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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Allgemeines über die Aetiologie
diese bestimmten Umstände (z. B. die erbliche Disposition) ganz un-
gewöhnlich häufig
mit dem Irrewerden zusammentreffen oder ihm
vorangehen. Bei andern dieser sog. Ursachen ist ihre Wirkungsweise,
die Art, wie in Folge ihrer die Krankheit zu Stande kommt, fasslicher,
und es ist eben gegenüber der Aetiologie im engern Sinne, welche
nur empirisch die bekannten ursächlichen Momente aufzuzählen weiss,
das Geschäft der Pathogenie, den physiologischen Zusammenhang
zwischen Ursache und Wirkung deutlich zu machen, das einzelne
mechanische Geschehen darzulegen, mittelst dessen durch ein ge-
gebenes Moment, z. B. ein Uebermass deprimirender Affecte, eine
Herzkrankeit etc., am Ende das Irresein zu Wege kommt.

§. 63.

Für die practisch-ärztliche Aufgabe der Psychiatrie ist die Aetio-
logie und namentlich die Pathogenie von ungemeiner Wichtigkeit.
Denn wenn auch der alte Satz: sublata causa tollitur effectus, hier
wie in der übrigen Medicin, bei vollständig ausgebildeter und ein-
gewurzelter Krankheit keine Bestätigung mehr findet, und wenn
gleich die Beseitigung mancher entfernteren Ursachen nicht in der
Macht des Arztes steht, so sieht man doch, wie namentlich
das beginnende Irresein schon durch Entfernung einzelner unter
den gewöhnlich vielfältigen, zusammenwirkenden Ursachen mit Erfolg
bekämpft werden kann, und es bieten namentlich alle die mannig-
faltigen Durchgangspunkte der Erkrankung, alle die organischen Stö-
rungen, welche die Pathogenie als Mittelglieder zwischen äusseren
Ursachen und zwischen der ausgebildeten Gehirnkrankheit als deren
letztem Resultate nachweist, die erfolgreichsten Angriffspunkte für die
Therapie dar. Ebenso aber kann das Irresein auch theoretisch ohne
Kenntniss seiner Ursachen und seines Zustandekommens in den ein-
zelnen Fällen gar nicht begriffen werden, und so sind die ätiologi-
schen Fragen in den Vordergrund der ganzen Psychiatrie gestellt.

Im concreten Falle entnehmen wir die ätiologischen Momente
aus der Anamnese, und diese ist überall mit grösster Sorgfalt und
genauestem Eingehen ins Einzelne zu eruiren. Sie hat sich hier
zuerst vor den groben Fehlern zu hüten, die Hypothesen der bis-
herigen Umgebung der Kranken, seiner Angehörigen etc. über die
Entstehung der Krankheit ohne genaue Prüfung anzunehmen, oder --
was so häufig geschieht -- theils schon entschiedene Symptome des
beginnenden Irreseins, theils nur die letzten zufälligen Impulse seines
deutlichen Ausbruchs für die wahren Ursachen zu halten. Sie darf

Allgemeines über die Aetiologie
diese bestimmten Umstände (z. B. die erbliche Disposition) ganz un-
gewöhnlich häufig
mit dem Irrewerden zusammentreffen oder ihm
vorangehen. Bei andern dieser sog. Ursachen ist ihre Wirkungsweise,
die Art, wie in Folge ihrer die Krankheit zu Stande kommt, fasslicher,
und es ist eben gegenüber der Aetiologie im engern Sinne, welche
nur empirisch die bekannten ursächlichen Momente aufzuzählen weiss,
das Geschäft der Pathogenie, den physiologischen Zusammenhang
zwischen Ursache und Wirkung deutlich zu machen, das einzelne
mechanische Geschehen darzulegen, mittelst dessen durch ein ge-
gebenes Moment, z. B. ein Uebermass deprimirender Affecte, eine
Herzkrankeit etc., am Ende das Irresein zu Wege kommt.

§. 63.

