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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

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Die "konservative" Staatsidee

Die "konservative" Staatsidee
Fritz Aem von
I.

marins hat in Heft 2/3 der "Grenzboten" (S. 67) die sechs Politi¬
schen Ideologien nebeneinander gestellt, die seiner Meinung nach
gegenwärtig Europa beherrschen. Die Begriffe, um die sich seine
sechs Ideologien gruppieren, sind:

1. der Sinn für Macht schlechthin, "Realpolitik", d. h, das Streben
nach möglichst viel irgendwie verwendbarer Potentieller Energie,
2. die Beurteilung aller politischen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt
der Mehrung der Verbrauchs guter, d. h. Wirtschaftspolitik,
3. der Individualismus, der die Bindung an überindividuelle Einheiten
möglichst einschränken will, d. h. der Liberalismus,
4. der Gedanke der abstrakt ausgleichenden Gerechtigkeit, notwendig ver¬
knüpft mit einer besonders starken Bindung des Individuums an
überindividuelle Einheiten, d. h. der Kommunismus, der heute
auftritt als Religion der Weltrevolution,
5. die Erlösung der Einzelseele und die dazu gehörige Gemeinde, d. h.
die katholische Idee,
6. die Nation als Beziehungspunkt aller politischen Kräfte und Zwecke.
Menenius will alle tatsächlichen Politischen Strömungen unserer Zeit als

.Kombinationen dieser sechs Grundideen auffassen.

Es fällt auf, daß von einer konservativen Staatsidee hier überhaupt nicht
die Rede ist. Der Eindruck, daß es eine solche in der praktischen Politik kaum
mehr gibt, ist heute weit verbreitet. Ein jüngerer Politiker hat aus dieser Auf¬
fassung heraus gelegentlich die Bezeichnung der "Deutschnativnalen Volkspartei"
als "Liberalisierter Nationalpartei" geprägt.

Eine genauere Untersuchung der in unserer Zeit lebenden Ideologien wird
zu einem wesentlich anderen Ergebnis führen. Die Abplattung der politischen
Ideale zu bloßen Schlagworten infolge der Demokratisierung unserer Zeit hat
allerdings zur Folge, daß das nicht zum Massenfang geeignete konservative
Staatsideal sich aus der Arena zurückgezogen hat, in welcher das Ringen der
Parteiideale mehr einem Boxkampf als einer geistigen Auseinandersetzung ähnlich
geworden ist. Wenn wir uns nicht täuschen, so bereitet sich aber gerade in
unserer Zeit die Wiederauferstehung der konservativen Staatsidee zu einem wirk¬
lichen Ideal vor. Die konservativen Elemente finden am heutigen Staat wenig
mehr zu konservieren, um so mehr aber neu zu schaffen. Vielleicht steht nun die
geistige Schöpferkraft der Ideen, in die sich das politische Fühlen der Menschheit
spektralanalytisch auseinanderlegt, oft im umgekehrten Verhältnis zu dem
mechanisierten Machtbesitz ihrer Träger.' Die konservative Staatsidee konnte ein¬
schlummern, solange das deutsche Staatswesen hauptsächlich von konservativen
Grundsätzen und Personenkreisen beherrscht wurde. Heute ist dagegen das Recht
des Widerstandes, der Gedanke der Umwälzung und damit die Veranlassung, viel¬
leicht auch die Kraft zur Schöpfung gerade auf die sogenannten konservativen
Kreise übergegangen.
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Die „konservative" Staatsidee

Die „konservative" Staatsidee
Fritz Aem von
I.

marins hat in Heft 2/3 der „Grenzboten" (S. 67) die sechs Politi¬
schen Ideologien nebeneinander gestellt, die seiner Meinung nach
gegenwärtig Europa beherrschen. Die Begriffe, um die sich seine
sechs Ideologien gruppieren, sind:

1. der Sinn für Macht schlechthin, „Realpolitik", d. h, das Streben
nach möglichst viel irgendwie verwendbarer Potentieller Energie,
2. die Beurteilung aller politischen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt
der Mehrung der Verbrauchs guter, d. h. Wirtschaftspolitik,
3. der Individualismus, der die Bindung an überindividuelle Einheiten
möglichst einschränken will, d. h. der Liberalismus,
4. der Gedanke der abstrakt ausgleichenden Gerechtigkeit, notwendig ver¬
knüpft mit einer besonders starken Bindung des Individuums an
überindividuelle Einheiten, d. h. der Kommunismus, der heute
auftritt als Religion der Weltrevolution,
5. die Erlösung der Einzelseele und die dazu gehörige Gemeinde, d. h.
die katholische Idee,
6. die Nation als Beziehungspunkt aller politischen Kräfte und Zwecke.
Menenius will alle tatsächlichen Politischen Strömungen unserer Zeit als

.Kombinationen dieser sechs Grundideen auffassen.

Es fällt auf, daß von einer konservativen Staatsidee hier überhaupt nicht
die Rede ist. Der Eindruck, daß es eine solche in der praktischen Politik kaum
mehr gibt, ist heute weit verbreitet. Ein jüngerer Politiker hat aus dieser Auf¬
fassung heraus gelegentlich die Bezeichnung der „Deutschnativnalen Volkspartei"
als „Liberalisierter Nationalpartei" geprägt.

