der Geheim-
verträge^) mußten den Köhlerglauben an den schwarzen Wolf und das weiße
Schaf erschüttern. Auch das Verhalten der Entente während des Krieges hat
dazu beigetragen. Heute gibt es weite Kreise in den neutralen, wie auch in den
feindlichen Ländern, deren Meinung darauf hinausläuft, daß alle mehr oder
weniger im gleichen Maße schuldig sind. Zwar dürfte die große Masse auch der
Gebildeten, namentlich in den uns feindlichen Ländern, noch immer an eine zum
mindesten überwiegende Schuld Deutschlands glauben. Bei uns in Deutschland
ist die Erörterung auf der Suche nach dem eigentlichen Ausgangspunkt derjenigen
außenpolitischen Entwicklung, die zum Kriege geführt hat, immer weiter in die
Vergangenheit zurückgeglitten und hat erst beim Jahre 1890 Halt gemacht. Die
Kündigung des Nückversicherungsvertrages mit Rußland sollte an allem Unglück





Belgische Aktenstücke 1905—1914, Berlin, E. S. Mittler u. Sohn, vgl. hierzu
auch die neuere Veröffentlichung von Bernhard Schwertfeger, „Zur europäischen Politik
1897, 1914". Unveröffentl. Dokumente, 4 Bde. Berlin, Reimar Hobbing,
2"
) Am vollständigsten wiedergegeben in der Broschüre „Suchomlinow, Bern
Ferd. Wyß."
°) Am vollständigsten wiedergegeben in der Broschüre „Geheimdiplomatie von
Hanson, Bern, Ferdinand Wyß.
Grenzvoten II 1919 16
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[0181] [Abbildung] Neues über die Ariegsschuld le Frage der Schuld am Kriege, so sehr sie vielen im In- und Auslande schon seit dem Herbst 1914 in einem oder anderem Sinn als erledigt galt, ist in Wahrheit nie zur Ruhe gekommen, und es hat nicht den Anschein, als ob sie sobald zur Ruhe kommen sollte. Es ist nicht ohne Interesse, die Wandlungen der öffentlichen Meinung im Verhältnis zu dieser Frage sich kurz zu vergegenwärtigen. Was das Ausland betrifft, so bewirkten zu Beginn des Krieges die von Deutschland ausgehenden Kriegserklärungen, die blitzartige Schnelligkeit der deutschen Offensive und vor allem der Eindruck des Einfalles in Belgien, daß die Welt fast ein¬ stimmig Deutschland allein schuldig sprach. Die überlegene Pressetaktik der Entente hat es verstanden, dieses gefühlsmäßig entstandene Urteil durch das bekannte Mittel des „Einhämmerns" zu befestigen, und die als Kriegswerkzeug gehandhabte Propaganda hat in einem geschickt abgefaßten und verbreiteten Buche (J'accuse) die Meinung, an die die Welt glauben sollte, mit allem tatsächlichen Beweismaterial und allen logischen und dialektischen Beweismitteln eines gerissenen Advokaten so fest untermauert, daß dieser Block unzerstörbar schien. Aber alles nutzt sich ab. Die im Laufe der Jahre sich einstellende ruhigere Überlegung mußte zu der Frage¬ stellung führen, ob denn in den Jahren vor dem Krieg bei der Entente alles so herrlich war, als sie es vorgab; die Auffindung der Berichte der belgischen Ge¬ sandten an den europäischen Höfen^), einige für die Entente unliebsame Ent¬ hüllungen, wie der Suchomlinowprozeß^) und die Veröffentlichung der Geheim- verträge^) mußten den Köhlerglauben an den schwarzen Wolf und das weiße Schaf erschüttern. Auch das Verhalten der Entente während des Krieges hat dazu beigetragen. Heute gibt es weite Kreise in den neutralen, wie auch in den feindlichen Ländern, deren Meinung darauf hinausläuft, daß alle mehr oder weniger im gleichen Maße schuldig sind. Zwar dürfte die große Masse auch der Gebildeten, namentlich in den uns feindlichen Ländern, noch immer an eine zum mindesten überwiegende Schuld Deutschlands glauben. Bei uns in Deutschland ist die Erörterung auf der Suche nach dem eigentlichen Ausgangspunkt derjenigen außenpolitischen Entwicklung, die zum Kriege geführt hat, immer weiter in die Vergangenheit zurückgeglitten und hat erst beim Jahre 1890 Halt gemacht. Die Kündigung des Nückversicherungsvertrages mit Rußland sollte an allem Unglück Belgische Aktenstücke 1905—1914, Berlin, E. S. Mittler u. Sohn, vgl. hierzu auch die neuere Veröffentlichung von Bernhard Schwertfeger, „Zur europäischen Politik 1897, 1914". Unveröffentl. Dokumente, 4 Bde. Berlin, Reimar Hobbing, 2" ) Am vollständigsten wiedergegeben in der Broschüre „Suchomlinow, Bern Ferd. Wyß." °) Am vollständigsten wiedergegeben in der Broschüre „Geheimdiplomatie von Hanson, Bern, Ferdinand Wyß. Grenzvoten II 1919 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/181>, abgerufen am 29.04.2024.