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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

"Laßt deutsche Kinder zu Tode hungern
-- um der Gerechtigkeit willen!" Wenn
irgend etwas die neutrale Welt von ihrem
weitverbreiteten Wahn geheilt hat, daß die
Entente den Krieg wirklich für die hohen
und idealen Ziele geführt habe, die sie vier
Jcihre lang mit Erfolg als Aushängeschild
benutzt hat, so hat neben dem Friedensvertrag
selbst (der selbst die verbissensten Ideologen,
in Deutschland wie in neutralen Ländern,
bekehrt zu haben scheint) die Fortführung
der Blockade über den Abschluß des Waffen¬
stillstandes hinaus den Menschen die Augen
geöffnet, Englands Kriegführung gegen die
Magen und Nerven der Zivilbevölkerung
Mitteleuropas war schon im Kriege eine
völkerrechtliche Ungeheuerlichkeit, die in neu¬
tralen Ländern viel böses Blut gemacht hat.
Man glaubte aber schließlich den täglich fort¬
gesetzten Versicherungen, daß es sich nur um
ein Mittel handle, "dem Recht" und "der
Menschlichkeit" und allem Edlen und Guten
zum Siege zu verhelfen. Nun hat England
den Krieg gewonnen und setzt trotzdem noch
den Blockadekrieg gegen die verhungernde
Zivilbevölkerung aus keinem anderen Motiv
als aus gemeiner Rachsucht fort. Da bäumt
sich auch bei den Neutralen, die bisher zu
dieser Scheußlichkeit schwiegen, das mensch¬
liche Empfinden auf, und man erkennt ohne
weiteres aus den neutralen Pressestimmen,
daß Englands moralisches Ansehen seit dem
11- November einen gewaltigen und kaum
wieder gut zu machenden Abbruch erlitten hat.

Die furchtbaren Folgen der Hunger¬
blockade sind heute allenthalben feststehend.
Man weiß da draußen, daß ihr 800 000
Menschen, rund der achtzigste Teil der Be¬
völkerung Deutschlands, schon Anfang 1919
ZUM Opfer gefallen waren, daß diese Zahl
seither noch gewaltig gestiegen ist und daß
sie auch die verhängnisvollsten Folgen ge-
Sntigt hat, die ein Engländer selbst, H. I.
Greenwall, nach fünfmonatlichen persönlichen
Aufenthalt in Deutschland, im "Daily
Expreß" vom S. Mai 1919 folgendermaßen
beschrieb:

"Ich stellte genaue Nachforschungen über
die Geburtsziffern in den ärmeren Klassen

[Spaltenumbruch]

Berlins an und meine Angaben beruhen
auf Wahrheit. 70 Prozent der schwangeren
Frauen sind unterernährt, und wenn sie
in Hospitäler gebracht werden, sind sie in
halbverhungertem Zustand. Infolge ihrer
häuslichen Verhältnisse ist es ihnen oft
unmöglich, selbst die geringste Ration zu
ergattern, die ihnen gewährt wird, und
haben sie die nötige Zeit, so stehen sie
stundenlang vor den Läden, ehe sie an
die Reihe kommen. Natürlich stehlen
diese Frauen für ihre Kinder alles, was
sie nur können; selbst Kartnsfelschalen sind
ihnen nicht zu wertlos. Sie haben für
die Neugeborenen keine Kleidungsstücke.
Man sieht die Kleinen in halbe Säcke
gehüllt. 30 Prozent der Frauen sterben
im Wochenbett, 30 Prozent eheliche und
60 Prozent uneheliche Neugeborene sterben.
In Berlin habe ich Dutzende von Kindern
gesehen, die im Alter von zwei Jahren
noch nie Milch gekostet haben. Die vor
dem Kriege geborenen Kinder sehen leid¬
lich aus, die nachher Geborenen aber find
armselige Geschöpfe."

Diese schaurige Schilderung eines eng¬
lischen, also unvoreingenommenen Augen¬
zeugen hat in England offenbar tiefen Ein¬
druck gemacht, selbstverständlich nicht bei der
Lloyd Georgeschen Regierung, die die
Blockade unverändert weiter bestehen läßt
und sogar ihre äußerste Verschärfung an¬
kündigt, wenn die deutschen Friedensunter¬
händler dem Gebot der Ehre folgen und
nicht unterzeichnen sollten. Aber im eng¬
lischen Volk mehren sich die Stimmen, daß
der Krieg gegen Frauen und Kinder ein
Fleck auf der britischen Ehre und eine
Schmach unseres Jahrhunderts sei. Folgende
englische Presseäußerungen seien als be¬
sonders charakteristisch hervorgehoben:

"Ein Plakat, das in 7000 Exemplaren
gedruckt worden war, trägt die Über¬
schrift: .Wofür tritt England jetzt ein?'
Darunter heißt eS: "Dafür, daß Säug¬
linge hungern, Frauen gequält und Greise
getötet werden. Solche Dinge geschehen
heute in Englands Namen überall in

