Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Einfluss des Geschlechts
wohl hauptsächlich aus der vermehrten Aufmerksamkeit auf diese Classe von
Krankheiten erklären. Mit der Zunahme der Irrenanstalten und ihrer besseren
Einrichtung wächst der Zudrang zu ihnen, indem alle Welt für Fälle, die sonst
für incurabel galten, nun Hülfe sucht, und es entsteht eine scheinbare Vermehrung
der Krankheiten, wie solche die neuere Medicin auch bei den Herzkrankheiten
und bei der Tuberculose erlebte.

Ob Manufactur- oder Ackerbaubeschäftigung, Stadt- oder Landleben erheb-
lichen Einfluss auf die Häufigkeit des Irreseins habe, ob den handeltreibenden
Nationen als solchen hier ein trauriger Vorzug zukomme, ob Katholicismus oder
Protestantismus das Irresein mehr begünstige und manche dergl. Fragen müssen
zur Zeit aus Mangel an Material und wegen der untrennbaren Complication der ein-
wirkenden Umstände unbeantwortet bleiben; es führt zu nichts, mit Gründen für oder
wider der Statistik vorauseilen und unentwirrbare Fragen einseitig lösen zu wollen.

§. 69.

2) Geschlecht. Die Untersuchung, ob eines der beiden Ge-
schlechter vor dem andern zu Irresein disponirt sei, stösst gleichfalls
auf statistische Mängel, welche eine genügende Lösung unmöglich
machen. Auch hier ist die Literatur reich an Notizen und Zahlen,
denen nur die Bürgschaften für ihre Richtigkeit abgehen, und auch
hier sind alle Berechnungen, die auf der blossen Statistik der Irren-
anstalten basiren, unzureichend und trügerisch. Es liegt in der
Natur der Sache, dass weibliche Kranke, namentlich vor der neueren
Vervollkommnung des Anstaltswesens, die Minderzahl der Bewohner
der Irrenhäuser ausmachten, weil die Familien mehr Bedenken tragen,
sie aus ihrem Kreise wegzugeben, und weil sie leichter zu bändigen
und in Privatverhältnissen zu verpflegen sind. In der That haben die
Zusammenstellungen von Fuchs *) nach den Zählungen in sehr vielen
Anstalten ein Verhältniss der Männer zu den Weibern = 100 : 75
ergeben; und nur Frankreich und die Niederlande machten mit einer
grösseren Anzahl weiblicher als männlicher Kranken eine Ausnahme.
Auch in den neuesten Zeiten scheinen die deutschen Anstalten um
ein Ziemliches mehr Männer als Weiber aufzunehmen; es haben z. B.
die Anstalten zur Siegburg **) und Winnenthal, ***) erstere in 18
Jahren 900 Männer, 566 Weiber, letztere in 10 Jahren 396 Männer,
251 Weiber verpflegt, während z. B. das französische Etablissement
St. Yon innerhalb der 8 Jahre von 1835--43, genau die gleiche Zahl
von beiden Geschlechtern aufnahm. +)

*) Im Jahr 1833 angestellt. l. c. p. 96.
**) Jakobi, die Hauptformen der Scelenstörungen. I. 1844. p. 573.
***) Zeller, Bericht über d. Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Journal
für Psychiatrie von Damerow und Roller. 1844. I. t. p. 73.
+) Parchappe, annal. med. psych. 1843. II. p. 367.

Einfluss des Geschlechts
wohl hauptsächlich aus der vermehrten Aufmerksamkeit auf diese Classe von
Krankheiten erklären. Mit der Zunahme der Irrenanstalten und ihrer besseren
Einrichtung wächst der Zudrang zu ihnen, indem alle Welt für Fälle, die sonst
für incurabel galten, nun Hülfe sucht, und es entsteht eine scheinbare Vermehrung
der Krankheiten, wie solche die neuere Medicin auch bei den Herzkrankheiten
und bei der Tuberculose erlebte.

Ob Manufactur- oder Ackerbaubeschäftigung, Stadt- oder Landleben erheb-
lichen Einfluss auf die Häufigkeit des Irreseins habe, ob den handeltreibenden
Nationen als solchen hier ein trauriger Vorzug zukomme, ob Katholicismus oder
Protestantismus das Irresein mehr begünstige und manche dergl. Fragen müssen
zur Zeit aus Mangel an Material und wegen der untrennbaren Complication der ein-
wirkenden Umstände unbeantwortet bleiben; es führt zu nichts, mit Gründen für oder
wider der Statistik vorauseilen und unentwirrbare Fragen einseitig lösen zu wollen.

§. 69.

