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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Das Problem des praktischen Bolschewismus

Sozialismus mit drei Faktoren: Arbeitskraft, Produktionsmittel, Arbeits¬
ertrag. In Rußland kann er nur mit zwei Faktoren rechnen: Mit der Arbeits¬
kraft und Produktionsmitteln. Der dritte Faktor -- der Arbeitsertrag -- bleibt
teilweise oder ganz weg. Der praktische Bolschewismus ist der akute Sozialismus
der Unterproduktion. Der westeuropäische Sozialismus hat zum Objekt die
Produktion als eine positive Größe. Im russischen Sozialismus, d. h. im Bol¬
schewismus, muß diese Größe als eine negative aufgefaßt werden. Das bringt
in den praktischen Bolschewismus vieles hinein, was dem westeuropäische"
Sozialismus wesensfremd ist.

Der Arbeitsertrag ist das Ergebnis einer Kombination der Arbeitskraft
und der Produktionsmittel. Deshalb sind an ihm interessiert der Arbeiter sowohl,
als auch der Besitzer der Produktionsmittel. Beide leben vom Arbeitserträge-
Wovon sollen sie aber leben, wenn der Arbeitsertrag ausbleibt?

Das ist ein Problem, das der westeuropäische Sozialismus nie ernstlich
ins Auge gefaßt hat. Der russische Sozialismus war aber vor dieses Problem
gestellt und mußte darauf eine Antwort finden, die in der Theorie des Sozialis-
mus nicht enthalten war. Er fand diese Antwort und tat das, was zur Zeit des
Hungers, der Mißernte, überall getan wird: Er schlachtete die Kuh, die keine
Milch mehr gab, er vermählte das Saatkorn . . .

Der Bolschewismus verzehrt die Produktionsmittel, weil die Arbeit un¬
produktiv geworden ist und der Arbeitsertrag ausbleibt.

Das ist eine Beantwortung des obigen Problems, wie sie aus dem Wesen
des Sozialismus heraus nicht gewonnen werden kann. Der Sozialismus wird
es nie billigen, daß die Produktionsmittel verzehrt werden. Die Mannigfaltigkeit
und Reichhaltigkeit der Produktionsmittel bilden ja die Voraussetzung einer
jeden rationellen Arbeit. Erst die Rationalisierung der Arbeit macht sie so
produktiv, daß ihre Produkte zu Vorräten anwachsen können. Vorräte voM
Ertrage geistiger und physischer Arbeit bilden aber die Vorbedingung einer
jeden Kultur. Werden nun die Produktionsmittel vernichtet, so wird die Arbeit
weniger produktiv und sinkt auf ihre primitiven Formen zurück; die Vorräte
der Arbeitserträge verschwinden, und damit wird die Wurzel der Kultur durch"
schnitten. Ein Angreifen der Produktionsmittel ist Naubwirtschaft, diese letztere
aber ist kulturwidrig. Ein Vernichten der Produktionsmittel führt die Menschl
in die Barbarei zurück.

Das alles ist vollkommen wahr und richtig; und die russischen Sozialisten
mögen es sich gleichfalls gesagt und vorgehalten haben. Doch sie hatten keine
Wahl. Sie mußten mit der Unterproduktion rechnen, mit dem chronischen
Hunger. Das hatten sie als Erbe des Krieges und der Revolution übernommen-
Um die Bevölkerung wenigstens am Leben erhalten zu können, mußten sie
Raubwirtschaft übergehen und die Produktionsmittel angreifen. Der BM"
schewismus hat diese Naubwirtschaft ins System gebracht.

Der praktische Bolschewismus ist ein System der Raubwirtschaft.


II.

Faßt man nun den Bolschewismus als Sozialismus des Hungers, der
Unterproduktion auf, so lassen sich daraus all seine Erscheinungsformen restlos


Das Problem des praktischen Bolschewismus

Sozialismus mit drei Faktoren: Arbeitskraft, Produktionsmittel, Arbeits¬
ertrag. In Rußland kann er nur mit zwei Faktoren rechnen: Mit der Arbeits¬
kraft und Produktionsmitteln. Der dritte Faktor — der Arbeitsertrag — bleibt
teilweise oder ganz weg. Der praktische Bolschewismus ist der akute Sozialismus
der Unterproduktion. Der westeuropäische Sozialismus hat zum Objekt die
Produktion als eine positive Größe. Im russischen Sozialismus, d. h. im Bol¬
schewismus, muß diese Größe als eine negative aufgefaßt werden. Das bringt
in den praktischen Bolschewismus vieles hinein, was dem westeuropäische«
Sozialismus wesensfremd ist.

Der Arbeitsertrag ist das Ergebnis einer Kombination der Arbeitskraft
und der Produktionsmittel. Deshalb sind an ihm interessiert der Arbeiter sowohl,
als auch der Besitzer der Produktionsmittel. Beide leben vom Arbeitserträge-
Wovon sollen sie aber leben, wenn der Arbeitsertrag ausbleibt?

Das ist ein Problem, das der westeuropäische Sozialismus nie ernstlich
ins Auge gefaßt hat. Der russische Sozialismus war aber vor dieses Problem
gestellt und mußte darauf eine Antwort finden, die in der Theorie des Sozialis-
mus nicht enthalten war. Er fand diese Antwort und tat das, was zur Zeit des
Hungers, der Mißernte, überall getan wird: Er schlachtete die Kuh, die keine
Milch mehr gab, er vermählte das Saatkorn . . .

Der Bolschewismus verzehrt die Produktionsmittel, weil die Arbeit un¬
produktiv geworden ist und der Arbeitsertrag ausbleibt.