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„Laßt deutsche Kinder zu Tode hungern
— um der Gerechtigkeit willen!" Wenn
irgend etwas die neutrale Welt von ihrem
weitverbreiteten Wahn geheilt hat, daß die
Entente den Krieg wirklich für die hohen
und idealen Ziele geführt habe, die sie vier
Jcihre lang mit Erfolg als Aushängeschild
benutzt hat, so hat neben dem Friedensvertrag
selbst (der selbst die verbissensten Ideologen,
in Deutschland wie in neutralen Ländern,
bekehrt zu haben scheint) die Fortführung
der Blockade über den Abschluß des Waffen¬
stillstandes hinaus den Menschen die Augen
geöffnet, Englands Kriegführung gegen die
Magen und Nerven der Zivilbevölkerung
Mitteleuropas war schon im Kriege eine
völkerrechtliche Ungeheuerlichkeit, die in neu¬
tralen Ländern viel böses Blut gemacht hat.
Man glaubte aber schließlich den täglich fort¬
gesetzten Versicherungen, daß es sich nur um
ein Mittel handle, „dem Recht" und „der
Menschlichkeit" und allem Edlen und Guten
zum Siege zu verhelfen. Nun hat England
den Krieg gewonnen und setzt trotzdem noch
den Blockadekrieg gegen die verhungernde
Zivilbevölkerung aus keinem anderen Motiv
als aus gemeiner Rachsucht fort. Da bäumt
sich auch bei den Neutralen, die bisher zu
dieser Scheußlichkeit schwiegen, das mensch¬
liche Empfinden auf, und man erkennt ohne
weiteres aus den neutralen Pressestimmen,
daß Englands moralisches Ansehen seit dem
11- November einen gewaltigen und kaum
wieder gut zu machenden Abbruch erlitten hat.

Die furchtbaren Folgen der Hunger¬
blockade sind heute allenthalben feststehend.
Man weiß da draußen, daß ihr 800 000
Menschen, rund der achtzigste Teil der Be¬
völkerung Deutschlands, schon Anfang 1919
ZUM Opfer gefallen waren, daß diese Zahl
seither noch gewaltig gestiegen ist und daß
sie auch die verhängnisvollsten Folgen ge-
Sntigt hat, die ein Engländer selbst, H. I.
Greenwall, nach fünfmonatlichen persönlichen
Aufenthalt in Deutschland, im „Daily
Expreß» vom S. Mai 1919 folgendermaßen
beschrieb:

»Ich stellte genaue Nachforschungen über
die Geburtsziffern in den ärmeren Klassen

[Spaltenumbruch]

Berlins an und meine Angaben beruhen
auf Wahrheit. 70 Prozent der schwangeren
Frauen sind unterernährt, und wenn sie
in Hospitäler gebracht werden, sind sie in
halbverhungertem Zustand. Infolge ihrer
häuslichen Verhältnisse ist es ihnen oft
unmöglich, selbst die geringste Ration zu
ergattern, die ihnen gewährt wird, und
haben sie die nötige Zeit, so stehen sie
stundenlang vor den Läden, ehe sie an
die Reihe kommen. Natürlich stehlen
diese Frauen für ihre Kinder alles, was
sie nur können; selbst Kartnsfelschalen sind
ihnen nicht zu wertlos. Sie haben für
die Neugeborenen keine Kleidungsstücke.
Man sieht die Kleinen in halbe Säcke
gehüllt. 30 Prozent der Frauen sterben
im Wochenbett, 30 Prozent eheliche und
60 Prozent uneheliche Neugeborene sterben.
In Berlin habe ich Dutzende von Kindern
gesehen, die im Alter von zwei Jahren
noch nie Milch gekostet haben. Die vor
dem Kriege geborenen Kinder sehen leid¬
lich aus, die nachher Geborenen aber find
armselige Geschöpfe."

Diese schaurige Schilderung eines eng¬
lischen, also unvoreingenommenen Augen¬
zeugen hat in England offenbar tiefen Ein¬
druck gemacht, selbstverständlich nicht bei der
Lloyd Georgeschen Regierung, die die
Blockade unverändert weiter bestehen läßt
und sogar ihre äußerste Verschärfung an¬
kündigt, wenn die deutschen Friedensunter¬
händler dem Gebot der Ehre folgen und
nicht unterzeichnen sollten. Aber im eng¬
lischen Volk mehren sich die Stimmen, daß
der Krieg gegen Frauen und Kinder ein
Fleck auf der britischen Ehre und eine
Schmach unseres Jahrhunderts sei. Folgende
englische Presseäußerungen seien als be¬
sonders charakteristisch hervorgehoben:

„Ein Plakat, das in 7000 Exemplaren
gedruckt worden war, trägt die Über¬
schrift: .Wofür tritt England jetzt ein?'
Darunter heißt eS: „Dafür, daß Säug¬
linge hungern, Frauen gequält und Greise
getötet werden. Solche Dinge geschehen
heute in Englands Namen überall in

