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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Geschichte gemacht, weil sie ihre alte Volksgeschichte durch Kampf und Entbehrung
in eine bessere Zukunft emporreißen wollten. Der mächtigste Mann der Welt,
derselbe, der über Deutschland den Knockout-Frieden erstritt, ist im Begriff, mit
De Valera und mit Mustafa Kemal Berständignngsfrieden abzuschließen, weil
Armut und Kleinheit verzweifelter Völker sich so stark gemacht hat, ihn, den
Stärksten, zur Verständigung zu zwingen. 5

Der Saldo, den wir Deutsche auf das neue Jahr vortragen, zeigt einen
erheblichen Posten geschichtsbi.'deuten Willens auf der Debetseite.


2.

Wirtschaftlich bilden wir uns ein, daß der deutsche Konsument wieder
besser daran sein wird, wenn der ärgste Druck der unmöglichen Kriegsentschädi-
gung im neuen Jahr von uns genommen würde. Die Erfüllung dieser Hoff¬
nung ist allerdings eine Vorbedingung des Lebens. Tritt sie aber ein, so wird
der Teutsche als Konsument noch immer übel daran sein, wenn nicht der Teutsche
als Produzent seine Leistung heraufsetzt. Wenn letzterer, wie es der Fall ist,
noch immer 20 Prozent weniger erzeugt, als im Frieden, so kann auch der
Konsument nur 29 Prozent weniger verzehren, ganz abgesehen von unseren
sonstigen Schuldverpflichtungen. Das Konsumieren gilt den meisten als der an¬
genehmere Teil des Güterkreislaufs. Und da die Rechte seit der Revolution
vielen wichtiger geworden sind, als die Pflichten, so haben viele ihre Konsumtion
tunlichst gesteigert und ihre Produktion eingeschränkt. Wenn das neue Jahr
nur eine augenblickliche Erleichterung unserer Versailler Fronbnrde bringt und
nicht gleichzeitig eine Steigerung der deutschen Produktion um 20 Prozent, dann
bleibt unsere Decke zu kurz und wird bei allem Hinundherziehcn stets ein Defizit
übrig lasse". Mnu kann aber nicht mehr erzeugen, ohne mehr zu arbeiten.


3.

Machtlos und friedlos, führerlos und geschichtslos verlief dieses Jahr
politisch. Wirtschaftlich endet es mit einem Nekorddefizit. Wenn nun nach
Politik und Wirtschaft noch von Weltanschauung gesprochen werden darf, so ist
die Meinung nicht, in ihr einen Ersatz für Politik und Wirtschaft zu suchen.
Der Einzelne findet seinen Frieden, indem er sich innerlich von den Dingen-
löst und in ein geistiges Reich stellt. Wer aber einem Volk diesen Weg zum
Frieden weist, und es gibt solche Prediger, betrügt es. Vollheit ist eine irdische
Größe und umschließt von allen Einzelnen ihr irdisches Pflichtteil. Es gibt für
ein Volk nur einen Weg zum Frieden das ist Kampf um sein irdisches Recht
und Opfer aller Einzelnen für ihr Volk. Das Gemüt soll nach seinem Weimar
streben, das bürgerliche Gewissen aber nach seinem Potsdam.

Wir sind freilich der Meinung, daß die deutsche Geschichte nach der Eigen¬
art des Deutschen erst dann wieder eine Kurve nach oben nehmen kann, wenn
wir zunächst nach innen wachsen. Nebeneinander bildeten sich Potsdam und
Weimar und flössen zusammen im schönsten Tag der Deutschen, den" Be¬
freiungskrieg.

Wir haben keinen Anlaß, eine starke Vertiefung der Persönlichkeit oder
ein Zusammenwachsen unserer zerfahrenen Weltanschauung in der Gegenwart


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Geschichte gemacht, weil sie ihre alte Volksgeschichte durch Kampf und Entbehrung
in eine bessere Zukunft emporreißen wollten. Der mächtigste Mann der Welt,
derselbe, der über Deutschland den Knockout-Frieden erstritt, ist im Begriff, mit
De Valera und mit Mustafa Kemal Berständignngsfrieden abzuschließen, weil
Armut und Kleinheit verzweifelter Völker sich so stark gemacht hat, ihn, den
Stärksten, zur Verständigung zu zwingen. 5

Der Saldo, den wir Deutsche auf das neue Jahr vortragen, zeigt einen
erheblichen Posten geschichtsbi.'deuten Willens auf der Debetseite.


2.

Wirtschaftlich bilden wir uns ein, daß der deutsche Konsument wieder
besser daran sein wird, wenn der ärgste Druck der unmöglichen Kriegsentschädi-
gung im neuen Jahr von uns genommen würde. Die Erfüllung dieser Hoff¬
nung ist allerdings eine Vorbedingung des Lebens. Tritt sie aber ein, so wird
der Teutsche als Konsument noch immer übel daran sein, wenn nicht der Teutsche
als Produzent seine Leistung heraufsetzt. Wenn letzterer, wie es der Fall ist,
noch immer 20 Prozent weniger erzeugt, als im Frieden, so kann auch der
Konsument nur 29 Prozent weniger verzehren, ganz abgesehen von unseren
sonstigen Schuldverpflichtungen. Das Konsumieren gilt den meisten als der an¬
genehmere Teil des Güterkreislaufs. Und da die Rechte seit der Revolution
vielen wichtiger geworden sind, als die Pflichten, so haben viele ihre Konsumtion
tunlichst gesteigert und ihre Produktion eingeschränkt. Wenn das neue Jahr
nur eine augenblickliche Erleichterung unserer Versailler Fronbnrde bringt und
nicht gleichzeitig eine Steigerung der deutschen Produktion um 20 Prozent, dann
bleibt unsere Decke zu kurz und wird bei allem Hinundherziehcn stets ein Defizit
übrig lasse». Mnu kann aber nicht mehr erzeugen, ohne mehr zu arbeiten.


