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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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männliche als weibliche Kinder. In Kultur¬
staaten ändert sich nun allerdings das Ver¬
hältnis sehr bald so, daß schon unter den
Zwanzigjährigen ein Überschuß von Mädchen
vorhanden ist. Das trifft aber nicht zu auf
Gebiete mit überwiegend ländlicher Bevölke¬
rung, wie sie der Neyedistrikt ausweist. Hier
dürfte bis zur Vollendung des zwanzigsten
Lebensjahres allerhöchstens ein Ausgleich im
Verhältnis der Geschlechter eintreten. Es
würde mithin, wie behauptet, die Erteilung
des Stimmrechts an die Frauen das Prozent¬
verhältnis der Stimmen nicht beeinflussen.
Auch die zuletzt angegebenen Zahlen gelten
für den ganzen Regierungsbezirk. Eine Be¬
rechnung für den eigentlichen Netzedistrikt
würde auch bezüglich der Stimmenzahl eine
wesentliche Verschiebung zugunsten des
Deutschtums ergeben. Von den zum alten
Netzedistrikt gehörigen Kreise haben Deutsch-
Krone, Flatow, Filehne, Czarnikau, Kolmar,
Wirsitz und Bromberg über 50 Prozent
deutsche Bevölkerung, Schubin und Hohen-
salza über 4V Prozent. In den Städten
steigt die deutsche Bevölkerung auf über
80 Prozent, desgleichen ist die eigentliche
Netze- wie die Grünfließ-Niederung fast rein
deutsch besiedelt. Ergab schon eine Ab¬
stimmung im ganzen Regierungsbezirk 57,4
Prozent deutscher Stimmen, lo muß man
auch bei sehr vorsichtiger Schätzung an¬
nehmen, daß bei einer Abstimmung über die
staatliche Zugehörigkeit im eigentlichen Retze-
distrikt mindestens 60 Prozent aller Stimmen
sür das Deutschtum abgegeben würden, in
der Netze- und Grünfließ-Niedsrung einschlie߬
lich der daran liegenden Städte und Brom¬
bergs sicher über 8V Prozent. Es kann mit¬
hin gar keinem Zweifel unterliegen, daß dieser
Distrikt nach den Wilsonschen Grundsätzen als
zu Deutschland gehörig angesehen werden
muß. Ihn den Polen zusprechen zu wollen,
bedeutet für Wilson einen Schlag ins Gesicht.

Bon Polnischer Seite wird eingewendet,
die deutsche Bevölkerung , sei nicht boden¬
ständig, sei eingewandert. Ganz gewiß ist
sie eingewandert. Aber diese Einwanderung
hat bereits vor annähern 7d00 Jahren be¬
gonnen, und eine Bevölkerung, die so lange
auf demselben Boden sitzt, darf Wohl als
bodenständig bezeichnet werden. Dem

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Schreiber dieser Zeilen ist eine Reihe deut¬
scher Bauernhöfe bekannt, die seit mehr als
L00 Jnhren nachweislich in derselben Familie
vererbt worden sind. Die meisten deutschen
Bauernhöfe sind ja in neuerer Zeit modern
aufgebaut. In fast allen deutschen Dörfern
finden sich aber auch noch Jahrhunderte alte
Holzhäuser, und auch , sie zeigen schon rein
niederdeutsche Bauart. Wohnung und Stall
finden sich unter demselben Dach. Fast durch¬
weg sieht man bei den deutschen Höfen ur¬
alten Baumschlng, was sich bei polnischen
nie findet. Die Städte sind alle nach deut¬
schem Recht gegründet, und ihre Gründungs¬
urkunden zeigen Daten aus dem dreizehnten,
vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert.
Die deutsche Bevölkerung des Netzedistrikts
muß also zum sehr großen Teil als durchaus
bodenständig angesprochen werden. Auch in
dieser Hinsicht ist der Distrikt naturrechtlich
zweifellos deutsch.