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[0307] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches „Laßt deutsche Kinder zu Tode hungern — um der Gerechtigkeit willen!" Wenn irgend etwas die neutrale Welt von ihrem weitverbreiteten Wahn geheilt hat, daß die Entente den Krieg wirklich für die hohen und idealen Ziele geführt habe, die sie vier Jcihre lang mit Erfolg als Aushängeschild benutzt hat, so hat neben dem Friedensvertrag selbst (der selbst die verbissensten Ideologen, in Deutschland wie in neutralen Ländern, bekehrt zu haben scheint) die Fortführung der Blockade über den Abschluß des Waffen¬ stillstandes hinaus den Menschen die Augen geöffnet, Englands Kriegführung gegen die Magen und Nerven der Zivilbevölkerung Mitteleuropas war schon im Kriege eine völkerrechtliche Ungeheuerlichkeit, die in neu¬ tralen Ländern viel böses Blut gemacht hat. Man glaubte aber schließlich den täglich fort¬ gesetzten Versicherungen, daß es sich nur um ein Mittel handle, „dem Recht" und „der Menschlichkeit" und allem Edlen und Guten zum Siege zu verhelfen. Nun hat England den Krieg gewonnen und setzt trotzdem noch den Blockadekrieg gegen die verhungernde Zivilbevölkerung aus keinem anderen Motiv als aus gemeiner Rachsucht fort. Da bäumt sich auch bei den Neutralen, die bisher zu dieser Scheußlichkeit schwiegen, das mensch¬ liche Empfinden auf, und man erkennt ohne weiteres aus den neutralen Pressestimmen, daß Englands moralisches Ansehen seit dem 11- November einen gewaltigen und kaum wieder gut zu machenden Abbruch erlitten hat. Die furchtbaren Folgen der Hunger¬ blockade sind heute allenthalben feststehend. Man weiß da draußen, daß ihr 800 000 Menschen, rund der achtzigste Teil der Be¬ völkerung Deutschlands, schon Anfang 1919 ZUM Opfer gefallen waren, daß diese Zahl seither noch gewaltig gestiegen ist und daß sie auch die verhängnisvollsten Folgen ge- Sntigt hat, die ein Engländer selbst, H. I. Greenwall, nach fünfmonatlichen persönlichen Aufenthalt in Deutschland, im „Daily Expreß» vom S. Mai 1919 folgendermaßen beschrieb: »Ich stellte genaue Nachforschungen über die Geburtsziffern in den ärmeren Klassen Berlins an und meine Angaben beruhen auf Wahrheit. 70 Prozent der schwangeren Frauen sind unterernährt, und wenn sie in Hospitäler gebracht werden, sind sie in halbverhungertem Zustand. Infolge ihrer häuslichen Verhältnisse ist es ihnen oft unmöglich, selbst die geringste Ration zu ergattern, die ihnen gewährt wird, und haben sie die nötige Zeit, so stehen sie stundenlang vor den Läden, ehe sie an die Reihe kommen. Natürlich stehlen diese Frauen für ihre Kinder alles, was sie nur können; selbst Kartnsfelschalen sind ihnen nicht zu wertlos. Sie haben für die Neugeborenen keine Kleidungsstücke. Man sieht die Kleinen in halbe Säcke gehüllt. 30 Prozent der Frauen sterben im Wochenbett, 30 Prozent eheliche und 60 Prozent uneheliche Neugeborene sterben. In Berlin habe ich Dutzende von Kindern gesehen, die im Alter von zwei Jahren noch nie Milch gekostet haben. Die vor dem Kriege geborenen Kinder sehen leid¬ lich aus, die nachher Geborenen aber find armselige Geschöpfe." Diese schaurige Schilderung eines eng¬ lischen, also unvoreingenommenen Augen¬ zeugen hat in England offenbar tiefen Ein¬ druck gemacht, selbstverständlich nicht bei der Lloyd Georgeschen Regierung, die die Blockade unverändert weiter bestehen läßt und sogar ihre äußerste Verschärfung an¬ kündigt, wenn die deutschen Friedensunter¬ händler dem Gebot der Ehre folgen und nicht unterzeichnen sollten. Aber im eng¬ lischen Volk mehren sich die Stimmen, daß der Krieg gegen Frauen und Kinder ein Fleck auf der britischen Ehre und eine Schmach unseres Jahrhunderts sei. Folgende englische Presseäußerungen seien als be¬ sonders charakteristisch hervorgehoben: „Ein Plakat, das in 7000 Exemplaren gedruckt worden war, trägt die Über¬ schrift: .Wofür tritt England jetzt ein?' Darunter heißt eS: „Dafür, daß Säug¬ linge hungern, Frauen gequält und Greise getötet werden. Solche Dinge geschehen heute in Englands Namen überall in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/307>, abgerufen am 29.04.2024.