2) Geschlecht. Die Untersuchung, ob eines der beiden Ge-
schlechter vor dem andern zu Irresein disponirt sei, stösst gleichfalls
auf statistische Mängel, welche eine genügende Lösung unmöglich
machen. Auch hier ist die Literatur reich an Notizen und Zahlen,
denen nur die Bürgschaften für ihre Richtigkeit abgehen, und auch
hier sind alle Berechnungen, die auf der blossen Statistik der Irren-
anstalten basiren, unzureichend und trügerisch. Es liegt in der
Natur der Sache, dass weibliche Kranke, namentlich vor der neueren
Vervollkommnung des Anstaltswesens, die Minderzahl der Bewohner
der Irrenhäuser ausmachten, weil die Familien mehr Bedenken tragen,
sie aus ihrem Kreise wegzugeben, und weil sie leichter zu bändigen
und in Privatverhältnissen zu verpflegen sind. In der That haben die
Zusammenstellungen von Fuchs *) nach den Zählungen in sehr vielen
Anstalten ein Verhältniss der Männer zu den Weibern = 100 : 75
ergeben; und nur Frankreich und die Niederlande machten mit einer
grösseren Anzahl weiblicher als männlicher Kranken eine Ausnahme.
Auch in den neuesten Zeiten scheinen die deutschen Anstalten um
ein Ziemliches mehr Männer als Weiber aufzunehmen; es haben z. B.
die Anstalten zur Siegburg **) und Winnenthal, ***) erstere in 18
Jahren 900 Männer, 566 Weiber, letztere in 10 Jahren 396 Männer,
251 Weiber verpflegt, während z. B. das französische Etablissement
St. Yon innerhalb der 8 Jahre von 1835—43, genau die gleiche Zahl
von beiden Geschlechtern aufnahm. †)

