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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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Offenherzigkeiten

Offenherzigkeiten
Das modische Berlin

Hunderttausende von deutschen Mitmenschen wissen schon lange nicht mehr,
wie sie ihr erbärmliches bißchen Leben fristen sollen. Mit dem Ausbruch des Hunger¬
typhus im bevorstehenden Winter wird von vielen Ärzten fast mit Sicherheit ge¬
rechnet; die Zahl der Kinder, die an Tuberkulose, d. h. Unterernährung, zugrunoe
gehen, ist sechs- bis zehnmal so groß wie im Jahre 1913. Wenn unser Nachwuchs vor
der Zeit stirbt, dann kommt es ja am Ende darauf nicht an, daß auch die Alten
frühzeitig in die Erde sinken. Und so haben wir uns mannhaft mit dem über alle
Maßen jammervollen Schicksal derer abgefunden, die sich durch ein Leben voll Arbeit,
Entbehrung und Sparsamkeit ein kleines Kapital für die Greisenjahre zurücklegten
und denen der Staat und die Schieber jetzt das mühselig Erworbene aus der Hand
reißen. Angesichts der grauenhaften Verwüstung, an der niemand geschlossenen
Auges vorbeigehen kann, ist es ungezählten von unseren Besten und Gewissenhaftesten
ein Verdruß ohnegleichen, daß das im Gegensatz zu den Kindern und Arbeits-
greisen nicht ausrottbare Volk der Leichtsinnigen sich weiter jeden Tag zu einem
Fest macht. In Dielen, Bars und Kabaretts, den durch pratschige Zeitungsannoncen
allbekannt gewordenen Schlemmerbetrieben, werden Unsummen vergeudet, mit denen
sich Hunderttausende unserer armen Brüder und Schwestern vom Hungertode retten
ließen. Gewiß, Restaurants für die vornehme Welt müssen sein, gerade so, wie
Schleichhandelhotels sein müssen; denn sie bringen, wie wir täglich lesen, Geld unter
die Leute und geben großen Scharen von Angestellten lohnenden Erwerb. Auch
Modenschauen müssen sein. Zwar können derzeit nur die Damen der ausgepichtesten
Schieber und Vampire daran denken, sich in funkelnde Gewänder zu hüllen; die
entsprechende Mehrzahl unserer Frauen ist froh, wenn sie noch ein ganzes Hemd auf
dem Leibe hat und ihre Strümpfe noch einigermaßen brauchbar sind. Trotz allem,
so lange die rote Niesenflut aus Osten uns nicht hilflos überspült, so lange entzücken
und blenden uns "Abendkleider in gewickelter Form aus Goldstoff mit schleppendem
Übermantel aus giftgrünen Tüll mit Armspangen, dazu Kopfputz aus Gotthard und
Reihern" und "Abendmantel aus Goldbrokat mit Chinchillabesatz, dazu Abendhut
aus grauem Tüll mit grauen Kronenreihern". Sie sind die nettesten Kulturdokumente
aus großer Zeit. "Anschauungsunterricht nach modernen pädagogischen Grund¬
sätzen" nennt übrigens eine Kollegin, die früher die "B. Z. am Mittag" sachver¬
ständig bediente, besagte Modenschau. Nach ihrer Auffassung legte der Abend
beredtes Zeugnis davon ab, "wieviel wir in Fragen der äußeren Kultur gelernt
haben". Diese erhabene äußere Kultur hat nicht nur die moderne Frauenwelt beleckt,
sondern erstreckt sich auch auf unsere Herren, die ja in der Tat jetzt keine finsteren
Sorgen haben. "Gerade unsere Herren könnten, soweit es ihnen möglich ist, sich all¬
mählich bemühen, neben der Dame eine bessere Figur zu machen." Dieser Aphorismus
stammt freilich nicht aus Elsa Herzogs Küche, denn wir haben ihn schon wiederholt
an anderer Stelle serviert bekommen, aber auch aufgewärmt kennzeichnet er
Stimmungen und Auffassungen lange. In welch sonnigem Paradiese müssen alle
diese Herrschaften atmen! Welche Abgründe müssen ihr Fühlen und Leben von
dem der übrigen deutschen Menschheit trennen, die vor Angst nicht weiß, woher sie
das tägliche Brot nehmen soll! Wenn darauf hingewiesen wird, daß das Ausland
an der Berliner Modenschau erkennen werde, wie kräftig und leistungsfähig wir noch
sind, so gehört diese Anschauung vom Ausland, freundlich gesagt, zu den deutschesten
aller deutschen Illusionen. Die irrsinnnige Verschwendung, die angesichts der Götzen¬
dämmerung betrieben wird, kann nur die Wirkung haben, daß das Ausland über
unser tatsächliches Elend weiter im unklaren bleibt. Genau so wie die Mitglieder der
Berliner Vielverbandskommissionen aus der blendenden Lichtfülle, die die großen
Hotels und Restaurants der Stadt umstrahlt, den Schluß zogen, daß es uns durchaus
nicht an Kohlen fehle, gerade so wird die Berliner Modenschau neuen Anstoß zu neuen
Erpressungen geben.


