Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Versailles und Moskau

Versailles und Moskau
Die Menschheitsfrage unserer Zeit
Friedrich von Berthelsdorfer von

6^dire neue Zeit zieht herauf. Wir haben den Ausgang der alten
Zeit alle noch gesehen, ja wir leben meist noch in der alten Bor¬
stellungswelt, die den Mittelpunkt der Geschichte in Europa und
in England fand. Im Weltkriege aber hat unser Geschlecht einen
der ganz großen Wendepunkte der Menschheitsgeschichte, vielleicht
den größten, seit es für uns Geschichte gibt, erlebt. Das wird erkennbar, wenn
wir auf die uns überlieferten Zeiten der Menschheitsentwicklung zurückblicken. In
grauer Borzeit das Reich der Pharaonen, dann Babylon und Assyrien, das
persische Reich, das griechische Zeitalter, das römische Reich, die Völkerwanderung,
das Reich Karls des Großen, und auf der anderen Seite das alte chinesische
Reich, uralte indische Kultur, sagenhafte Reiche in Amerika, sie alle gewiß groß
in ihrer Art, aber eben doch beschränkt auf kleine Teile der Erde, ihr Macht¬
streben und dessen Feinde begrenzt von engem Gesichtskreis, nicht die ganze Erde
umfassend. Dann beginnt mit dem Zeitalter der Entdeckungen die Menschheit
mehr und mehr die ganze Welt zu überblicken. Westeuropa erhebt Anspruch auf
Weltherrschaft, und nach jahrhundertelangen Kämpfen wird England der vor¬
nehmste Träger dieser Idee. Nun erwachsen, wie früher im engen Rahmen, auf
der ganzen Erde die Kräfte des Widerstandes gegen den, der die Macht bean¬
sprucht: Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776, Rußlands
Erwachsen zur asiatischen Großmacht, Japans Eintritt in die Geschichte und end¬
lich die Entscheidung des größten Krieges, den die Menschheit bisher sah, durch
die Vereinigten Staaten. Jetzt ist die Geschichte zur Menschheitsgeschichte ge¬
worden, jetzt, da Verkehr und technischer Fortschritt den Raum überbrücken, ringen
die Kräfte der Menschheit über die ganze Erdkugel miteinander. Die Vormacht¬
stellung Europas und Englands wird von der Menschheit nicht mehr anerkannt.
Außereuropäische Nationen erheben den Anspruch ' auf Gleichberechtigung oder
Vorherrschaft.

Diese geschichtliche Entwicklung wurde begleitet und vorbereitet durch eine
immer engere wirtschaftliche Verknüpfung der Menschheit vor dem Kriege. Die
Volkswirtschaft wuchs zur Weltwirtschaft. Und die wirtschaftlichen Verbindungen
und Abhängigkeiten wurden so eng, so vielgestaltig, daß es vernünftigerweise
dringendstes Bedürfnis der Menschheit nach dem Kriege hätte sein müssen, die
Wirtschaftsbeziehungen und damit die Erzeugung und den Austausch von Gütern
wieder herzustellen.

Statt dessen hat man durch Versailles die Welt geschieden in Sieger und
Besiegte, in Ausbeuter und Ausgebeutete. Man schaltete eine der größten und
leisrimgsfähigsten Werkstätten der Menschheit aus, noch nach dem Waffenstillstand
unterwarf man Deutschland der Tortur einer 9 Monate dauernden Blockade, und
als dann der Frieden geschlossen war, wurde durch ihn Deutschlands Leben in
Wirtschaft und Politik vom freien Spiel der Kräfte ferngehalten und, insbesondere
durch die Bestimmungen über die Kriegsentschädigung, in die Hand der Sieger-


Versailles und Moskau

Versailles und Moskau
Die Menschheitsfrage unserer Zeit
Friedrich von Berthelsdorfer von

6^dire neue Zeit zieht herauf. Wir haben den Ausgang der alten
Zeit alle noch gesehen, ja wir leben meist noch in der alten Bor¬
stellungswelt, die den Mittelpunkt der Geschichte in Europa und
in England fand. Im Weltkriege aber hat unser Geschlecht einen
der ganz großen Wendepunkte der Menschheitsgeschichte, vielleicht
den größten, seit es für uns Geschichte gibt, erlebt. Das wird erkennbar, wenn
wir auf die uns überlieferten Zeiten der Menschheitsentwicklung zurückblicken. In
grauer Borzeit das Reich der Pharaonen, dann Babylon und Assyrien, das
persische Reich, das griechische Zeitalter, das römische Reich, die Völkerwanderung,
das Reich Karls des Großen, und auf der anderen Seite das alte chinesische
Reich, uralte indische Kultur, sagenhafte Reiche in Amerika, sie alle gewiß groß
in ihrer Art, aber eben doch beschränkt auf kleine Teile der Erde, ihr Macht¬
streben und dessen Feinde begrenzt von engem Gesichtskreis, nicht die ganze Erde
umfassend. Dann beginnt mit dem Zeitalter der Entdeckungen die Menschheit
mehr und mehr die ganze Welt zu überblicken. Westeuropa erhebt Anspruch auf
Weltherrschaft, und nach jahrhundertelangen Kämpfen wird England der vor¬
nehmste Träger dieser Idee. Nun erwachsen, wie früher im engen Rahmen, auf
der ganzen Erde die Kräfte des Widerstandes gegen den, der die Macht bean¬
sprucht: Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776, Rußlands
Erwachsen zur asiatischen Großmacht, Japans Eintritt in die Geschichte und end¬
lich die Entscheidung des größten Krieges, den die Menschheit bisher sah, durch
die Vereinigten Staaten. Jetzt ist die Geschichte zur Menschheitsgeschichte ge¬
worden, jetzt, da Verkehr und technischer Fortschritt den Raum überbrücken, ringen
die Kräfte der Menschheit über die ganze Erdkugel miteinander. Die Vormacht¬
stellung Europas und Englands wird von der Menschheit nicht mehr anerkannt.
Außereuropäische Nationen erheben den Anspruch ' auf Gleichberechtigung oder
Vorherrschaft.

