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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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Zum tonsetzerischen Schaffen der Gegenwart

ZUM tonsetzerischen schaffen der Gegenwart
Dr. Hans Joachim Moser, von
Privatdozent der Musikwissenschaft an der Universität Halle

le Entwicklung jeder Kunst wechselt zwischen Windstille und
Sturm, jahrhundertelanges ruhiges Wachstum wird von Zeit
zu Zeit durch Naturkatastrophen abgelöst, die alles umzustürzen
und zu zermalmen drohen. Hat aber der Wettergott den Himmel
rein gefegt^ so strahlt aus dem alten Blau wieder die alte Sonne
herab und das frischgewaschene Erdreich leuchtet verjüngt auf. Haben auch
hier und da die entfesselten Gewalten dem Wasser einen neuen Weg gebahnt
und einen morschen Baum gestürzt, so meint der Zuschauer doch, es hätte so
großen Aufwandes an Dramatik gar nicht bedurft, um zu dem schließlichen
Ergebnis zu gelangen. Die Geschichte der deutschen Musik hat mehrmals der¬
artige Wirbelwinde erlebt, wo ein furioses Prestissimo plötzlich in das freundliche
Andante des historischen Werdens mit wilden Dissonanzen hineingebrochen ist.
Wenn da zwei Chronisten des 14. Jahrhunderts unabhängig voneinander be¬
richten: "Die Musik hat sich sprungartig bereichert und verändert, und wer noch
kürzlich der beste Pfeifer war im Land, der dünkt den Leuten jetzt vor lauter
neuen Liedern keine Fliege mehr wert zu sein ---", dann grollt aus so großer
zeitlicher Entfernung nur noch ein schwacher Widerhall schwerer Gewitter nach.
Schon wesentlich stürmischer erscheint uus Heutigen das Echo, das die von Italien
her ums Jahr 1610 nach Deutschland hereindringende Kunst des Generalbasses
bei einem Schütz, Schein, Michel Praetorius geweckt hat, und noch ein Menschen-
alter später hat der so heraufgeschworene Konflikt zwischen den Organisten als
den Aposteln der neumodischen Harmonik und den Kantoren als den Anhängern
der alten, kontrapunktlichen Chorkunst bis zu handgreiflichen Auseinander¬
setzungen Anlaß gegeben. Wieder solch eine schrille Perpetie bedeutete der
scharfe Schnitt um 1750 zwischen dem Stil des abklingenden Bachzeitalters und
dem von Wien und Mannheim her heraufgeführten Stil der Empfindsamkeit,
der letzten Endes als Auftakt zur Beethovenschen Romantik angesprochen werden
muß. Und heute erleben wir von neuem einen stürmischen Szenenwechsel.

Die Epoche Wagner-Brahms-Bruckner liegt zweifellos in den letzten
Zügen. Denn wenn die erste diesen Meistern nachgefolgte Generation der
Pfitzner, Reger, R. Strauß, Mahler, Humperdinck, Woyrsch usw. auch mehr
und besseres gewesen ist denn bloßes Epigonentum, ja Kühnes und Neues ge¬
wollt hat oder noch will, so ist es doch immerhin ein heute durchschnittlich fast
sechzig Jahre alt ge wordner Jahrgang abgeklärten Weines, der auch schon wieder
von einer jüngeren Partei als der Kreis der "gemäßigt Konservativen" be-.
trachtet wird.

Es fragt sich nun, was dieses Geschlecht der jetzt Dreißig- bis Vierzig¬
jährigen wert ist und wohin es zu rechnen sei --noch diesseits oder schon jenseits
der Paßhöhe, in deren Nähe wir uns allen Anzeichen nach befinden? Die Haupt¬
raum, um die sich das Interesse der Gegenwart und nächsten Zukunft dreht,
sind die Österreicher Arnold Schönberg und Franz Schreker, denen sich als


Zum tonsetzerischen Schaffen der Gegenwart

ZUM tonsetzerischen schaffen der Gegenwart
Dr. Hans Joachim Moser, von
Privatdozent der Musikwissenschaft an der Universität Halle

le Entwicklung jeder Kunst wechselt zwischen Windstille und
Sturm, jahrhundertelanges ruhiges Wachstum wird von Zeit
zu Zeit durch Naturkatastrophen abgelöst, die alles umzustürzen
und zu zermalmen drohen. Hat aber der Wettergott den Himmel
rein gefegt^ so strahlt aus dem alten Blau wieder die alte Sonne
herab und das frischgewaschene Erdreich leuchtet verjüngt auf. Haben auch
hier und da die entfesselten Gewalten dem Wasser einen neuen Weg gebahnt
und einen morschen Baum gestürzt, so meint der Zuschauer doch, es hätte so
großen Aufwandes an Dramatik gar nicht bedurft, um zu dem schließlichen
Ergebnis zu gelangen. Die Geschichte der deutschen Musik hat mehrmals der¬
artige Wirbelwinde erlebt, wo ein furioses Prestissimo plötzlich in das freundliche
Andante des historischen Werdens mit wilden Dissonanzen hineingebrochen ist.
Wenn da zwei Chronisten des 14. Jahrhunderts unabhängig voneinander be¬
richten: „Die Musik hat sich sprungartig bereichert und verändert, und wer noch
kürzlich der beste Pfeifer war im Land, der dünkt den Leuten jetzt vor lauter
neuen Liedern keine Fliege mehr wert zu sein -—", dann grollt aus so großer
zeitlicher Entfernung nur noch ein schwacher Widerhall schwerer Gewitter nach.
Schon wesentlich stürmischer erscheint uus Heutigen das Echo, das die von Italien
her ums Jahr 1610 nach Deutschland hereindringende Kunst des Generalbasses
bei einem Schütz, Schein, Michel Praetorius geweckt hat, und noch ein Menschen-
alter später hat der so heraufgeschworene Konflikt zwischen den Organisten als
den Aposteln der neumodischen Harmonik und den Kantoren als den Anhängern
der alten, kontrapunktlichen Chorkunst bis zu handgreiflichen Auseinander¬
setzungen Anlaß gegeben. Wieder solch eine schrille Perpetie bedeutete der
scharfe Schnitt um 1750 zwischen dem Stil des abklingenden Bachzeitalters und
dem von Wien und Mannheim her heraufgeführten Stil der Empfindsamkeit,
der letzten Endes als Auftakt zur Beethovenschen Romantik angesprochen werden
muß. Und heute erleben wir von neuem einen stürmischen Szenenwechsel.