Offenherzigkeiten

Offenherzigkeiten
Das modische Berlin

Hunderttausende von deutschen Mitmenschen wissen schon lange nicht mehr,
wie sie ihr erbärmliches bißchen Leben fristen sollen. Mit dem Ausbruch des Hunger¬
typhus im bevorstehenden Winter wird von vielen Ärzten fast mit Sicherheit ge¬
rechnet; die Zahl der Kinder, die an Tuberkulose, d. h. Unterernährung, zugrunoe
gehen, ist sechs- bis zehnmal so groß wie im Jahre 1913. Wenn unser Nachwuchs vor
der Zeit stirbt, dann kommt es ja am Ende darauf nicht an, daß auch die Alten
frühzeitig in die Erde sinken. Und so haben wir uns mannhaft mit dem über alle
Maßen jammervollen Schicksal derer abgefunden, die sich durch ein Leben voll Arbeit,
Entbehrung und Sparsamkeit ein kleines Kapital für die Greisenjahre zurücklegten
und denen der Staat und die Schieber jetzt das mühselig Erworbene aus der Hand
reißen. Angesichts der grauenhaften Verwüstung, an der niemand geschlossenen
Auges vorbeigehen kann, ist es ungezählten von unseren Besten und Gewissenhaftesten
ein Verdruß ohnegleichen, daß das im Gegensatz zu den Kindern und Arbeits-
greisen nicht ausrottbare Volk der Leichtsinnigen sich weiter jeden Tag zu einem
Fest macht. In Dielen, Bars und Kabaretts, den durch pratschige Zeitungsannoncen
allbekannt gewordenen Schlemmerbetrieben, werden Unsummen vergeudet, mit denen
sich Hunderttausende unserer armen Brüder und Schwestern vom Hungertode retten
ließen. Gewiß, Restaurants für die vornehme Welt müssen sein, gerade so, wie
Schleichhandelhotels sein müssen; denn sie bringen, wie wir täglich lesen, Geld unter
die Leute und geben großen Scharen von Angestellten lohnenden Erwerb. Auch
Modenschauen müssen sein. Zwar können derzeit nur die Damen der ausgepichtesten
Schieber und Vampire daran denken, sich in funkelnde Gewänder zu hüllen; die
entsprechende Mehrzahl unserer Frauen ist froh, wenn sie noch ein ganzes Hemd auf
dem Leibe hat und ihre Strümpfe noch einigermaßen brauchbar sind. Trotz allem,
so lange die rote Niesenflut aus Osten uns nicht hilflos überspült, so lange entzücken
und blenden uns „Abendkleider in gewickelter Form aus Goldstoff mit schleppendem
Übermantel aus giftgrünen Tüll mit Armspangen, dazu Kopfputz aus Gotthard und
Reihern" und „Abendmantel aus Goldbrokat mit Chinchillabesatz, dazu Abendhut
aus grauem Tüll mit grauen Kronenreihern". Sie sind die nettesten Kulturdokumente
aus großer Zeit. „Anschauungsunterricht nach modernen pädagogischen Grund¬
sätzen" nennt übrigens eine Kollegin, die früher die „B. Z. am Mittag" sachver¬
ständig bediente, besagte Modenschau. Nach ihrer Auffassung legte der Abend
beredtes Zeugnis davon ab, „wieviel wir in Fragen der äußeren Kultur gelernt
haben". Diese erhabene äußere Kultur hat nicht nur die moderne Frauenwelt beleckt,
sondern erstreckt sich auch auf unsere Herren, die ja in der Tat jetzt keine finsteren
Sorgen haben. „Gerade unsere Herren könnten, soweit es ihnen möglich ist, sich all¬
mählich bemühen, neben der Dame eine bessere Figur zu machen." Dieser Aphorismus
stammt freilich nicht aus Elsa Herzogs Küche, denn wir haben ihn schon wiederholt
an anderer Stelle serviert bekommen, aber auch aufgewärmt kennzeichnet er
Stimmungen und Auffassungen lange. In welch sonnigem Paradiese müssen alle
diese Herrschaften atmen! Welche Abgründe müssen ihr Fühlen und Leben von
dem der übrigen deutschen Menschheit trennen, die vor Angst nicht weiß, woher sie
das tägliche Brot nehmen soll! Wenn darauf hingewiesen wird, daß das Ausland
an der Berliner Modenschau erkennen werde, wie kräftig und leistungsfähig wir noch
sind, so gehört diese Anschauung vom Ausland, freundlich gesagt, zu den deutschesten
aller deutschen Illusionen. Die irrsinnnige Verschwendung, die angesichts der Götzen¬
dämmerung betrieben wird, kann nur die Wirkung haben, daß das Ausland über
unser tatsächliches Elend weiter im unklaren bleibt. Genau so wie die Mitglieder der
Berliner Vielverbandskommissionen aus der blendenden Lichtfülle, die die großen
Hotels und Restaurants der Stadt umstrahlt, den Schluß zogen, daß es uns durchaus
nicht an Kohlen fehle, gerade so wird die Berliner Modenschau neuen Anstoß zu neuen
Erpressungen geben.