Einen ganz eigenartigen Beweis für die
Alteingesessenheit der hiesigen deutschen Be¬
völkerung liefert noch ihre Sprache. In den
Städten wird ja ein reines Hochdeutsch ge¬
sprochen, auf dem Lande aber durchweg Platt¬
deutsch, und zwar ein Platt, das vielfach sehr
viel ältere Sprachformen zeigt, als man sonst
in niederdeutschen Gegenden findet. So
altes Sprachgut kann sich naturgemäß nur
halten bei einer schon lange eingesessener und
vom Ursprungsgebiet ihrer Sprache getrenn¬
ten Bevölkerung. Auch altes Lied- und
Spruchgut findet sich in der Bevölkerung des
Netzegebietes noch in viel größerer Menge als
im übrigen Niederdeutschland. Es gelang hier
in ganz kurzer Zeit, über 700Texte alter Volks¬
lieder zu sammeln, die zum Teil sehr alte
Form zeigten, ein Beweis für das unverfälschte
Deutschtum ihrer Bewohner und für die
Länge der Zeit, die seit deren Aus- bezw.
Einwanderung notwendigerweise verflossen
sein muß.

III.

Kulturelle Zugehörigkeit. Die Ent¬
scheidung über staatliche Zugehörigkeit eines
Landgebietes mit gemischter Bevölkerung wird
nicht von dem Zahlenverhältnis der Bevölke¬
rung allein abhängig sein können. Man wird
notwendigerweise fragen müssen, was haben

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männliche als weibliche Kinder. In Kultur¬
staaten ändert sich nun allerdings das Ver¬
hältnis sehr bald so, daß schon unter den
Zwanzigjährigen ein Überschuß von Mädchen
vorhanden ist. Das trifft aber nicht zu auf
Gebiete mit überwiegend ländlicher Bevölke¬
rung, wie sie der Neyedistrikt ausweist. Hier
dürfte bis zur Vollendung des zwanzigsten
Lebensjahres allerhöchstens ein Ausgleich im
Verhältnis der Geschlechter eintreten. Es
würde mithin, wie behauptet, die Erteilung
des Stimmrechts an die Frauen das Prozent¬
verhältnis der Stimmen nicht beeinflussen.
Auch die zuletzt angegebenen Zahlen gelten
für den ganzen Regierungsbezirk. Eine Be¬
rechnung für den eigentlichen Netzedistrikt
würde auch bezüglich der Stimmenzahl eine
wesentliche Verschiebung zugunsten des
Deutschtums ergeben. Von den zum alten
Netzedistrikt gehörigen Kreise haben Deutsch-
Krone, Flatow, Filehne, Czarnikau, Kolmar,
Wirsitz und Bromberg über 50 Prozent
deutsche Bevölkerung, Schubin und Hohen-
salza über 4V Prozent. In den Städten
steigt die deutsche Bevölkerung auf über
80 Prozent, desgleichen ist die eigentliche
Netze- wie die Grünfließ-Niederung fast rein
deutsch besiedelt. Ergab schon eine Ab¬
stimmung im ganzen Regierungsbezirk 57,4
Prozent deutscher Stimmen, lo muß man
auch bei sehr vorsichtiger Schätzung an¬
nehmen, daß bei einer Abstimmung über die
staatliche Zugehörigkeit im eigentlichen Retze-
distrikt mindestens 60 Prozent aller Stimmen
sür das Deutschtum abgegeben würden, in
der Netze- und Grünfließ-Niedsrung einschlie߬
lich der daran liegenden Städte und Brom¬
bergs sicher über 8V Prozent. Es kann mit¬
hin gar keinem Zweifel unterliegen, daß dieser
Distrikt nach den Wilsonschen Grundsätzen als
zu Deutschland gehörig angesehen werden
muß. Ihn den Polen zusprechen zu wollen,
bedeutet für Wilson einen Schlag ins Gesicht.