Diese geschichtliche Entwicklung wurde begleitet und vorbereitet durch eine
immer engere wirtschaftliche Verknüpfung der Menschheit vor dem Kriege. Die
Volkswirtschaft wuchs zur Weltwirtschaft. Und die wirtschaftlichen Verbindungen
und Abhängigkeiten wurden so eng, so vielgestaltig, daß es vernünftigerweise
dringendstes Bedürfnis der Menschheit nach dem Kriege hätte sein müssen, die
Wirtschaftsbeziehungen und damit die Erzeugung und den Austausch von Gütern
wieder herzustellen.

Statt dessen hat man durch Versailles die Welt geschieden in Sieger und
Besiegte, in Ausbeuter und Ausgebeutete. Man schaltete eine der größten und
leisrimgsfähigsten Werkstätten der Menschheit aus, noch nach dem Waffenstillstand
unterwarf man Deutschland der Tortur einer 9 Monate dauernden Blockade, und
als dann der Frieden geschlossen war, wurde durch ihn Deutschlands Leben in
Wirtschaft und Politik vom freien Spiel der Kräfte ferngehalten und, insbesondere
durch die Bestimmungen über die Kriegsentschädigung, in die Hand der Sieger-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0178" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/338611"/>
          <fw type="header" place="top"> Versailles und Moskau</fw><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Versailles und Moskau<lb/>
Die Menschheitsfrage unserer Zeit<lb/><note type="byline"> Friedrich von Berthelsdorfer</note> von </head><lb/>
          <p xml:id="ID_579"> 6^dire neue Zeit zieht herauf. Wir haben den Ausgang der alten<lb/>
Zeit alle noch gesehen, ja wir leben meist noch in der alten Bor¬<lb/>
stellungswelt, die den Mittelpunkt der Geschichte in Europa und<lb/>
in England fand. Im Weltkriege aber hat unser Geschlecht einen<lb/>
der ganz großen Wendepunkte der Menschheitsgeschichte, vielleicht<lb/>
den größten, seit es für uns Geschichte gibt, erlebt. Das wird erkennbar, wenn<lb/>
wir auf die uns überlieferten Zeiten der Menschheitsentwicklung zurückblicken. In<lb/>
grauer Borzeit das Reich der Pharaonen, dann Babylon und Assyrien, das<lb/>
persische Reich, das griechische Zeitalter, das römische Reich, die Völkerwanderung,<lb/>
das Reich Karls des Großen, und auf der anderen Seite das alte chinesische<lb/>
Reich, uralte indische Kultur, sagenhafte Reiche in Amerika, sie alle gewiß groß<lb/>
in ihrer Art, aber eben doch beschränkt auf kleine Teile der Erde, ihr Macht¬<lb/>
streben und dessen Feinde begrenzt von engem Gesichtskreis, nicht die ganze Erde<lb/>
umfassend. Dann beginnt mit dem Zeitalter der Entdeckungen die Menschheit<lb/>
mehr und mehr die ganze Welt zu überblicken. Westeuropa erhebt Anspruch auf<lb/>
Weltherrschaft, und nach jahrhundertelangen Kämpfen wird England der vor¬<lb/>
nehmste Träger dieser Idee. Nun erwachsen, wie früher im engen Rahmen, auf<lb/>
der ganzen Erde die Kräfte des Widerstandes gegen den, der die Macht bean¬<lb/>
sprucht: Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776, Rußlands<lb/>
Erwachsen zur asiatischen Großmacht, Japans Eintritt in die Geschichte und end¬<lb/>
lich die Entscheidung des größten Krieges, den die Menschheit bisher sah, durch<lb/>
die Vereinigten Staaten. Jetzt ist die Geschichte zur Menschheitsgeschichte ge¬<lb/>
worden, jetzt, da Verkehr und technischer Fortschritt den Raum überbrücken, ringen<lb/>
die Kräfte der Menschheit über die ganze Erdkugel miteinander. Die Vormacht¬<lb/>
stellung Europas und Englands wird von der Menschheit nicht mehr anerkannt.<lb/>
Außereuropäische Nationen erheben den Anspruch ' auf Gleichberechtigung oder<lb/>
Vorherrschaft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_580"> Diese geschichtliche Entwicklung wurde begleitet und vorbereitet durch eine<lb/>
immer engere wirtschaftliche Verknüpfung der Menschheit vor dem Kriege. Die<lb/>
Volkswirtschaft wuchs zur Weltwirtschaft. Und die wirtschaftlichen Verbindungen<lb/>
und Abhängigkeiten wurden so eng, so vielgestaltig, daß es vernünftigerweise<lb/>
dringendstes Bedürfnis der Menschheit nach dem Kriege hätte sein müssen, die<lb/>