*) Im Jahr 1833 angestellt. l. c. p. 96.
**) Jakobi, die Hauptformen der Scelenstörungen. I. 1844. p. 573.
***) Zeller, Bericht über d. Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Journal
für Psychiatrie von Damerow und Roller. 1844. I. t. p. 73.
†) Parchappe, annal. med. psych. 1843. II. p. 367.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0120" n="106"/><fw place="top" type="header">Einfluss des Geschlechts</fw><lb/>
wohl hauptsächlich aus der vermehrten Aufmerksamkeit auf diese Classe von<lb/>
Krankheiten erklären. Mit der Zunahme der Irrenanstalten und ihrer besseren<lb/>
Einrichtung wächst der Zudrang zu ihnen, indem alle Welt für Fälle, die sonst<lb/>
für incurabel galten, nun Hülfe sucht, und es entsteht eine scheinbare Vermehrung<lb/>
der Krankheiten, wie solche die neuere Medicin auch bei den Herzkrankheiten<lb/>
und bei der Tuberculose erlebte.</p><lb/>
              <p>Ob Manufactur- oder Ackerbaubeschäftigung, Stadt- oder Landleben erheb-<lb/>
lichen Einfluss auf die Häufigkeit des Irreseins habe, ob den handeltreibenden<lb/>
Nationen als solchen hier ein trauriger Vorzug zukomme, ob Katholicismus oder<lb/>
Protestantismus das Irresein mehr begünstige und manche dergl. Fragen müssen<lb/>
zur Zeit aus Mangel an Material und wegen der untrennbaren Complication der ein-<lb/>
wirkenden Umstände unbeantwortet bleiben; es führt zu nichts, mit Gründen für oder<lb/>
wider der Statistik vorauseilen und unentwirrbare Fragen einseitig lösen zu wollen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 69.</head><lb/>
              <p>2) <hi rendition="#g">Geschlecht</hi>. Die Untersuchung, ob eines der beiden Ge-<lb/>
schlechter vor dem andern zu Irresein disponirt sei, stösst gleichfalls<lb/>
auf statistische Mängel, welche eine genügende Lösung unmöglich<lb/>
machen. Auch hier ist die Literatur reich an Notizen und Zahlen,<lb/>
denen nur die Bürgschaften für ihre Richtigkeit abgehen, und auch<lb/>
hier sind alle Berechnungen, die auf der blossen Statistik der Irren-<lb/><hi rendition="#g">anstalten</hi> basiren, unzureichend und trügerisch. Es liegt in der<lb/>
Natur der Sache, dass weibliche Kranke, namentlich vor der neueren<lb/>
Vervollkommnung des Anstaltswesens, die Minderzahl der Bewohner<lb/>
der Irrenhäuser ausmachten, weil die Familien mehr Bedenken tragen,<lb/>
sie aus ihrem Kreise wegzugeben, und weil sie leichter zu bändigen<lb/>
und in Privatverhältnissen zu verpflegen sind. In der That haben die<lb/>
Zusammenstellungen von <hi rendition="#g">Fuchs</hi> <note place="foot" n="*)">Im Jahr 1833 angestellt. l. c. p. 96.</note> nach den Zählungen in sehr vielen<lb/>
Anstalten ein Verhältniss der Männer zu den Weibern = 100 : 75<lb/>
ergeben; und nur Frankreich und die Niederlande machten mit einer<lb/>
grösseren Anzahl weiblicher als männlicher Kranken eine Ausnahme.<lb/>
Auch in den neuesten Zeiten scheinen die deutschen Anstalten um<lb/>
ein Ziemliches mehr Männer als Weiber aufzunehmen; es haben z. B.<lb/>
die Anstalten zur Siegburg <note place="foot" n="**)">Jakobi, die Hauptformen der Scelenstörungen. I. 1844. p. 573.</note> und Winnenthal, <note place="foot" n="***)">Zeller, Bericht über d. Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Journal<lb/>
für Psychiatrie von Damerow und Roller. 1844. I. t. p. 73.</note> erstere in 18<lb/>
Jahren 900 Männer, 566 Weiber, letztere in 10 Jahren 396 Männer,<lb/>
251 Weiber verpflegt, während z. B. das französische Etablissement<lb/>
St. Yon innerhalb der 8 Jahre von 1835&#x2014;43, genau die gleiche Zahl<lb/>
von beiden Geschlechtern aufnahm. <note place="foot" n="&#x2020;)">Parchappe, annal. med. psych. 1843. II. p. 367.</note></p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0120] Einfluss des Geschlechts wohl hauptsächlich aus der vermehrten Aufmerksamkeit auf diese Classe von Krankheiten erklären. Mit der Zunahme der Irrenanstalten und ihrer besseren Einrichtung wächst der Zudrang zu ihnen, indem alle Welt für Fälle, die sonst für incurabel galten, nun Hülfe sucht, und es entsteht eine scheinbare Vermehrung der Krankheiten, wie solche die neuere Medicin auch bei den Herzkrankheiten und bei der Tuberculose erlebte. Ob Manufactur- oder Ackerbaubeschäftigung, Stadt- oder Landleben erheb- lichen Einfluss auf die Häufigkeit des Irreseins habe, ob den handeltreibenden Nationen als solchen hier ein trauriger Vorzug zukomme, ob Katholicismus oder Protestantismus das Irresein mehr begünstige und manche dergl. Fragen müssen zur Zeit aus Mangel an Material und wegen der untrennbaren Complication der ein- wirkenden Umstände unbeantwortet bleiben; es führt zu nichts, mit Gründen für oder wider der Statistik vorauseilen und unentwirrbare Fragen einseitig lösen zu wollen. §. 69. 2) Geschlecht. Die Untersuchung, ob eines der beiden Ge- schlechter vor dem andern zu Irresein disponirt sei, stösst gleichfalls auf statistische Mängel, welche eine genügende Lösung unmöglich machen. Auch hier ist die Literatur reich an Notizen und Zahlen, denen nur die Bürgschaften für ihre Richtigkeit abgehen, und auch hier sind alle Berechnungen, die auf der blossen Statistik der Irren- anstalten basiren, unzureichend und trügerisch. Es liegt in der Natur der Sache, dass weibliche Kranke, namentlich vor der neueren Vervollkommnung des Anstaltswesens, die Minderzahl der Bewohner der Irrenhäuser ausmachten, weil die Familien mehr Bedenken tragen, sie aus ihrem Kreise wegzugeben, und weil sie leichter zu bändigen und in Privatverhältnissen zu verpflegen sind. In der That haben die Zusammenstellungen von Fuchs *) nach den Zählungen in sehr vielen Anstalten ein Verhältniss der Männer zu den Weibern = 100 : 75 ergeben; und nur Frankreich und die Niederlande machten mit einer grösseren Anzahl weiblicher als männlicher Kranken eine Ausnahme. Auch in den neuesten Zeiten scheinen die deutschen Anstalten um ein Ziemliches mehr Männer als Weiber aufzunehmen; es haben z. B. die Anstalten zur Siegburg **) und Winnenthal, ***) erstere in 18 Jahren 900 Männer, 566 Weiber, letztere in 10 Jahren 396 Männer, 251 Weiber verpflegt, während z. B. das französische Etablissement St. Yon innerhalb der 8 Jahre von 1835—43, genau die gleiche Zahl von beiden Geschlechtern aufnahm. †) *) Im Jahr 1833 angestellt. l. c. p. 96. **) Jakobi, die Hauptformen der Scelenstörungen. I. 1844. p. 573. ***) Zeller, Bericht über d. Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Journal für Psychiatrie von Damerow und Roller. 1844. I. t. p. 73. †) Parchappe, annal. med. psych. 1843. II. p. 367.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/120
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/120>, abgerufen am 25.04.2024.