Eine genauere Untersuchung der in unserer Zeit lebenden Ideologien wird
zu einem wesentlich anderen Ergebnis führen. Die Abplattung der politischen
Ideale zu bloßen Schlagworten infolge der Demokratisierung unserer Zeit hat
allerdings zur Folge, daß das nicht zum Massenfang geeignete konservative
Staatsideal sich aus der Arena zurückgezogen hat, in welcher das Ringen der
Parteiideale mehr einem Boxkampf als einer geistigen Auseinandersetzung ähnlich
geworden ist. Wenn wir uns nicht täuschen, so bereitet sich aber gerade in
unserer Zeit die Wiederauferstehung der konservativen Staatsidee zu einem wirk¬
lichen Ideal vor. Die konservativen Elemente finden am heutigen Staat wenig
mehr zu konservieren, um so mehr aber neu zu schaffen. Vielleicht steht nun die
geistige Schöpferkraft der Ideen, in die sich das politische Fühlen der Menschheit
spektralanalytisch auseinanderlegt, oft im umgekehrten Verhältnis zu dem
mechanisierten Machtbesitz ihrer Träger.' Die konservative Staatsidee konnte ein¬
schlummern, solange das deutsche Staatswesen hauptsächlich von konservativen
Grundsätzen und Personenkreisen beherrscht wurde. Heute ist dagegen das Recht
des Widerstandes, der Gedanke der Umwälzung und damit die Veranlassung, viel¬
leicht auch die Kraft zur Schöpfung gerade auf die sogenannten konservativen
Kreise übergegangen.
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[0097] Die „konservative" Staatsidee Die „konservative" Staatsidee Fritz Aem von I. marins hat in Heft 2/3 der „Grenzboten" (S. 67) die sechs Politi¬ schen Ideologien nebeneinander gestellt, die seiner Meinung nach gegenwärtig Europa beherrschen. Die Begriffe, um die sich seine sechs Ideologien gruppieren, sind: 1. der Sinn für Macht schlechthin, „Realpolitik", d. h, das Streben nach möglichst viel irgendwie verwendbarer Potentieller Energie, 2. die Beurteilung aller politischen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt der Mehrung der Verbrauchs guter, d. h. Wirtschaftspolitik, 3. der Individualismus, der die Bindung an überindividuelle Einheiten möglichst einschränken will, d. h. der Liberalismus, 4. der Gedanke der abstrakt ausgleichenden Gerechtigkeit, notwendig ver¬ knüpft mit einer besonders starken Bindung des Individuums an überindividuelle Einheiten, d. h. der Kommunismus, der heute auftritt als Religion der Weltrevolution, 5. die Erlösung der Einzelseele und die dazu gehörige Gemeinde, d. h. die katholische Idee, 6. die Nation als Beziehungspunkt aller politischen Kräfte und Zwecke. Menenius will alle tatsächlichen Politischen Strömungen unserer Zeit als .Kombinationen dieser sechs Grundideen auffassen. Es fällt auf, daß von einer konservativen Staatsidee hier überhaupt nicht die Rede ist. Der Eindruck, daß es eine solche in der praktischen Politik kaum mehr gibt, ist heute weit verbreitet. Ein jüngerer Politiker hat aus dieser Auf¬ fassung heraus gelegentlich die Bezeichnung der „Deutschnativnalen Volkspartei" als „Liberalisierter Nationalpartei" geprägt. Eine genauere Untersuchung der in unserer Zeit lebenden Ideologien wird zu einem wesentlich anderen Ergebnis führen. Die Abplattung der politischen Ideale zu bloßen Schlagworten infolge der Demokratisierung unserer Zeit hat allerdings zur Folge, daß das nicht zum Massenfang geeignete konservative Staatsideal sich aus der Arena zurückgezogen hat, in welcher das Ringen der Parteiideale mehr einem Boxkampf als einer geistigen Auseinandersetzung ähnlich geworden ist. Wenn wir uns nicht täuschen, so bereitet sich aber gerade in unserer Zeit die Wiederauferstehung der konservativen Staatsidee zu einem wirk¬ lichen Ideal vor. Die konservativen Elemente finden am heutigen Staat wenig mehr zu konservieren, um so mehr aber neu zu schaffen. Vielleicht steht nun die geistige Schöpferkraft der Ideen, in die sich das politische Fühlen der Menschheit spektralanalytisch auseinanderlegt, oft im umgekehrten Verhältnis zu dem mechanisierten Machtbesitz ihrer Träger.' Die konservative Staatsidee konnte ein¬ schlummern, solange das deutsche Staatswesen hauptsächlich von konservativen Grundsätzen und Personenkreisen beherrscht wurde. Heute ist dagegen das Recht des Widerstandes, der Gedanke der Umwälzung und damit die Veranlassung, viel¬ leicht auch die Kraft zur Schöpfung gerade auf die sogenannten konservativen Kreise übergegangen. ''' s-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/97>, abgerufen am 04.05.2024.