Wirtschaftsbeziehungen und damit die Erzeugung und den Austausch von Gütern<lb/>
wieder herzustellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_581" next="#ID_582"> Statt dessen hat man durch Versailles die Welt geschieden in Sieger und<lb/>
Besiegte, in Ausbeuter und Ausgebeutete. Man schaltete eine der größten und<lb/>
leisrimgsfähigsten Werkstätten der Menschheit aus, noch nach dem Waffenstillstand<lb/>
unterwarf man Deutschland der Tortur einer 9 Monate dauernden Blockade, und<lb/>
als dann der Frieden geschlossen war, wurde durch ihn Deutschlands Leben in<lb/>
Wirtschaft und Politik vom freien Spiel der Kräfte ferngehalten und, insbesondere<lb/>
durch die Bestimmungen über die Kriegsentschädigung, in die Hand der Sieger-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0178] Versailles und Moskau Versailles und Moskau Die Menschheitsfrage unserer Zeit Friedrich von Berthelsdorfer von 6^dire neue Zeit zieht herauf. Wir haben den Ausgang der alten Zeit alle noch gesehen, ja wir leben meist noch in der alten Bor¬ stellungswelt, die den Mittelpunkt der Geschichte in Europa und in England fand. Im Weltkriege aber hat unser Geschlecht einen der ganz großen Wendepunkte der Menschheitsgeschichte, vielleicht den größten, seit es für uns Geschichte gibt, erlebt. Das wird erkennbar, wenn wir auf die uns überlieferten Zeiten der Menschheitsentwicklung zurückblicken. In grauer Borzeit das Reich der Pharaonen, dann Babylon und Assyrien, das persische Reich, das griechische Zeitalter, das römische Reich, die Völkerwanderung, das Reich Karls des Großen, und auf der anderen Seite das alte chinesische Reich, uralte indische Kultur, sagenhafte Reiche in Amerika, sie alle gewiß groß in ihrer Art, aber eben doch beschränkt auf kleine Teile der Erde, ihr Macht¬ streben und dessen Feinde begrenzt von engem Gesichtskreis, nicht die ganze Erde umfassend. Dann beginnt mit dem Zeitalter der Entdeckungen die Menschheit mehr und mehr die ganze Welt zu überblicken. Westeuropa erhebt Anspruch auf Weltherrschaft, und nach jahrhundertelangen Kämpfen wird England der vor¬ nehmste Träger dieser Idee. Nun erwachsen, wie früher im engen Rahmen, auf der ganzen Erde die Kräfte des Widerstandes gegen den, der die Macht bean¬ sprucht: Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776, Rußlands Erwachsen zur asiatischen Großmacht, Japans Eintritt in die Geschichte und end¬ lich die Entscheidung des größten Krieges, den die Menschheit bisher sah, durch die Vereinigten Staaten. Jetzt ist die Geschichte zur Menschheitsgeschichte ge¬ worden, jetzt, da Verkehr und technischer Fortschritt den Raum überbrücken, ringen die Kräfte der Menschheit über die ganze Erdkugel miteinander. Die Vormacht¬ stellung Europas und Englands wird von der Menschheit nicht mehr anerkannt. Außereuropäische Nationen erheben den Anspruch ' auf Gleichberechtigung oder Vorherrschaft. Diese geschichtliche Entwicklung wurde begleitet und vorbereitet durch eine immer engere wirtschaftliche Verknüpfung der Menschheit vor dem Kriege. Die Volkswirtschaft wuchs zur Weltwirtschaft. Und die wirtschaftlichen Verbindungen und Abhängigkeiten wurden so eng, so vielgestaltig, daß es vernünftigerweise dringendstes Bedürfnis der Menschheit nach dem Kriege hätte sein müssen, die Wirtschaftsbeziehungen und damit die Erzeugung und den Austausch von Gütern wieder herzustellen. Statt dessen hat man durch Versailles die Welt geschieden in Sieger und Besiegte, in Ausbeuter und Ausgebeutete. Man schaltete eine der größten und leisrimgsfähigsten Werkstätten der Menschheit aus, noch nach dem Waffenstillstand unterwarf man Deutschland der Tortur einer 9 Monate dauernden Blockade, und als dann der Frieden geschlossen war, wurde durch ihn Deutschlands Leben in Wirtschaft und Politik vom freien Spiel der Kräfte ferngehalten und, insbesondere durch die Bestimmungen über die Kriegsentschädigung, in die Hand der Sieger-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/178
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/178>, abgerufen am 04.05.2024.