Bon Polnischer Seite wird eingewendet,
die deutsche Bevölkerung , sei nicht boden¬
ständig, sei eingewandert. Ganz gewiß ist
sie eingewandert. Aber diese Einwanderung
hat bereits vor annähern 7d00 Jahren be¬
gonnen, und eine Bevölkerung, die so lange
auf demselben Boden sitzt, darf Wohl als
bodenständig bezeichnet werden. Dem

[Spaltenumbruch]

Schreiber dieser Zeilen ist eine Reihe deut¬
scher Bauernhöfe bekannt, die seit mehr als
L00 Jnhren nachweislich in derselben Familie
vererbt worden sind. Die meisten deutschen
Bauernhöfe sind ja in neuerer Zeit modern
aufgebaut. In fast allen deutschen Dörfern
finden sich aber auch noch Jahrhunderte alte
Holzhäuser, und auch , sie zeigen schon rein
niederdeutsche Bauart. Wohnung und Stall
finden sich unter demselben Dach. Fast durch¬
weg sieht man bei den deutschen Höfen ur¬
alten Baumschlng, was sich bei polnischen
nie findet. Die Städte sind alle nach deut¬
schem Recht gegründet, und ihre Gründungs¬
urkunden zeigen Daten aus dem dreizehnten,
vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert.
Die deutsche Bevölkerung des Netzedistrikts
muß also zum sehr großen Teil als durchaus
bodenständig angesprochen werden. Auch in
dieser Hinsicht ist der Distrikt naturrechtlich
zweifellos deutsch.

Einen ganz eigenartigen Beweis für die
Alteingesessenheit der hiesigen deutschen Be¬
völkerung liefert noch ihre Sprache. In den
Städten wird ja ein reines Hochdeutsch ge¬
sprochen, auf dem Lande aber durchweg Platt¬
deutsch, und zwar ein Platt, das vielfach sehr
viel ältere Sprachformen zeigt, als man sonst
in niederdeutschen Gegenden findet. So
altes Sprachgut kann sich naturgemäß nur
halten bei einer schon lange eingesessener und
vom Ursprungsgebiet ihrer Sprache getrenn¬
ten Bevölkerung. Auch altes Lied- und
Spruchgut findet sich in der Bevölkerung des
Netzegebietes noch in viel größerer Menge als
im übrigen Niederdeutschland. Es gelang hier
in ganz kurzer Zeit, über 700Texte alter Volks¬
lieder zu sammeln, die zum Teil sehr alte
Form zeigten, ein Beweis für das unverfälschte
Deutschtum ihrer Bewohner und für die
Länge der Zeit, die seit deren Aus- bezw.
Einwanderung notwendigerweise verflossen
sein muß.

III.

Kulturelle Zugehörigkeit. Die Ent¬
scheidung über staatliche Zugehörigkeit eines
Landgebietes mit gemischter Bevölkerung wird
nicht von dem Zahlenverhältnis der Bevölke¬
rung allein abhängig sein können. Man wird
notwendigerweise fragen müssen, was haben