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[0232] Offenherzigkeiten Offenherzigkeiten Das modische Berlin Hunderttausende von deutschen Mitmenschen wissen schon lange nicht mehr, wie sie ihr erbärmliches bißchen Leben fristen sollen. Mit dem Ausbruch des Hunger¬ typhus im bevorstehenden Winter wird von vielen Ärzten fast mit Sicherheit ge¬ rechnet; die Zahl der Kinder, die an Tuberkulose, d. h. Unterernährung, zugrunoe gehen, ist sechs- bis zehnmal so groß wie im Jahre 1913. Wenn unser Nachwuchs vor der Zeit stirbt, dann kommt es ja am Ende darauf nicht an, daß auch die Alten frühzeitig in die Erde sinken. Und so haben wir uns mannhaft mit dem über alle Maßen jammervollen Schicksal derer abgefunden, die sich durch ein Leben voll Arbeit, Entbehrung und Sparsamkeit ein kleines Kapital für die Greisenjahre zurücklegten und denen der Staat und die Schieber jetzt das mühselig Erworbene aus der Hand reißen. Angesichts der grauenhaften Verwüstung, an der niemand geschlossenen Auges vorbeigehen kann, ist es ungezählten von unseren Besten und Gewissenhaftesten ein Verdruß ohnegleichen, daß das im Gegensatz zu den Kindern und Arbeits- greisen nicht ausrottbare Volk der Leichtsinnigen sich weiter jeden Tag zu einem Fest macht. In Dielen, Bars und Kabaretts, den durch pratschige Zeitungsannoncen allbekannt gewordenen Schlemmerbetrieben, werden Unsummen vergeudet, mit denen sich Hunderttausende unserer armen Brüder und Schwestern vom Hungertode retten ließen. Gewiß, Restaurants für die vornehme Welt müssen sein, gerade so, wie Schleichhandelhotels sein müssen; denn sie bringen, wie wir täglich lesen, Geld unter die Leute und geben großen Scharen von Angestellten lohnenden Erwerb. Auch Modenschauen müssen sein. Zwar können derzeit nur die Damen der ausgepichtesten Schieber und Vampire daran denken, sich in funkelnde Gewänder zu hüllen; die entsprechende Mehrzahl unserer Frauen ist froh, wenn sie noch ein ganzes Hemd auf dem Leibe hat und ihre Strümpfe noch einigermaßen brauchbar sind. Trotz allem, so lange die rote Niesenflut aus Osten uns nicht hilflos überspült, so lange entzücken und blenden uns „Abendkleider in gewickelter Form aus Goldstoff mit schleppendem Übermantel aus giftgrünen Tüll mit Armspangen, dazu Kopfputz aus Gotthard und Reihern" und „Abendmantel aus Goldbrokat mit Chinchillabesatz, dazu Abendhut aus grauem Tüll mit grauen Kronenreihern". Sie sind die nettesten Kulturdokumente aus großer Zeit. „Anschauungsunterricht nach modernen pädagogischen Grund¬ sätzen" nennt übrigens eine Kollegin, die früher die „B. Z. am Mittag" sachver¬ ständig bediente, besagte Modenschau. Nach ihrer Auffassung legte der Abend beredtes Zeugnis davon ab, „wieviel wir in Fragen der äußeren Kultur gelernt haben". Diese erhabene äußere Kultur hat nicht nur die moderne Frauenwelt beleckt, sondern erstreckt sich auch auf unsere Herren, die ja in der Tat jetzt keine finsteren Sorgen haben. „Gerade unsere Herren könnten, soweit es ihnen möglich ist, sich all¬ mählich bemühen, neben der Dame eine bessere Figur zu machen." Dieser Aphorismus stammt freilich nicht aus Elsa Herzogs Küche, denn wir haben ihn schon wiederholt an anderer Stelle serviert bekommen, aber auch aufgewärmt kennzeichnet er Stimmungen und Auffassungen lange. In welch sonnigem Paradiese müssen alle diese Herrschaften atmen! Welche Abgründe müssen ihr Fühlen und Leben von dem der übrigen deutschen Menschheit trennen, die vor Angst nicht weiß, woher sie das tägliche Brot nehmen soll! Wenn darauf hingewiesen wird, daß das Ausland an der Berliner Modenschau erkennen werde, wie kräftig und leistungsfähig wir noch sind, so gehört diese Anschauung vom Ausland, freundlich gesagt, zu den deutschesten aller deutschen Illusionen. Die irrsinnnige Verschwendung, die angesichts der Götzen¬ dämmerung betrieben wird, kann nur die Wirkung haben, daß das Ausland über unser tatsächliches Elend weiter im unklaren bleibt. Genau so wie die Mitglieder der Berliner Vielverbandskommissionen aus der blendenden Lichtfülle, die die großen Hotels und Restaurants der Stadt umstrahlt, den Schluß zogen, daß es uns durchaus nicht an Kohlen fehle, gerade so wird die Berliner Modenschau neuen Anstoß zu neuen Erpressungen geben.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/232>, abgerufen am 01.05.2024.