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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Preußens, Wohin gehört der Netzedistrikt? Berichtigung -- Aus den Deutschen
Volksräten -- Pressestiminen: Die Polnische Presse zur Danziger Frage. -- Kleine
Nachrichten.


ttlerittlien zur ostdeutschen Frage



"Historische Grenzen"

Die Provinz Posen umhabe keinerlei wirtschaftlich abgeschlossene Gebietsein-
heiten mit unzweifelhaft polnischer Vvlksmchrheit, Dank diesem Ergebnis einer
unbestechlichen Statistik müßten die polnischen Loslösungsbestrcbungen in den be¬
kannten Forderungen der Wilsonschen Punkte keine Stütze finden. "Polnische Ver¬
drehungskunst versucht nicht allein, an dieser Tatsache zu deuteln, sondern versteift
sich des weiteren, ebenso unter Berufung auf den Geist der Wilsonschen Thesen,
auf die Gründe historischer Gerechtigkeit: Weil die Provinz Posen jahrhunderte.-
wng zu dem polnischen Reiche gehört habe, verlange nach ihrer Meinung der
geschichtliche Gerechtigkeitssinn die völlige Wiederherstellung der Grenzen von 1772.

Der Appell an historische Ansprüche ist bei den nach Beendigung des Welt¬
krieges neu entstandenen Staaten sehr beliebt. Er erfreut sich desgleichen bei der
feindlichen und neutralen öffentlichen Meinung ausgesprochener Sympathien,
weil er auf den ersten Blick ebenso einleuchtend wie gerechtfertigt erscheint. Bei
näherer Untersuchung ergibt sich jedoch die Oberflächlichkeit einer derartigen An¬
schauung, sobald diese allein die Geschichtszahlen berücksichtigt, ohne den kultur¬
geschichtlichen Ursachen auf den Grund zu gehen, die sich innerhalb einer geschichl-
uchen und an sich unbestrittenen Zeitspanne begeben haben.
"

Zunächst gibt die Berufung auf .historische Grenzen an sich schon einen
lehr schwankenden Halt. Bei den wechselvollen Schicksalen, die wohl sämtliche
Lander im Laufe der Jahrhunderte erlitten haben, ist es äußerst fragwürdig,
welches denn das geschichtliche Normaljahr sein soll, das die endgültigen Grenzen
eines Landes für ewige Zeiten festzulegen bestimmt ist. Jahreszahlen allein
Konnten hiernach schwerlich eine befriedigende Antwort geben. Was beispielsweise den
^etzedistrikt anbelangt, so wäre es eine heikle Sache, nur aus reiner Geschichtskenntnis
heraus zu entscheiden, ob diesesGebiet den germanischen Stämmen"vonNechts wegen"
Zukäme, weil sie zu Beginn unse,,er Zeitrechnung dort ansässig waren, oder den Polen,
Ac einige Jahrhunderte später die Germanen daraus verdrängten, oder etwa den
Sommern, die zwischen dem elften und dreizehnten Jahrhundert ihre Herrschaft
sMweilig bis über den Südrand des Netzebruchs ausgedehnt hatten. Jede der
^er Parteien könnte schließlich nur das gleiche-Recht für sich in Anspruch nehmen,
o?s Recht des Eroberers, der heute doch so sehr verpönt ist -- die Germanen
^elleicht noch ein stärkeres Recht, nämlich das des geschichtlichen Ureinwohners.


Mitteilungen 8


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Preußens, Wohin gehört der Netzedistrikt? Berichtigung — Aus den Deutschen
Volksräten — Pressestiminen: Die Polnische Presse zur Danziger Frage. — Kleine
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ttlerittlien zur ostdeutschen Frage



„Historische Grenzen"

Die Provinz Posen umhabe keinerlei wirtschaftlich abgeschlossene Gebietsein-
heiten mit unzweifelhaft polnischer Vvlksmchrheit, Dank diesem Ergebnis einer
unbestechlichen Statistik müßten die polnischen Loslösungsbestrcbungen in den be¬
kannten Forderungen der Wilsonschen Punkte keine Stütze finden. "Polnische Ver¬
drehungskunst versucht nicht allein, an dieser Tatsache zu deuteln, sondern versteift
sich des weiteren, ebenso unter Berufung auf den Geist der Wilsonschen Thesen,
auf die Gründe historischer Gerechtigkeit: Weil die Provinz Posen jahrhunderte.-
wng zu dem polnischen Reiche gehört habe, verlange nach ihrer Meinung der
geschichtliche Gerechtigkeitssinn die völlige Wiederherstellung der Grenzen von 1772.