Das ist eine Beantwortung des obigen Problems, wie sie aus dem Wesen
des Sozialismus heraus nicht gewonnen werden kann. Der Sozialismus wird
es nie billigen, daß die Produktionsmittel verzehrt werden. Die Mannigfaltigkeit
und Reichhaltigkeit der Produktionsmittel bilden ja die Voraussetzung einer
jeden rationellen Arbeit. Erst die Rationalisierung der Arbeit macht sie so
produktiv, daß ihre Produkte zu Vorräten anwachsen können. Vorräte voM
Ertrage geistiger und physischer Arbeit bilden aber die Vorbedingung einer
jeden Kultur. Werden nun die Produktionsmittel vernichtet, so wird die Arbeit
weniger produktiv und sinkt auf ihre primitiven Formen zurück; die Vorräte
der Arbeitserträge verschwinden, und damit wird die Wurzel der Kultur durch"
schnitten. Ein Angreifen der Produktionsmittel ist Naubwirtschaft, diese letztere
aber ist kulturwidrig. Ein Vernichten der Produktionsmittel führt die Menschl
in die Barbarei zurück.

Das alles ist vollkommen wahr und richtig; und die russischen Sozialisten
mögen es sich gleichfalls gesagt und vorgehalten haben. Doch sie hatten keine
Wahl. Sie mußten mit der Unterproduktion rechnen, mit dem chronischen
Hunger. Das hatten sie als Erbe des Krieges und der Revolution übernommen-
Um die Bevölkerung wenigstens am Leben erhalten zu können, mußten sie
Raubwirtschaft übergehen und die Produktionsmittel angreifen. Der BM"
schewismus hat diese Naubwirtschaft ins System gebracht.

Der praktische Bolschewismus ist ein System der Raubwirtschaft.


II.

Faßt man nun den Bolschewismus als Sozialismus des Hungers, der
Unterproduktion auf, so lassen sich daraus all seine Erscheinungsformen restlos


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[0296] Das Problem des praktischen Bolschewismus Sozialismus mit drei Faktoren: Arbeitskraft, Produktionsmittel, Arbeits¬ ertrag. In Rußland kann er nur mit zwei Faktoren rechnen: Mit der Arbeits¬ kraft und Produktionsmitteln. Der dritte Faktor — der Arbeitsertrag — bleibt teilweise oder ganz weg. Der praktische Bolschewismus ist der akute Sozialismus der Unterproduktion. Der westeuropäische Sozialismus hat zum Objekt die Produktion als eine positive Größe. Im russischen Sozialismus, d. h. im Bol¬ schewismus, muß diese Größe als eine negative aufgefaßt werden. Das bringt in den praktischen Bolschewismus vieles hinein, was dem westeuropäische« Sozialismus wesensfremd ist. Der Arbeitsertrag ist das Ergebnis einer Kombination der Arbeitskraft und der Produktionsmittel. Deshalb sind an ihm interessiert der Arbeiter sowohl, als auch der Besitzer der Produktionsmittel. Beide leben vom Arbeitserträge- Wovon sollen sie aber leben, wenn der Arbeitsertrag ausbleibt? Das ist ein Problem, das der westeuropäische Sozialismus nie ernstlich ins Auge gefaßt hat. Der russische Sozialismus war aber vor dieses Problem gestellt und mußte darauf eine Antwort finden, die in der Theorie des Sozialis- mus nicht enthalten war. Er fand diese Antwort und tat das, was zur Zeit des Hungers, der Mißernte, überall getan wird: Er schlachtete die Kuh, die keine Milch mehr gab, er vermählte das Saatkorn . . . Der Bolschewismus verzehrt die Produktionsmittel, weil die Arbeit un¬ produktiv geworden ist und der Arbeitsertrag ausbleibt. Das ist eine Beantwortung des obigen Problems, wie sie aus dem Wesen des Sozialismus heraus nicht gewonnen werden kann. Der Sozialismus wird es nie billigen, daß die Produktionsmittel verzehrt werden. Die Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit der Produktionsmittel bilden ja die Voraussetzung einer jeden rationellen Arbeit. Erst die Rationalisierung der Arbeit macht sie so produktiv, daß ihre Produkte zu Vorräten anwachsen können. Vorräte voM Ertrage geistiger und physischer Arbeit bilden aber die Vorbedingung einer jeden Kultur. Werden nun die Produktionsmittel vernichtet, so wird die Arbeit weniger produktiv und sinkt auf ihre primitiven Formen zurück; die Vorräte der Arbeitserträge verschwinden, und damit wird die Wurzel der Kultur durch" schnitten. Ein Angreifen der Produktionsmittel ist Naubwirtschaft, diese letztere aber ist kulturwidrig. Ein Vernichten der Produktionsmittel führt die Menschl in die Barbarei zurück. Das alles ist vollkommen wahr und richtig; und die russischen Sozialisten mögen es sich gleichfalls gesagt und vorgehalten haben. Doch sie hatten keine Wahl. Sie mußten mit der Unterproduktion rechnen, mit dem chronischen Hunger. Das hatten sie als Erbe des Krieges und der Revolution übernommen- Um die Bevölkerung wenigstens am Leben erhalten zu können, mußten sie Raubwirtschaft übergehen und die Produktionsmittel angreifen. Der BM" schewismus hat diese Naubwirtschaft ins System gebracht. Der praktische Bolschewismus ist ein System der Raubwirtschaft. II. Faßt man nun den Bolschewismus als Sozialismus des Hungers, der Unterproduktion auf, so lassen sich daraus all seine Erscheinungsformen restlos

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/296>, abgerufen am 05.05.2024.