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[0486] Materialien zur ostdeutschen Frage männliche als weibliche Kinder. In Kultur¬ staaten ändert sich nun allerdings das Ver¬ hältnis sehr bald so, daß schon unter den Zwanzigjährigen ein Überschuß von Mädchen vorhanden ist. Das trifft aber nicht zu auf Gebiete mit überwiegend ländlicher Bevölke¬ rung, wie sie der Neyedistrikt ausweist. Hier dürfte bis zur Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres allerhöchstens ein Ausgleich im Verhältnis der Geschlechter eintreten. Es würde mithin, wie behauptet, die Erteilung des Stimmrechts an die Frauen das Prozent¬ verhältnis der Stimmen nicht beeinflussen. Auch die zuletzt angegebenen Zahlen gelten für den ganzen Regierungsbezirk. Eine Be¬ rechnung für den eigentlichen Netzedistrikt würde auch bezüglich der Stimmenzahl eine wesentliche Verschiebung zugunsten des Deutschtums ergeben. Von den zum alten Netzedistrikt gehörigen Kreise haben Deutsch- Krone, Flatow, Filehne, Czarnikau, Kolmar, Wirsitz und Bromberg über 50 Prozent deutsche Bevölkerung, Schubin und Hohen- salza über 4V Prozent. In den Städten steigt die deutsche Bevölkerung auf über 80 Prozent, desgleichen ist die eigentliche Netze- wie die Grünfließ-Niederung fast rein deutsch besiedelt. Ergab schon eine Ab¬ stimmung im ganzen Regierungsbezirk 57,4 Prozent deutscher Stimmen, lo muß man auch bei sehr vorsichtiger Schätzung an¬ nehmen, daß bei einer Abstimmung über die staatliche Zugehörigkeit im eigentlichen Retze- distrikt mindestens 60 Prozent aller Stimmen sür das Deutschtum abgegeben würden, in der Netze- und Grünfließ-Niedsrung einschlie߬ lich der daran liegenden Städte und Brom¬ bergs sicher über 8V Prozent. Es kann mit¬ hin gar keinem Zweifel unterliegen, daß dieser Distrikt nach den Wilsonschen Grundsätzen als zu Deutschland gehörig angesehen werden muß. Ihn den Polen zusprechen zu wollen, bedeutet für Wilson einen Schlag ins Gesicht. Bon Polnischer Seite wird eingewendet, die deutsche Bevölkerung , sei nicht boden¬ ständig, sei eingewandert. Ganz gewiß ist sie eingewandert. Aber diese Einwanderung hat bereits vor annähern 7d00 Jahren be¬ gonnen, und eine Bevölkerung, die so lange auf demselben Boden sitzt, darf Wohl als bodenständig bezeichnet werden. Dem Schreiber dieser Zeilen ist eine Reihe deut¬ scher Bauernhöfe bekannt, die seit mehr als L00 Jnhren nachweislich in derselben Familie vererbt worden sind. Die meisten deutschen Bauernhöfe sind ja in neuerer Zeit modern aufgebaut. In fast allen deutschen Dörfern finden sich aber auch noch Jahrhunderte alte Holzhäuser, und auch , sie zeigen schon rein niederdeutsche Bauart. Wohnung und Stall finden sich unter demselben Dach. Fast durch¬ weg sieht man bei den deutschen Höfen ur¬ alten Baumschlng, was sich bei polnischen nie findet. Die Städte sind alle nach deut¬ schem Recht gegründet, und ihre Gründungs¬ urkunden zeigen Daten aus dem dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert. Die deutsche Bevölkerung des Netzedistrikts muß also zum sehr großen Teil als durchaus bodenständig angesprochen werden. Auch in dieser Hinsicht ist der Distrikt naturrechtlich zweifellos deutsch. Einen ganz eigenartigen Beweis für die Alteingesessenheit der hiesigen deutschen Be¬ völkerung liefert noch ihre Sprache. In den Städten wird ja ein reines Hochdeutsch ge¬ sprochen, auf dem Lande aber durchweg Platt¬ deutsch, und zwar ein Platt, das vielfach sehr viel ältere Sprachformen zeigt, als man sonst in niederdeutschen Gegenden findet. So altes Sprachgut kann sich naturgemäß nur halten bei einer schon lange eingesessener und vom Ursprungsgebiet ihrer Sprache getrenn¬ ten Bevölkerung. Auch altes Lied- und Spruchgut findet sich in der Bevölkerung des Netzegebietes noch in viel größerer Menge als im übrigen Niederdeutschland. Es gelang hier in ganz kurzer Zeit, über 700Texte alter Volks¬ lieder zu sammeln, die zum Teil sehr alte Form zeigten, ein Beweis für das unverfälschte Deutschtum ihrer Bewohner und für die Länge der Zeit, die seit deren Aus- bezw. Einwanderung notwendigerweise verflossen sein muß. III. Kulturelle Zugehörigkeit. Die Ent¬ scheidung über staatliche Zugehörigkeit eines Landgebietes mit gemischter Bevölkerung wird nicht von dem Zahlenverhältnis der Bevölke¬ rung allein abhängig sein können. Man wird notwendigerweise fragen müssen, was haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/486>, abgerufen am 29.04.2024.