Für die practisch-ärztliche Aufgabe der Psychiatrie ist die Aetio-
logie und namentlich die Pathogenie von ungemeiner Wichtigkeit.
Denn wenn auch der alte Satz: sublata causa tollitur effectus, hier
wie in der übrigen Medicin, bei vollständig ausgebildeter und ein-
gewurzelter Krankheit keine Bestätigung mehr findet, und wenn
gleich die Beseitigung mancher entfernteren Ursachen nicht in der
Macht des Arztes steht, so sieht man doch, wie namentlich
das beginnende Irresein schon durch Entfernung einzelner unter
den gewöhnlich vielfältigen, zusammenwirkenden Ursachen mit Erfolg
bekämpft werden kann, und es bieten namentlich alle die mannig-
faltigen Durchgangspunkte der Erkrankung, alle die organischen Stö-
rungen, welche die Pathogenie als Mittelglieder zwischen äusseren
Ursachen und zwischen der ausgebildeten Gehirnkrankheit als deren
letztem Resultate nachweist, die erfolgreichsten Angriffspunkte für die
Therapie dar. Ebenso aber kann das Irresein auch theoretisch ohne
Kenntniss seiner Ursachen und seines Zustandekommens in den ein-
zelnen Fällen gar nicht begriffen werden, und so sind die ätiologi-
schen Fragen in den Vordergrund der ganzen Psychiatrie gestellt.

Im concreten Falle entnehmen wir die ätiologischen Momente
aus der Anamnese, und diese ist überall mit grösster Sorgfalt und
genauestem Eingehen ins Einzelne zu eruiren. Sie hat sich hier
zuerst vor den groben Fehlern zu hüten, die Hypothesen der bis-
herigen Umgebung der Kranken, seiner Angehörigen etc. über die
Entstehung der Krankheit ohne genaue Prüfung anzunehmen, oder —
was so häufig geschieht — theils schon entschiedene Symptome des
beginnenden Irreseins, theils nur die letzten zufälligen Impulse seines
deutlichen Ausbruchs für die wahren Ursachen zu halten. Sie darf

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[96/0110] Allgemeines über die Aetiologie diese bestimmten Umstände (z. B. die erbliche Disposition) ganz un- gewöhnlich häufig mit dem Irrewerden zusammentreffen oder ihm vorangehen. Bei andern dieser sog. Ursachen ist ihre Wirkungsweise, die Art, wie in Folge ihrer die Krankheit zu Stande kommt, fasslicher, und es ist eben gegenüber der Aetiologie im engern Sinne, welche nur empirisch die bekannten ursächlichen Momente aufzuzählen weiss, das Geschäft der Pathogenie, den physiologischen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung deutlich zu machen, das einzelne mechanische Geschehen darzulegen, mittelst dessen durch ein ge- gebenes Moment, z. B. ein Uebermass deprimirender Affecte, eine Herzkrankeit etc., am Ende das Irresein zu Wege kommt. §. 63. Für die practisch-ärztliche Aufgabe der Psychiatrie ist die Aetio- logie und namentlich die Pathogenie von ungemeiner Wichtigkeit. Denn wenn auch der alte Satz: sublata causa tollitur effectus, hier wie in der übrigen Medicin, bei vollständig ausgebildeter und ein- gewurzelter Krankheit keine Bestätigung mehr findet, und wenn gleich die Beseitigung mancher entfernteren Ursachen nicht in der Macht des Arztes steht, so sieht man doch, wie namentlich das beginnende Irresein schon durch Entfernung einzelner unter den gewöhnlich vielfältigen, zusammenwirkenden Ursachen mit Erfolg bekämpft werden kann, und es bieten namentlich alle die mannig- faltigen Durchgangspunkte der Erkrankung, alle die organischen Stö- rungen, welche die Pathogenie als Mittelglieder zwischen äusseren Ursachen und zwischen der ausgebildeten Gehirnkrankheit als deren letztem Resultate nachweist, die erfolgreichsten Angriffspunkte für die Therapie dar. Ebenso aber kann das Irresein auch theoretisch ohne Kenntniss seiner Ursachen und seines Zustandekommens in den ein- zelnen Fällen gar nicht begriffen werden, und so sind die ätiologi- schen Fragen in den Vordergrund der ganzen Psychiatrie gestellt. Im concreten Falle entnehmen wir die ätiologischen Momente aus der Anamnese, und diese ist überall mit grösster Sorgfalt und genauestem Eingehen ins Einzelne zu eruiren. Sie hat sich hier zuerst vor den groben Fehlern zu hüten, die Hypothesen der bis- herigen Umgebung der Kranken, seiner Angehörigen etc. über die Entstehung der Krankheit ohne genaue Prüfung anzunehmen, oder — was so häufig geschieht — theils schon entschiedene Symptome des beginnenden Irreseins, theils nur die letzten zufälligen Impulse seines deutlichen Ausbruchs für die wahren Ursachen zu halten. Sie darf

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/110>, abgerufen am 28.03.2024.