Die Epoche Wagner-Brahms-Bruckner liegt zweifellos in den letzten
Zügen. Denn wenn die erste diesen Meistern nachgefolgte Generation der
Pfitzner, Reger, R. Strauß, Mahler, Humperdinck, Woyrsch usw. auch mehr
und besseres gewesen ist denn bloßes Epigonentum, ja Kühnes und Neues ge¬
wollt hat oder noch will, so ist es doch immerhin ein heute durchschnittlich fast
sechzig Jahre alt ge wordner Jahrgang abgeklärten Weines, der auch schon wieder
von einer jüngeren Partei als der Kreis der „gemäßigt Konservativen" be-.
trachtet wird.

Es fragt sich nun, was dieses Geschlecht der jetzt Dreißig- bis Vierzig¬
jährigen wert ist und wohin es zu rechnen sei —noch diesseits oder schon jenseits
der Paßhöhe, in deren Nähe wir uns allen Anzeichen nach befinden? Die Haupt¬
raum, um die sich das Interesse der Gegenwart und nächsten Zukunft dreht,
sind die Österreicher Arnold Schönberg und Franz Schreker, denen sich als


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[0088] Zum tonsetzerischen Schaffen der Gegenwart ZUM tonsetzerischen schaffen der Gegenwart Dr. Hans Joachim Moser, von Privatdozent der Musikwissenschaft an der Universität Halle le Entwicklung jeder Kunst wechselt zwischen Windstille und Sturm, jahrhundertelanges ruhiges Wachstum wird von Zeit zu Zeit durch Naturkatastrophen abgelöst, die alles umzustürzen und zu zermalmen drohen. Hat aber der Wettergott den Himmel rein gefegt^ so strahlt aus dem alten Blau wieder die alte Sonne herab und das frischgewaschene Erdreich leuchtet verjüngt auf. Haben auch hier und da die entfesselten Gewalten dem Wasser einen neuen Weg gebahnt und einen morschen Baum gestürzt, so meint der Zuschauer doch, es hätte so großen Aufwandes an Dramatik gar nicht bedurft, um zu dem schließlichen Ergebnis zu gelangen. Die Geschichte der deutschen Musik hat mehrmals der¬ artige Wirbelwinde erlebt, wo ein furioses Prestissimo plötzlich in das freundliche Andante des historischen Werdens mit wilden Dissonanzen hineingebrochen ist. Wenn da zwei Chronisten des 14. Jahrhunderts unabhängig voneinander be¬ richten: „Die Musik hat sich sprungartig bereichert und verändert, und wer noch kürzlich der beste Pfeifer war im Land, der dünkt den Leuten jetzt vor lauter neuen Liedern keine Fliege mehr wert zu sein -—", dann grollt aus so großer zeitlicher Entfernung nur noch ein schwacher Widerhall schwerer Gewitter nach. Schon wesentlich stürmischer erscheint uus Heutigen das Echo, das die von Italien her ums Jahr 1610 nach Deutschland hereindringende Kunst des Generalbasses bei einem Schütz, Schein, Michel Praetorius geweckt hat, und noch ein Menschen- alter später hat der so heraufgeschworene Konflikt zwischen den Organisten als den Aposteln der neumodischen Harmonik und den Kantoren als den Anhängern der alten, kontrapunktlichen Chorkunst bis zu handgreiflichen Auseinander¬ setzungen Anlaß gegeben. Wieder solch eine schrille Perpetie bedeutete der scharfe Schnitt um 1750 zwischen dem Stil des abklingenden Bachzeitalters und dem von Wien und Mannheim her heraufgeführten Stil der Empfindsamkeit, der letzten Endes als Auftakt zur Beethovenschen Romantik angesprochen werden muß. Und heute erleben wir von neuem einen stürmischen Szenenwechsel. Die Epoche Wagner-Brahms-Bruckner liegt zweifellos in den letzten Zügen. Denn wenn die erste diesen Meistern nachgefolgte Generation der Pfitzner, Reger, R. Strauß, Mahler, Humperdinck, Woyrsch usw. auch mehr und besseres gewesen ist denn bloßes Epigonentum, ja Kühnes und Neues ge¬ wollt hat oder noch will, so ist es doch immerhin ein heute durchschnittlich fast sechzig Jahre alt ge wordner Jahrgang abgeklärten Weines, der auch schon wieder von einer jüngeren Partei als der Kreis der „gemäßigt Konservativen" be-. trachtet wird. Es fragt sich nun, was dieses Geschlecht der jetzt Dreißig- bis Vierzig¬ jährigen wert ist und wohin es zu rechnen sei —noch diesseits oder schon jenseits der Paßhöhe, in deren Nähe wir uns allen Anzeichen nach befinden? Die Haupt¬ raum, um die sich das Interesse der Gegenwart und nächsten Zukunft dreht, sind die Österreicher Arnold Schönberg und Franz Schreker, denen sich als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/88>, abgerufen am 01.05.2024.