Der Appell an historische Ansprüche ist bei den nach Beendigung des Welt¬
krieges neu entstandenen Staaten sehr beliebt. Er erfreut sich desgleichen bei der
feindlichen und neutralen öffentlichen Meinung ausgesprochener Sympathien,
weil er auf den ersten Blick ebenso einleuchtend wie gerechtfertigt erscheint. Bei
näherer Untersuchung ergibt sich jedoch die Oberflächlichkeit einer derartigen An¬
schauung, sobald diese allein die Geschichtszahlen berücksichtigt, ohne den kultur¬
geschichtlichen Ursachen auf den Grund zu gehen, die sich innerhalb einer geschichl-
uchen und an sich unbestrittenen Zeitspanne begeben haben.
"

Zunächst gibt die Berufung auf .historische Grenzen an sich schon einen
lehr schwankenden Halt. Bei den wechselvollen Schicksalen, die wohl sämtliche
Lander im Laufe der Jahrhunderte erlitten haben, ist es äußerst fragwürdig,
welches denn das geschichtliche Normaljahr sein soll, das die endgültigen Grenzen
eines Landes für ewige Zeiten festzulegen bestimmt ist. Jahreszahlen allein
Konnten hiernach schwerlich eine befriedigende Antwort geben. Was beispielsweise den
^etzedistrikt anbelangt, so wäre es eine heikle Sache, nur aus reiner Geschichtskenntnis
heraus zu entscheiden, ob diesesGebiet den germanischen Stämmen„vonNechts wegen"
Zukäme, weil sie zu Beginn unse,,er Zeitrechnung dort ansässig waren, oder den Polen,
Ac einige Jahrhunderte später die Germanen daraus verdrängten, oder etwa den
Sommern, die zwischen dem elften und dreizehnten Jahrhundert ihre Herrschaft
sMweilig bis über den Südrand des Netzebruchs ausgedehnt hatten. Jede der
^er Parteien könnte schließlich nur das gleiche-Recht für sich in Anspruch nehmen,
o?s Recht des Eroberers, der heute doch so sehr verpönt ist — die Germanen
^elleicht noch ein stärkeres Recht, nämlich das des geschichtlichen Ureinwohners.


Mitteilungen 8
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[0433] Ur, 8Verantwortlich: Dr. Max Hildebert Voehm Schriftleitung: Bromberg, WeltzienPl«H I»i Fernruf Ur, 32130. April 1919 Inhalt: Materialien zur ostdeutschen Frage: Historische Grenzen, Bevölkerungskarte West- Preußens, Wohin gehört der Netzedistrikt? Berichtigung — Aus den Deutschen Volksräten — Pressestiminen: Die Polnische Presse zur Danziger Frage. — Kleine Nachrichten. ttlerittlien zur ostdeutschen Frage „Historische Grenzen" Die Provinz Posen umhabe keinerlei wirtschaftlich abgeschlossene Gebietsein- heiten mit unzweifelhaft polnischer Vvlksmchrheit, Dank diesem Ergebnis einer unbestechlichen Statistik müßten die polnischen Loslösungsbestrcbungen in den be¬ kannten Forderungen der Wilsonschen Punkte keine Stütze finden. "Polnische Ver¬ drehungskunst versucht nicht allein, an dieser Tatsache zu deuteln, sondern versteift sich des weiteren, ebenso unter Berufung auf den Geist der Wilsonschen Thesen, auf die Gründe historischer Gerechtigkeit: Weil die Provinz Posen jahrhunderte.- wng zu dem polnischen Reiche gehört habe, verlange nach ihrer Meinung der geschichtliche Gerechtigkeitssinn die völlige Wiederherstellung der Grenzen von 1772. Der Appell an historische Ansprüche ist bei den nach Beendigung des Welt¬ krieges neu entstandenen Staaten sehr beliebt. Er erfreut sich desgleichen bei der feindlichen und neutralen öffentlichen Meinung ausgesprochener Sympathien, weil er auf den ersten Blick ebenso einleuchtend wie gerechtfertigt erscheint. Bei näherer Untersuchung ergibt sich jedoch die Oberflächlichkeit einer derartigen An¬ schauung, sobald diese allein die Geschichtszahlen berücksichtigt, ohne den kultur¬ geschichtlichen Ursachen auf den Grund zu gehen, die sich innerhalb einer geschichl- uchen und an sich unbestrittenen Zeitspanne begeben haben. " Zunächst gibt die Berufung auf .historische Grenzen an sich schon einen lehr schwankenden Halt. Bei den wechselvollen Schicksalen, die wohl sämtliche Lander im Laufe der Jahrhunderte erlitten haben, ist es äußerst fragwürdig, welches denn das geschichtliche Normaljahr sein soll, das die endgültigen Grenzen eines Landes für ewige Zeiten festzulegen bestimmt ist. Jahreszahlen allein Konnten hiernach schwerlich eine befriedigende Antwort geben. Was beispielsweise den ^etzedistrikt anbelangt, so wäre es eine heikle Sache, nur aus reiner Geschichtskenntnis heraus zu entscheiden, ob diesesGebiet den germanischen Stämmen„vonNechts wegen" Zukäme, weil sie zu Beginn unse,,er Zeitrechnung dort ansässig waren, oder den Polen, Ac einige Jahrhunderte später die Germanen daraus verdrängten, oder etwa den Sommern, die zwischen dem elften und dreizehnten Jahrhundert ihre Herrschaft sMweilig bis über den Südrand des Netzebruchs ausgedehnt hatten. Jede der ^er Parteien könnte schließlich nur das gleiche-Recht für sich in Anspruch nehmen, o?s Recht des Eroberers, der heute doch so sehr verpönt ist — die Germanen ^elleicht noch ein stärkeres Recht, nämlich das des geschichtlichen Ureinwohners. Mitteilungen 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/433>, abgerufen am 29.04.2024.