3.

Machtlos und friedlos, führerlos und geschichtslos verlief dieses Jahr
politisch. Wirtschaftlich endet es mit einem Nekorddefizit. Wenn nun nach
Politik und Wirtschaft noch von Weltanschauung gesprochen werden darf, so ist
die Meinung nicht, in ihr einen Ersatz für Politik und Wirtschaft zu suchen.
Der Einzelne findet seinen Frieden, indem er sich innerlich von den Dingen-
löst und in ein geistiges Reich stellt. Wer aber einem Volk diesen Weg zum
Frieden weist, und es gibt solche Prediger, betrügt es. Vollheit ist eine irdische
Größe und umschließt von allen Einzelnen ihr irdisches Pflichtteil. Es gibt für
ein Volk nur einen Weg zum Frieden das ist Kampf um sein irdisches Recht
und Opfer aller Einzelnen für ihr Volk. Das Gemüt soll nach seinem Weimar
streben, das bürgerliche Gewissen aber nach seinem Potsdam.

Wir sind freilich der Meinung, daß die deutsche Geschichte nach der Eigen¬
art des Deutschen erst dann wieder eine Kurve nach oben nehmen kann, wenn
wir zunächst nach innen wachsen. Nebeneinander bildeten sich Potsdam und
Weimar und flössen zusammen im schönsten Tag der Deutschen, den» Be¬
freiungskrieg.

Wir haben keinen Anlaß, eine starke Vertiefung der Persönlichkeit oder
ein Zusammenwachsen unserer zerfahrenen Weltanschauung in der Gegenwart


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[0406] Silvester <92< Geschichte gemacht, weil sie ihre alte Volksgeschichte durch Kampf und Entbehrung in eine bessere Zukunft emporreißen wollten. Der mächtigste Mann der Welt, derselbe, der über Deutschland den Knockout-Frieden erstritt, ist im Begriff, mit De Valera und mit Mustafa Kemal Berständignngsfrieden abzuschließen, weil Armut und Kleinheit verzweifelter Völker sich so stark gemacht hat, ihn, den Stärksten, zur Verständigung zu zwingen. 5 Der Saldo, den wir Deutsche auf das neue Jahr vortragen, zeigt einen erheblichen Posten geschichtsbi.'deuten Willens auf der Debetseite. 2. Wirtschaftlich bilden wir uns ein, daß der deutsche Konsument wieder besser daran sein wird, wenn der ärgste Druck der unmöglichen Kriegsentschädi- gung im neuen Jahr von uns genommen würde. Die Erfüllung dieser Hoff¬ nung ist allerdings eine Vorbedingung des Lebens. Tritt sie aber ein, so wird der Teutsche als Konsument noch immer übel daran sein, wenn nicht der Teutsche als Produzent seine Leistung heraufsetzt. Wenn letzterer, wie es der Fall ist, noch immer 20 Prozent weniger erzeugt, als im Frieden, so kann auch der Konsument nur 29 Prozent weniger verzehren, ganz abgesehen von unseren sonstigen Schuldverpflichtungen. Das Konsumieren gilt den meisten als der an¬ genehmere Teil des Güterkreislaufs. Und da die Rechte seit der Revolution vielen wichtiger geworden sind, als die Pflichten, so haben viele ihre Konsumtion tunlichst gesteigert und ihre Produktion eingeschränkt. Wenn das neue Jahr nur eine augenblickliche Erleichterung unserer Versailler Fronbnrde bringt und nicht gleichzeitig eine Steigerung der deutschen Produktion um 20 Prozent, dann bleibt unsere Decke zu kurz und wird bei allem Hinundherziehcn stets ein Defizit übrig lasse». Mnu kann aber nicht mehr erzeugen, ohne mehr zu arbeiten. 3. Machtlos und friedlos, führerlos und geschichtslos verlief dieses Jahr politisch. Wirtschaftlich endet es mit einem Nekorddefizit. Wenn nun nach Politik und Wirtschaft noch von Weltanschauung gesprochen werden darf, so ist die Meinung nicht, in ihr einen Ersatz für Politik und Wirtschaft zu suchen. Der Einzelne findet seinen Frieden, indem er sich innerlich von den Dingen- löst und in ein geistiges Reich stellt. Wer aber einem Volk diesen Weg zum Frieden weist, und es gibt solche Prediger, betrügt es. Vollheit ist eine irdische Größe und umschließt von allen Einzelnen ihr irdisches Pflichtteil. Es gibt für ein Volk nur einen Weg zum Frieden das ist Kampf um sein irdisches Recht und Opfer aller Einzelnen für ihr Volk. Das Gemüt soll nach seinem Weimar streben, das bürgerliche Gewissen aber nach seinem Potsdam. Wir sind freilich der Meinung, daß die deutsche Geschichte nach der Eigen¬ art des Deutschen erst dann wieder eine Kurve nach oben nehmen kann, wenn wir zunächst nach innen wachsen. Nebeneinander bildeten sich Potsdam und Weimar und flössen zusammen im schönsten Tag der Deutschen, den» Be¬ freiungskrieg. Wir haben keinen Anlaß, eine starke Vertiefung der Persönlichkeit oder ein Zusammenwachsen unserer zerfahrenen Weltanschauung in der Gegenwart

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/406>, abgerufen am 29.04.2024.